Donnerstag, 26. Februar 2015

Mehr denn ganz verheeret! – „Die Schrecken des Krieges“ von Peter Paul Rubens


Peter Paul Rubens: Die Schrecken des Krieges (1638); Florenz, Palazzo Pitti (für die Großansicht einfach anklicken)

Peter Paul Rubens in einem Brief an Justus Sustermans (12. März 1638) über sein Gemälde „Die Schrecken des Krieges“ (Florenz, Palazzo Pitti):

„Was den Gegenstand meines Bildes angeht, so ist er sehr klar, sodass Sie mit dem Wenigen, was ich Ihnen neulich schon mitteilte, sowie mit der Hilfe Ihres geübten Auges schon mehr begriffen haben werden, als es durch meine Erläuterungen geschehen kann. Dennoch will ich Ihrem Wunsche entsprechen und das Bild in wenigen Worten beschreiben. Die Hauptfigur ist Mars, welcher den geöffneten Tempel des Janus – der nach römischer Sitte in Friedenszeiten geschlossen blieb – verlassen hat und mit dem Schilde und dem bluttriefenden Schwerte, den Völkern ein großes Unheil androhend, einherschreitet. Er kümmert sich wenig um Venus, seine Gebieterin, die, von ihren Amoretten und Liebesgöttern begleitet, sich abmüht, ihn mit Liebkosungen und Umarmungen zurückzuhalten.
Auf der anderen Bildseite wird Mars vorwärtsgezogen von der Furie Alekto, die eine Fackel in der Hand hält. Daneben Ungeheuer, welche Pest und Hunger, die untrennbaren Begleiter des Krieges, bedeuten. Auf dem Boden liegt rücklings hingestreckt ein Weib mit einer zerbrochenen Laute, welche die mit der Zwietracht unvereinbare Harmonie bezeichnet, ebenso auch eine Mutter mit ihrem Kind im Arm, welche anzeigt, daß die Fruchtbarkeit, die Zeugung und die elterliche Liebe durch den Krieg, der alles zerstört und vernichtet, verkehrt werden. Ferner sieht man einen Baumeister auf den Rücken gestürzt, mit seinen Instrumenten in der Hand, um auszudrücken, dass dasjenige, was in Friedenszeiten zu Nutzen und Zierde der Städte erbaut ist, durch die Gewalt der Waffen in Ruinen stürzt und zugrunde geht.
Ich glaube, wenn ich mich recht entsinne, dass Sie am Boden unter den Füßen des Mars noch ein Buch finden sowie eine Zeichnung auf Papier, um anzudeuten, dass Mars die Wissenschaft und alles übrige Schöne mit Füßen tritt. Es muß auch noch ein Bündel von Pfeilen da sein, deren Band, das sie früher zusammenhielt, aufgelöst ist, während sie vereint als das Sinnbild der Eintracht angesehen werden, so wie der Schlangenstab und der Olivenzweig als Symbole des Friedens, die danebenliegend von mir angebracht sind. Jene schmerzdunkle Frau aber, schwarz gekleidet und mit zerrissenem Schleier und all ihrer Edelsteine und ihres Schmuckes beraubt, ist das unglückliche Europa, welches schon so viele Jahre lang Raub, Schmach und Elend erduldet, die für jedweden so tief spürbar sind, dass es nicht nötig ist, sie näher anzugeben. Ihr Symbol ist der Globus, der von einem kleinen Engel oder Genius getragen wird, mit dem Kreuz darüber, das die christliche Welt bedeutet.“

Literaturhinweis
Heinen, Ulrich: Peter Paul Rubens’ Florentiner Kriegsbild und die Macht des Malers. In: Wilhelm Hofmann/Hans-Otto Mühleisen, Kunst und Macht. Politik und Herrschaft im Medium der bildenden Kunst. LIT Verlag, Münster 2005, S. 165-203.

