Montag, 8. September 2025

Im Wettbewerb mit Michelangelo – Die Fresken von Peter Cornelius in der Münchner Ludwigskirche

Peter Cornelius: Weltgericht (1836–1840); München,
Ludwigskirche (für die Großansicht einfach anklicken)

Ende 1828 beauftragte der bayerische König Ludwig I. (1786–1868) den Koblenzer Architekten Friedrich von Gärtner (1791–1847), die Pläne für eine Pfarrkirche in der neuen Vorstadt vor dem Schwabinger Tor zu entwerfen. St. Ludwig (auch Ludwigskirche genannt) wurde zwischen 1829 und 1844 errichtet und gehört zu den ersten monumentalen Bauwerke im Rundbogenstil, der die Architektur des Historismus im 19. Jahrhundert dominierte. Die Fassade ist gekennzeichnet durch zwei markante Turmspitzen zu Seiten der mit einer großen Fensterrose versehenen Giebelfront. Links und rechts der beiden Westtürme öffnen sich Arkadenreihen zum Garten hin. Die dreischiffige Basilika bezieht sich mit ihrer Doppelturmfassade auf die barocke Theatinerkirche, hebt sich aber mit ihrem gerade geschlossenen Chor, den Arkaden, einer Freitreppe und einer Vorhalle deutlich von ihr ab.

Friedrich von Gärtner: Ludwigskirche (1829–1844); München

Als künstlerischer Höhepunkt der Ludwigskirche gelten die Fresken, die von dem Düsseldorfer Maler Peter Cornelius (1783–1867) entworfen wurden, einem der führenden Nazarener. Es ist das einzige erhaltene Hauptwerk des Künstlers und zugleich wohl die bedeutendste sakrale Monumentalmalerei der Romantik in Deutschland. Allerdings entsprechen der kunsthistorische Rang der Fresken und seine Wertschätzung einander keineswegs. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts etwa dachte man zeitweilig sogar daran, sie der Neugestaltung des Innenraums zu opfern. Sie waren auch schon zu ihrer Entstehungszeit umstritten und wurden damals überwiegend abgelehnt.

Obwohl Cornelius zeitgleich mit dem Architekten den Auftrag für den Freskenschmuck der Kirche erhielt, konnte er erst 1836 mit den Wandmalereien beginnen – denn erst zu diesem Zeitpunkt war der Bau weit genug vorangeschritten. Cornelius selbst malte nur das Fresko an der Apsiswand selbst, die Ausführung seiner anderen Entwürfe überließ er einem großen Mitarbeiterstab. Im Spätsommer 1840 war der Freskenzyklus im Wesentlichen vollendet.

Das von Cornelius konzipierte Freskenprogramm umfasst den Bereich des Chores, der Vierung und der Querarme. An den Stirnwänden des Querschiffes stehen sich als Hauptbilder die Geburt Christi und die Kreuzigung Christi gegenüber und darüber als Einzelfiguren zu beiden Seiten der Fenster Verkündigung und Noli me tangere. Das Hauptwerk von Cornelius dominiert die flache Abschlusswand des Chores: 18 m hoch und 11 m breit, zeigt es das Jüngste Gericht mit Christus als Weltenrichter sowie Aufstieg und Höllensturz der Auferstehenden. Im Gewölbe über dem Chor ist Gottvater umgeben von Engelschören dargestellt. In den Gewölben der Querarme finden sich die vier Evangelisten beziehungsweise die vier lateinischen Kirchenväter. Das Vierungsgewölbe nehmen Patriarchen, Propheten, Märtyrer und Heilige ein.

Die Deckenfresken im Vierungsgewölbe (für die Großansicht einfach anklicken)

Im Zusammenhang betrachtet, illustriert der Freskenzyklus das Apostolische Glaubensbekenntnis: Jedes Fresko, angefangen im Chorgewölbe, das „Gott Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden“ zeigt, bis zur Gerichtsdarstellung und den für die „Sancta ecclesia catholica“ stehenden Fresken des Vierungsgewölbes, verbildlicht einen Satz des Credo. Cornelius hatte ursprünglich gehofft, die gesamte Kirche, also auch die Wände des Langhauses ausmalen zu können. Da die veranschlagten Kosten für dieses Projekt aber bei weitem das überschritten, was der König auszugeben bereit war, musste der Künstler sein Programm auf den schließlich ausgeführten Umfang reduzieren.