Sonntag, 22. Februar 2015

Eine Göttin badet – die „Kauernde Aphrodite“ des Doidalsas


Kauernde Aphrodite (röm. Marmorkopie); Rom, Palazzo Massimo
alle Terme (für die Großansicht einfach anklicken)
In seiner Naturalis historiae berichtet Plinius d.Ä. (23–79 n.Chr.), dass König Nikomedes I. von Bythnien (gest. um 250 v.Chr.) vergeblich versucht habe, den Knidiern die berühmte Statue der nackten Aphrodite abzukaufen, ein Meisterwerk des antiken Bildhauers Praxiteles. Nikomedes I. beauftragte daraufhin einen einheimischen Künstler namens Doidalsas, einen Ersatz für die Knidische Aphrodite zu schaffen (siehe meinen Post „Aphrodite – knidisch und kapitolinisch“) – das Ergebnis war die Hockende oder auch Kauernde Aphrodite, die in zahlreichen Kopien und Abwandlungen überliefert ist. Keine von ihnen ist vollständig erhalten. Doch lässt sich die Statue durch den Vergleich der erhaltenen Skulpturen in etwa rekonstruieren. Die beste Replik stammt aus der Villa Hadriana und befindet sich im Palazzo Massimo alle Terme in Rom (allerdings fehlen ihr die Arme und der obere Teil des Kopfes). Die Basen und Stützen sind bei allen Wiederholungen unterschiedlich gestaltet; deswegen ist es wahrscheinlich, dass die Marmorrepliken ein Original aus Bronze kopierten, das keiner Stütze bedurfte. Die Kopisten waren gezwungen, zwischen Plinthe und der frei ragenden linken Gesäßpartie eine zusätzliche Verstrebung einzufügen, denn die beiden Füße allein würden die Last des Marmorkörpers nicht tragen.
Praxiteles: Aphrodite von Knidos, röm. Marmorkopie;
Rom, Vatikanische Museen
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Doidalsas löst seine Aufgabe auf originelle Weise: Das große Vorbild scheint, wie im Mythos von Pygmalion, zum Leben erweckt. Die junge Frau ist in die Hocke gegangen, damit Badewasser über sie ausgegossen werden kann. Sie sitzt dabei mit dem Gesäß auf der Ferse des nach hinten und auf die Zehen gestellten rechten Fußes, sodass die Rückseiten von Ober- und Unterschenkel fest aufeinander liegen. Der linke Fuß ist mit der Sohle aufgesetzt und das Bein mit erhobenem Knie angewinkelt. Auch der linke Ober- und Unterschenkel sind in der Kniekehle aneinander gepresst, die linke Pobacke bleibt aber frei. Es ist eine Haltung, die man tatsächlich, schon aus Gründen eines sparsamen Wasserverbrauchs, beim Baden einzunehmen pflegte. Um ihr Gewicht auszutarieren, beugt Aphrodite den Oberkörper nach vorn und wendet dabei den Kopf zur Seite bzw. nach hinten – und zwar zu einer, wie Bernard Andreae meint, nicht dargestellten Dienerin, die ihr Badegefäß über Haare und Rücken der Hockenden geleert hat.
Füllige Formen, auch im unvollständigen Zustand ansehnlich
Der rechte Arm Aphrodites, so Andreae, war angewinkelt, die rechte Hand wurde nach hinten zum Haar hochgeführt. Möglicherweise ging auch der linke Arm nach oben, um mit beiden Händen das Wasser aus den vollen Haaren zu wringen. Christian Kunze dagegen geht davon aus, dass die Figur ihren rechten Arm abwehrend quer vor den Körper hält, um ihre Brüste vor dem Blick eines Zuschauers zu schützen. Der linke Arm sei entsprechend nach unten gesenkt gewesen und mit rechtwinklig gebeugtem Ellenbogen am linken Oberschenkel vorbei nach vorne zum Schoß geführt worden, um die Scham zu bedecken. „Gerade die Tatsache, daß ihr dieses Sich-Verbergen nicht in vollem Umfang gelingt – die abwehrende Bewegung des rechten Oberarms etwa bewirkt entgegen der eigentlichen Absicht, daß die rechte, zur Achsel hin abgequetschte Brust sich um so prominenter zum Betrachter hin hervorwölbt –, betont den spontanen, instinktiven Charakter der dargestellten Aktion“ (Kunze 2002, S. 120). Vor allem die Kopfbewegung suggeriere, dass die Göttin bei ihrem Bad von niemand anderem als dem Betrachter überrascht wird und sie aufgeschreckt mit nach hinten gewendetem Kopf eben diesem Eindringling entgegenblickt. Damit in Zusammenhang stehe auch der zu Boden gesenkte Blick der jungen Frau: „Das Neigen des Kopfes, das scheue Niederschlagen des Blickes gilt, wie zahlreiche Schriftquellen belegen, als typische, instinktive Reaktion eines Mädchens, das von fremden, ungebetenen Blicken überrascht und ertappt wird“ (Kunze 2022, S. 120). Ziel der Statue ist nach Kunze die Illusion einer unmittelbaren Begegnung des Betrachters mit einem scheinbar realen und lebendig reagierenden Gegenüber.
Eine der zahlreichen Marmorrepliken der Kauernden Aphrodite,
neuzeitlich ergänzt: die „Lely-Venus“ aus dem British Museum in
London (für die Großansicht einfach anklicken)
Durch die Gegenbewegung von Kopf und Armen dreht sich der vorgeneigte Oberkörper Aphrodites leicht nach links; dabei schiebt sich die Bauchdecke zu drei Wülsten zusammen – was auch bei einem schlankeren Leib der Fall wäre. Die Liebesgöttin verfügt, nicht untypisch, über füllige Formen, die aber für den Geschmack der griechischen Klassik (5. und 4. Jahrhundert v.Chr.) bereits zu „üppig“ sind. Für Bernard Andreae huldigt die „Leibesfülle“ der Aphrodite einem Schönheitsideal, das mit dem Ideal der Tryphe korrespondiert, dem bewusst zur Schau gestellten Überfluss und luxuriösen Wohlleben, das besonders an den hellenistischen Herrscherhöfen zelebriert wurde.

Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftrageber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1998, S. 61-65;
Kunze, Christian: Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation. Biering & Bringmann, München 2002, S. 108-121.

(zuletzt bearbeitet am 13. August 2018)

Donnerstag, 12. Februar 2015

Im Schwitzkasten – „Der Ganswürger“ aus der Münchner Glyptothek


Ganswürger, röm. Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals;
München, Glyptothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Ein Kind von vielleicht drei Jahren mit reichlich Babyspeck und eine ausgewachsene Gans im Clinch: Diese antike Skulpturengruppe gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Münchner Glyptothek und wird Der Ganswürger genannt (Höhe 84 cm). Es handelt sich um eine römische Marmorkopie; das Original bestand aus Bronze und kam ohne die unschöne Sechskantstütze aus, die das Gewicht des Tierkörpers abfangen muss. Als Bildhauer dieses im Altertum berühmten Werkes nennt uns Plinius d.Ä. in seiner Naturalis historia Boethus von Kalchedon. Kaiser Nero ließ das Original aus dem griechischen Osten nach Rom bringen und in seinem Palast aufstellen.
Der pausbäckige Knabe hat die Gans mit beiden Armen am Hals gepackt und klemmt im Eifer des Gefechts zugleich den inneren flatternden Flügel ein, sodass der große Vogel gefangen scheint. Doch die Gans wehrt sich; beide stemmen sich mit gespreizten Beinen kraftvoll gegeneinander. Wie ein geübter Ringer lehnt der mollige Junge den Oberkörper zurück, die Gans hält mit ihren breit gegrätschten Füßen dagegen und stützt sich darüber hinaus mit ihrem gefiederten Schwanz am Boden ab. Das Kind zerrt den Hals der Gans eng an sich heran, kreischend und um Luft ringend müht sich das Tier, der Fessel zu entkommen.
Die Gans ist wie der Junge sehr naturalistisch wiedergegeben: Der Bildhauer hat genau unterschieden zwischen den spitzen, sich sträubenden Halsfedern und den schuppenförmigen Deckfedern; die starren Schwingen heben sich ab von der weichen Polsterung der Daunen an Brust und Bauch. Die beiden Figuren berühren an fünf Punkten den Boden, von denen sie pyramidal nach oben bis zum Schopf über der Stirn des Knaben aufwachsen. Die Locken des noch etwas dünnen Kinderhaares sind über der Stirn aufgebunden, damit sie nicht in die Augen hängen. Die Darstellung wirkt natürlich; der Knabe nimmt keinerlei Notiz vom Betrachter, sondern ist ganz seinem Kämpfchen hingegeben, den Blick mit scharf zur Brust gesenktem Kopf konzentriert auf die arg bedrängte Gans gerichtet. Der Würgegriff, so scheint es, ist wohl nur eine unbeabsichtigte Folge des kindlichen Spiels. Eigentlich möchte das Kind die Gans nur an sich ziehen, sie festhalten und umarmend liebkosen. Dass es das Tier dabei quält, scheint es nicht zu bemerken: Unschuldig lächelnd, reagiert der Junge auf die Gegenwehr des Tieres mit einer umso rabiateren Umarmung. Dennoch ist die Momentaufnahme nicht realitätsnah erfasst: „Eine Gans würde in dieser Situation, dem Druck ausweichend, mit flatterndem Flügel zur Seite hüpfen, den Kopf drehen und dem Knaben mit dem Schnabel ins Gesicht hacken“ (Wünsche 2005, S. 112). Das aufgeregte Tier müsste mit seinen Instinkten dem Dreijährigen klar überlegen sein.
Die unschöne Stütze war im Original nicht vorhanden
Die Gruppe wirkt wie eine Genreszene ohne tiefere Botschaft: Ein Dreikäsehoch balgt sich mit einem Tier, das er zum Spielgenossen erkoren hat. Doch uneingeschränkt „heiter“ kann man dieses Ringkampf nicht nennen, denn die Not der Gans ist deutlich herausgearbeitet, Spiel und Ernst sind gleichermaßen präsent. Und man wundert sich durchaus, woher der Knabe den Mut nimmt, ein solches flügelschlagendes, wütende Zischtöne von sich gebendes Tier zu packen und zu strangulieren. „Die Frage ist deshalb angebracht, ob der Künstler nicht eine Art Wunderkind vorführen wollte“ (Andreae 1998, S. 208). In dem Knaben könnte ein zukünftiger, unerschrockener Held stecken, der von Geburt an in ihm angelegt ist wie bei Herakles: Der Mythos berichtet, dass der Sohn des Zeus schon als Kleinkind seine erstaunliche Kraft bewies, als er die von Hera aus Eifersucht auf seine Mutter Alkmene gesandten Schlangen mit bloßen Händen erwürgte. Direkte Hinweise für eine solche Deutung bietet die Gruppe allerdings nicht.