Das erste Bild, das Cornelius entwarf und als Karton ausführte, war die Kreuzigung Christi. In einer streng auf die Mittelachse ausgerichteten Komposition wird recht unspektakulär das bekannte Bildpersonal aufgeboten. Als störend und für ein Historienbild als gänzlich unpassend empfanden zeitgenössische Betrachter allerdings die eingefügten Engel und Teufel über den Kreuzen der beiden Schächer. Dies schien „ein Rückfall in längst überwundene Formen der Kunst zu sein, mit denen die Ebene des ,Wahrscheinlichen‘ durchbrochen wird“ (Büttner 1993, S. 294). Aber Cornelius ging es hier gar nicht um historische Treue – Engel und Teufel wurden von ihm zeichenhaft abgebildet, um den Betrachter auf die theologische Bedeutung der Kreuzigung hinzuweisen.

Die Geburt Christi ist ebenso streng aufgebaut wie die Kreuzigung: Maria sitzt frontal genau in der Mittelachse des Bildes vor dem Stall, der sich wie ein Baldachin hinter ihr erhebt. Mit ausgebreiteten Armen hält sie ein weißes Tuch als Unterlage für das Kind, das auf ihrem Schoß sitzt, dem Betrachter ebenfalls frontal zugewandt, und seine Arme segnend ausbreitet. Gottesmutter und Kind sind das Ziel der beiden Figurengruppen der Könige bzw. der Hirten, die sich links und rechts aus der Tiefe nach vorne drängen. Im oberen Bildteil erscheinen Gottvater und Heiliger Geist, von Engeln umgeben und ebenfalls streng auf die Mittelachse bezogen. Durch diese bildbestimmende Vertikalachse „wird für den Betrachter der Gedanke der Trinität in den Vordergrund gerückt“ (Büttner 1993, S. 295). Maria wird von Cornelius betont als „Theotokos“, als Gottesgebärerin aufgefasst. Die parallel ausgebreiteten Arme von Gottvater und Sohn verweisen wiederum auf ihre Wesensgleichheit.

Das Jüngste Gericht lässt schon beim Eintritt in die Kirche seinen klaren Bildaufbau erkennen: Zum einen ist wiederum die Vertikale in der Bildmitte deutlich betont, zum anderen hat Cornelius das Geschehen in drei übereinander geschichtete Zonen aufgeteilt. Der Aufstieg der Seligen links und der Sturz der Verdammten rechts bilden die seitlichen Pfeiler der Komposition. Von der Bewegung und Unruhe, die in der unteren Zone herrschen, hebt sich die obere Zone durch ihre fast statische Ruhe ab. Christus thront zwischen Maria und Johannes dem Täufer, den Aposteln und Propheten. Er bringt den Urteilsspruch, der Verdammung oder Erlösung bedeutet, nur durch die unterschiedliche Handhaltung zum Ausdruck.

Buonamico Buffalmacco: Jüngstes Gericht und Höllenbqualen (um 1336–1341); Pisa, Camposanto
(für die Großansicht einfach anklicken)
Giotto: Jüngstes Gericht (1306); Padua, Arena-Kapelle (für die Großansicht einfach anklicken)
Luca Signorelli: Verdammnis (1499–1502); Orvieto, Dom/Cappella Nova (für die Großansicht einfach anklicken)

Cornelius schuf seinen Entwurf für das Jüngste Gericht in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken, die er als vorbildlich ansah. Sie sind zumeist italienischer Herkunft. Von besonderer Bedeutung waren für ihn das Gerichtsfresko von Buffalmacco im Pisaner Camposanto, Giottos Fresko in der Arena-Kapelle, Signorellis Wandmalereien in Orvieto (siehe meinen Post „Das bunte Ende der Welt“) und vor allem Michelangelos Fresko in der Sixtina. Die kaum zu überblickende Zahl der Gerichtsdarstellungen in der Kunst der Spätrenaissance und des Barock ignorierte er. Die Camposanto-Fresken in Pisa hatte Cornelius schon während seines ersten Italienaufenthaltes (1811–1819) genau studiert. Von dort übernahm er bestimmte Motive, ohne sie im eigentlichen Sinn zu kopieren. Vorgebildet ist in Pisa vor allem die Betonung der Vertikalachse mit dem Erzengel Michael und dem apokalyptischen Engel, umgeben von Posaunenengeln. Allerdings vermeidet Cornelius die dortige Ausgestaltung der Höllenstrafen, die er auch bei Giotto in Padua hatte sehen können.