Christian Kunze fällt es schwer, sich die Rauferei mit einer Gans als Episode einer göttlichen oder mythischen Kindheitslegende vorzustellen, da es sich bei dem Thema des ganswürgenden Knaben in der hellenistischen Kunst keineswegs um ein ungewöhnliches oder gar einzigartiges Motiv handele. Vielmehr sei die Szene „überzeugend als eine im Grunde alltägliche Begebenheit formuliert und als lebendig gegenwärtiges Ereignis inzeniert“ (Kunze 2002, S. 151). Kunze sieht hier ein Menschenkind dargestellt, dessen Skulptur von seinen Eltern als Dank- oder Fürbittevotiv dem Asklepios, dem Wächter über Gesundheit und Wohlergehen auch der Heranwachsenden, geweiht worden war“ (Kunze 2002, S. 149). Gerade die lebensnahe Darstellung der Kinderstatue machen „Gesundheit und Wohlergehen“ des Knaben, für die der Gott mit dieser Votivfigur um Schutz gebeten wird, unmittelbar anschaulich: Dem Jungchen geht es prächtig.
Der Farnesische Stier; Neapel, Museo Archeologico Nazionale
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Bernard Andreae hat noch erwogen, ob der Ganswürger nicht eine humorvoll gemeinte, „drollige Antwort“ (Andreae 1998, S. 208) auf den Ernst des hochdramatischen, ebenfalls pyramidal aufgebauten Farnesischen Stiers darstellen könnte (siehe meinen Post „Drama, Drama, Drama“). Christian Kunze rückt den überzeugend modellierten Knabenleib in die Nähe der ebenfalls berühmten und in vielen Repliken überlieferten Kauernden Aphrodite (siehe meinen Post Eine Göttin badet), deren Speckfalten am Bauch von demselben „Bemühen um eine verblüffend lebensechte, täuschend ›natürliche‹ Beschaffenheit des Kunstwerkes“ zeugen (Kunze 2002, S. 146).
Kauernde Aphrodite; Rom, Villa Massimo
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Wahrscheinlich war der Ganswürger niedrig aufgestellt: Die Vorderseite der Gruppe ist, ausgehend von dem nach vorne gestellten linken Bein des Knaben, insgesamt schräg nach hinten geneigt. Auf diese Weise lassen sich schräg von oben die entscheidenden Elemente im oberen Bereich der Figuren rund um die zurückgeneigte Brust des Jungen am besten überblicken: die würgende Umarmung der Gans, die Nähe der beiden Köpfe und der eingeklemmte, hochgestellte Flügel des Vogels. Eine niedrige Platzierung der Skulptur hätte dem Betrachter auch die Illusion einer realen Begegnung vermittelt, da ein Erwachsener eben zu einem spielenden Kind herabzublicken gewohnt ist. „Es handelt sich um ein Werk, das dem Betrachter als ein scheinbar natürlicher Bestandteil seiner Umgebung dargeboten wird, das diesen durch seine lebendige Präsenz und durch seine sinnliche ›Nähe‹ unmittelbar zu verblüffen sucht“ (Kunze 2002, S. 152).
Die Ganswürger-Replik aus den vatikanischen Museen
Bekannt sind elf Nachbildungen des Ganswürger-Originals (Kunze 2002, S. 142); die wichtigsten befinden sich in München (Glyptothek), in Paris (Louvre), in Genf (Musée d’Art et d’Histoire) und im Vatikan (Musei Vaticani), am besten erhalten ist die in München. Die erhaltenen Kopien dienten, worauf ihre Fundorte und das häufige Herrichten der Gans zum Wasserspeier hinweisen, in der Regel wohl als Gartenschmuck von römischen Villen oder Häusern. Der Kleinkind-Typus des Ganswürger mit seinen realistischen Körperformen und Proportionen übte als Vorbild eine weitreichende Wirkung auf die hellenistische und römische Kunst aus. Von ihr weitergereicht, erlebte diese Kindergestalt als Putto in Renaissance und Barock eine glanzvolle Wiedergeburt.
Andrea Mantegna: Putto aus dem Fresko in der Camera degli Sposi in Mantua
(Palazzo Ducale, 1464-1475)
Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 206-210;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001, S. 158-160;
Kunze, Christian: Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation. Biering & Bringmann, München 2002, S. 142-153;
Rühfel, Hilde: Das Kind in der griechischen Kunst. Von der minoisch-mykenischen Zeit bis zum Hellenismus. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1984, S. 254-258;
Wünsche, Raimund: Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. Verlag C.H. Beck, München 2005, S. 112.

(zuletzt bearbeitet am 26. Juli 2018)

Montag, 9. Februar 2015

Trautes Paar im Grünen – „Die Geißblattlaube“ von Peter Paul Rubens


Peter Paul Rubens: Die Geißblattlaube (1609); München, Alte Pinakothek
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Peter Paul Rubens (1577–1640) kehrte im Dezember 1608 nach einem neunjährigen Italienaufenthalt nach Antwerpen zurück. Am 3. Oktober 1609 heiratete er die achtzehnjährige Isabella Brant, zu einem Zeitpunkt, an dem er sich in seiner Heimat bereits als bewunderter und erfolgreicher Maler etabliert hatte: Am 23. September 1609 war Rubens offiziell zum Hofmaler der Erzherzöge Albrecht und Isabella ernannt worden. Mit seiner Heirat blieb der Künstler im Kreis seiner Freunde, ja fast seiner Familie: Isabellas Vater, Jan Brant, war auch der Schwiegervater seines Bruders Philipp. Jan Brant bekleidete ein hohes Amt in der Antwerpener Stadtregierung, war aber zugleich, wie die Brüder Rubens, ein Schüler des flämischen Philosophen Justus Lipsius und ein bedeutender Humanist.
Ende 1609, spätestens 1610 entstand das Hochzeitsbild, wohl für die Schwiegereltern, das unter dem Namen Die Geißblattlaube berühmt geworden ist. Denn in einer von Geißblatt bewachsenen Gartenlaube sitzt das vor kurzem getraute Paar. Die junge Ehefrau kniet vorn auf dem Wiesenboden. Sie trägt einen hohen Schäferhut neuester Mode mit hochgeklappter Krempe und Lederband, darunter ein Spitzenhäubchen. Ein Mühlsteinkragen aus Spitze umschließt ihr Gesicht. Über dem silberweißen Seidenmieder mit eingewebten goldenen Blumen trägt sie den Vliegher, den der verheirateten Frau vorbehaltenen Überrock; die Ärmel sind im selben Muster wie an Haube und Kragen mit Spitzenmanschetten versehen, wohl niederländische Klöppelspitzen. Der violette, mit einer Goldbordüre besetzte Rock ist weit über den Boden gebreitet, rechts vorn lässt er den Unterrock sehen. Neben der kostspieligen Kleidung trägt Isabella noch Edelsteinarmbänder, einen Diamantring, Perlenohrringe und eine Perlenagraffe an der Hutkrempe. Ihr Blick ist dem Betrachter zugewendet, ihr Oberkörper leicht dem Gatten zugeneigt, auf dessen rechte Hand sie die ihre legt. In ihrer Linken hält sie einen zusammengefalteten Fächer.
Auch Rubens’ Kleidung ist auffällig elegant: Er trägt einen hohen, schwarzen Hut mit goldverziertem Band, einen breiten Spitzenkragen, eine Kette um den Hals, ein gefüttertes Wams mit Schnurverzierung, schwarzseidene Pumphosen und gelbe Strümpfe, die unterhalb der Knie von einem Band gehalten werden. Von den Schultern fällt ein dunkelbrauner, grau gefütterter Umhang. Keine Frage, der Maler prunkt mit dem luxuriösen Lebensstandard, den er seiner jungen Frau bieten kann. Dabei gibt er dem Betrachter keinerlei Hinweis auf seine Profession.
Als ganzfiguriges, annähernd lebensgroßes Doppelbildnis (178 x 136,5 cm) eines bürgerliches Paares ist das Gemälde ohne Vorbild: Es zielt einerseits auf ein Höchstmaß an Repräsentation und lässt andererseits die Zuneigung des jungen Paares sichtbar werden. Nicht nur das Format des Gemäldes und die edle Bekleidung der Eheleute zeugen von einem hohem Statusbewusstsein und -anspruch, sondern auch der betont vorgezeigte Degen, „der außerhalb des spezifischen Betrachterkontextes im Haus der Schwiegereltern eine Verletzung des Dekorums bedeutet hätte, schließlich war das öffentliche Tragen einer solchen Blankwaffe ein Privileg des Adels“ (Büttner 2007, S. 41). Offensichtlich geht es Rubens bei dieser Selbstdarstellung darum, dem Betrachter deutlich zu machen, dass man es hier nicht mit einem subalternen Maler-Handwerker zu tun hat, sondern mit einem Patrizier und Maler-Fürsten, der seinen Auftraggebern gesellschaftlich ebenbürtig ist.