Michelangelo: Jüngstes Gericht (1536–1541); Rom, Sixtina (für die Großansicht einfach anklicken)

Eine Schlüsselrolle spielte für Cornelius unbestreitbar Michelangelos Fresko in der Sixtinischen Kapelle (siehe meine Posts Ganz nackt, ganz Mann und Meine Augen werden ihn schauen). Die Grundidee der Anordnung ist von dort übernommen; dazu gehört vor allem die Aufteilung in die drei horizontalen Zonen, zu denen noch die Engel mit den Arma Christi hinzukommen. Sie bilden bei Michelangelo eine selbständige Zone, wurden von Cornelius hingegen dem Bereich mit dem richtenden Christus zugeordnet. Ebenfalls auf Michelangelo geht das Motiv der Aufsteigenden und der Stürzenden zurück, durch deren Bewegung die obere und die untere Zone des Bildes, Himmel und Erde verbunden werden. Die Unterscheide zwischen den beiden Fresken sind dennoch überdeutlich.

Bei Michelangelo geht eine ungeheure Energie von der Gestalt Christi aus, die alles in eine bebende Bewegung versetzt, eine Dynamik, die zentripetal und zentrifugal zugleich ist. Die Mittelzone zeigt sich in heftigem Aufruhr. Die Gruppe der Posaunenengel erscheint wie ein vielfaches Echo der Erscheinung Christi. Das Aufsteigen der Seelen auf der linken Bildseite ist kein leichtes Schweben, sondern ein angestrengtes Überwinden der Schwerkraft, der Sturz der Verdammten auf der gegenüberliegenden Seite ein tobender Kampf. In der unteren Bildzone wird auf der linken Seite die Auferstehung gezeigt, ein Erwachen, auf dem immer noch die bleierne Schwere des Todesschlafes liegt. Die rechte Bildhälfte nimmt die Höllenszene ein, in der das alte Motiv des Höllenschlunds, in den die Verdammten gestürzt werden, ersetzt ist durch das Bild des Charon, der die Seelen dem Totenrichter Minos entgegentreibt.

Raffael: Disputa (1509/10); Rom, Vatikanische Museen/Stanza della Segnatura
(für die Großansicht einfach anklicken)

Auch in dem Fresko der Ludwigskirche findet sich eine große Vielfalt an Bewegungsmotiven. Dennoch hat der Betrachter nicht den Eindruck eines dynamischen Geschehens, das sich unmittelbar und gegenwärtig vollzieht. Anders als Michelangelo gestaltet Cornelius den himmlischen Bereich als Zone der Ruhe. Von Christus geht keine wahrnehmbare Kraft aus, die als Ursache aller Bewegung verstanden werden könnte. Die Begleitfiguren gruppieren sich in strenger Ordnung um ihn. Das Motiv der Deesis, das Michelangelo zugunsten der Darstellung der neben Christus sitzenden Maria aufgegeben hatte, griff Cornelius wieder auf, und zwar in Anlehnung an Raffaels Disputa. Von dort nahm er auch die Anregung, das alte Motiv der Apostel als Beisitzer des Gerichts, das Michelangelo unbeachtet gelassen hatte, durch Hinzunahme der Propheten zu modifizieren.

Cornelius‘ Tendenz zur Schematisierung zeigt sich deutlich an der Gruppe der Engel unter Christus. Der apokalyptische Engel präsentiert das Buch des Lebens wie bewegungslos. Nur der Ausdruck des von fliegenden Haaren umrahmten Gesichts lässt eine heftige innere Anteilnahme erkennen. Naturgemäß ist die Bewegung in der Gruppe der Stürzenden am größten, und hier sind auch die meisten Verbindungen zwischen dem Fresko der Ludwigskirche und dem der Sixtina zu entdecken. Die Bewegungen der Aufsteigenden hat Cornelius weit starrer als Michelangelo dargestellt: Bei Michelangelo geht die Bewegung von den Einzelgestalten aus, bei Cornelius hingegen ist der von den Engeln angeführte Reigen der Seelen das Hauptmotiv.

Warum aber erfuhren die Fresken von Cornelius eine so deutliche Ablehnung durch die Zeitgenossen, auch von Seiten des bayerischen Königs? Frank Büttner erklärt dies mit den damaligen aktuellen Tendenzen der Historienmalerei: Im Fahrwasser des Historismus wurde vom Historienbild vollkommene Geschichtstreue gefordert. Es sollte die Geschichte so zeigen, wie sie sich dem Augenzeugen dargeboten hat; der Betrachter ist aufgefordert, vor dem Bild Geschichte mitzuerleben. Diese Rezeptionsform wurde in der weiteren Entwicklung dominierend. Cornelius arbeitete in seinen Fresken diesen Tendenzen jedoch bewusst entgegen, „weil er überzeugt war, daß die religiöse Wahrheit, die er darstellen wollte, etwas über die historische Wirklichkeit Hinausgehendes ist“ (Büttner 1993, S. 302). Der Zeitgeschmack erwies sich allerdings als mächtiger – seine Konzeption wurde als „Kunstfehler“ wahrgenommen.