Jan van Eyck: Die Arnolfini-Hochzeit (1434); London, National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Erhöht auf der Seitenlehne einer Bank sitzend, neigt sich Rubens ebenfalls leicht zu seiner Ehefrau hin. Sein rechter Arm ruht auf dem Knie, der linke stützt sich mit dem Ellenbogen auf die Rückenlehne, die Hand hält locker den Degenkorb. Betont weist deren Zeigefinger auf die übereinandergelegten rechten Hände der Eheleute, ein seit der Antike übliches Zeichen für das Ehegelübde, die dextrarum iunctio. Auch die langgezogene Krempe von Isabellas Hut zielt auf das Händepaar. Eines der bekanntestes Beispiele für die dextrarum iunctio ist die Arnolfini-Hochzeit des Jan van Eyck. Einen weiteren Verweis auf eheliche Treue gibt das im Hintergrund rankende Geißblatt (im Deutschen „Jelängerjelieber“), das seit dem Mittelalter als Sinnbild ehelicher Liebe verwendet wurde. „Zudem sucht der äußere Umriss der Figurengruppe die Idealität einer kreisig geschlossenen Form und ruft damit Platons Vorstellung von der kugelförmigen Urgestalt des Menschen auf, deren zusammengehörige Hälften Eros in der Liebe wieder zusammenführt“ (Kersting 2005, S. 26). Darüber hinaus erinnert das isolierte Menschenpaar in einer blühenden Landschaft an die Glückseligkeit des Paradieses. Und auch eine Anspielung auf die eheliche Erotik fehlt nicht: Isabellas Rocksaum fällt auf den rechten Fuß ihres Mannes, und genau von dort zieht sich die mehrbändige Goldbordüre nach oben, um unter der bauchigen Schneppe ihres Mieders zu verschwinden.
Isabella sitzt vor einem vollständig geschlossenen, bergenden Laubwerk, während auf der Seite ihres Mannes der Blick bis zum Horizont hin offensteht. Damit könnte durchaus die traditionelle Rollenverteilung gemeint sein, die dem Mann die „Welt“ und der Frau das „Heim“ als Aufgabenbereiche zuweist. Die Unterordnung der Frau ist ohne Frage erkennbar, entspricht aber der damaligen Auffassung von der Ehe. Rubens schafft jedoch einen Ausgleich, indem er Isabella etwas weiter vorn sitzen lässt. „Entscheidend aber ist der Eindruck liebevollen Verbundenseins“ (von Simson 1996, S. 114), die selbstverständliche Zweisamkeit des Paares und die entspannte Leichtigkeit ihrer Gesten. Isabella hat ihre Rechte mit erkennbarem Anspruch auf die von Rubens gelegt, und er hat willig von sich Besitz ergreifen lassen. Zugleich stützt er ihre Hand, einer sich des anderen vollkommen sicher. „Diese Zwiesprache der Hände bildet das zwanglose Kraftzentrum des Zusammenseins und des Bildes“ (Kersting 2005, S. 29/30). Rubens zeigt die Ehe als Liebesbund – und überwindet damit die steife, formelhafte und kontaktlose Aufreihung der Ehepartner in den flämischen Ehebildern des 16. Jahrhunderts.
Peter Paul Rubens und Frans Snyders: Pythagoras verteidigt die vegetarische Lebensweise (um 1627);
London, Windsor Castle (für die Großansicht einfach anklicken)
In Rubens’ übergeschlagenen Beinen erkennt Julius Müller Hofstede darüber hinaus  den alten Gestus des „otium sapientis“ – gemeint ist damit eine nachdenkliche, meditierende Haltung. Rubens verwendet diese Sitzfigur besonders eindrücklich in seinem Gemälde Pythagoras verteidigt die vegetarische Lebensweise von 1627, um den antiken Philosophen als „vir sapiens“ zu präsentieren. In der Geißblattlaube erscheine Rubens daher, so Müller Hofstede, nicht nur als angetrauter Ehemann, sondern auch als Humanist, zu dessen Lebensstil unabdingbar das „otium sapientis“ gehöre: „Auch darin bekundet sich seine Zugehörigkeit zur stadtbürgerlichen Elite Antwerpens“ (Müller Hofstede 1992, S. 112).
Rubens’ Gemälde wurde oben beschnitten – wann und warum dies geschehen ist, lässt sich nicht sagen. Ursprünglich zeigte das Bild den sich verjüngenden Hut von Rubens vollständig, und die Geißblatthecke war höher hinaufgezogen, wie Nachstiche belegen.
Carl Ernst Christoph Hess: Die Geißblattlaube
(Nachstich des Gemäldes in unbeschnittenem Zustand)

Jacob Jordaens: Die Familie des Künstlers (1621/22); Madrid, Museo del Prado
Die Geißblattlaube mit ihrer den eigenen bürgerlichen Stand nobilitierenden Form beeinflusste später (nach 1620) auch die ganzfigurige Selbstdarstellung weiterer herausragender Antwerpener Maler wie Cornelis de Vos (1585–1651) oder Jacob Jordaens (1593–1670).

Literaturhinweise
Bayerische Staatsgemäldesammlungen (Hrsg.): Alte Pinakothek. Ausgewählte Werke. Pinakothek-DuMont, München und Köln 2005, S. 306;
Büttner, Nils: Rubens. Verlag C.H. Beck, München 2007;
Kersting, Markus: „... in der Morgensonne der Liebe“ – Die Geißblattlaube. In: Dagmar Feghelm/Markus Kersting, Rubens – Bilder der Liebe. Prestel Verlag, München 2005, S. 24-31;
Müller Hofstede, Justus: Peter Paul Rubens 1577–1640. Selbstbildnis und Selbstverständnis. In: Ekkehard Mai/Hans Vlieghe (Hrsg.), Von Bruegel bis Rubens. Das goldene Jahrhundert der flämischen Malerei. Verlag Locher, Köln 1992, S. 103-120;
von Simson, Otto: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler, Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996, S. 114-117;
Warnke, Martin: Rubens. Leben und Werk. DuMont Buchverlag, Köln 2011, S. 13-18.

(zuletzt bearbeitet am 25. November 2024)