Hinzu kam, dass man das Werk von Cornelius von Anfang an mit Michelangelos Wandmalereien in der Sixtina verglich – man hatte eine Überbietung des Italieners erwartet und war enttäuscht, empfand das Ergebnis als unbefriedigend. Cornelius‘ Fresken waren also zum einen betont nicht realistisch; zum anderen zielten seine Fresken nicht darauf ab, vorrangig ästhetisch zu wirken oder emotional anzusprechen – Cornelius war vielmehr der Ansicht, dass religiöse Kunst die Wahrheiten des christlichen Glaubens vor allem durch eine symbolhafte Darstellungsweise sichtbar machen sollten.

 

Glossar

– Als Arma Christi (lat. „Waffen Christi“) werden Waffen, Foltergeräte oder andere Gegenstände bezeichnet, die in Beziehung zum Leiden und Sterben Jesu Christi stehen. Da die Passionswerkzeuge als Waffen zur Überwindung von Sünde und Tod gesehen werden, gelten sie auch als Siegeszeichen.

– In der christlichen Ikonografie meint Deesis eine Darstellung von Christus als Herrscher oder Richter zwischen den Figuren der bittenden Maria und Johannes dem Täufer.

 

Literaturhinweise

Büttner, Frank: Subjektives Gefühl, künstlerisches Ideal und christliche Wahrheit. Das religiöse Bild im frühen Werk von Peter Cornelius. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 52 (1991), S. 237-261;

Büttner, Frank: Unzeitgemäße Größe. Die Fresken von Peter Cornelius in der Münchner Ludwigskirche und die zeitgenössische Kritik. In: Das Münster 1993, S. 293-304;

von Einem, Herbert: Peter Cornelius. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 16 (1954); S. 104-160.


Freitag, 5. September 2025

Zu Tode betrübt – Raffaels „Grabtragung Christi“

Raffael: Grabtragung Christi (1507); Rom, Galleria Borghese (für die Großansicht einfach anklicken)
In der Zeit um 1507 erhielt Raffael (1483–1520) in Perugia einen anspruchsvollen Auftrag. Es handelt sich um einen Altar, die sogenannte Pala Baglioni. Sie ist mit „RAPHAEL URBINAS M.D.VII“ signiert und war damals in San Francesco al Prato in Perugia aufgestellt. Die zentrale Tafel, auf der eine Grabtragung Christi dargestellt ist, hat der Kardinal Scipione Borghese im frühen 17. Jahrhundert rauben und in seine römische Villa bringen lassen. In der Kirche ist seitdem das Gemälde durch eine Kopie ersetzt. Die Pala Baglioni bestand ursprünglich aus einem etwa quadratischen Mittelfeld, einer Bekrönung mit der Figur des segnenden Gottvaters sowie drei Predellentafeln, auf denen in Grisaille Personifikationen der geistlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung abgebildet sind.
Man geht davon aus, dass Atalante Baglioni den Altar bei Raffael bestellte. Atalante war die Mutter des Grifonetto Baglioni, der im Sommer 1500, nachdem er rivalisierende Mitglieder der eigenen Familie ermordet hatte, selbst einem Anschlag zum Opfer fiel. Der gewaltsame Tod des Grifonetto, der in den Armen seiner Mutter starb, wird der Grund für die Auftragsvergabe gewesen sein.
Compassio drückt sich in der Conformitas aus
Über der Frauengruppe mit der ohnmächtig zusammensinkenden Maria sieht man in der Ferne die drei Kreuze auf Golgatha. Von dort haben die Männer den Leichnam Christi bis kurz vor die dunkle Öffnung des Felsengrabes links im Bild getragen – jetzt müssen sie ihn noch unter großer Kraftanstrengung über mehrere Felsstufen hinaufheben. Raffael hat die Personen in zwei Gruppen aufgeteilt – beide sind geprägt durch „compassio“: Dieses tiefe, Leib und Seele erfassende trauernde Mitleiden drückt sich darin aus, dass sich die Figuren formal der Gestalt Jesu angleichen. Das Motiv des zurückgesunkenen Hauptes kehrt wieder bei Nikodemus, dem Träger am Kopfende. Wie ein spiegelverkehrtes Echo wiederum wirkt das abgewendete Haupt des grauhaarigen Joseph von Arimathäa neben ihm. Der Jünger Johannes zwischen ihnen senkt das Haupt und ringt in seinem Schmerz die Hände. Die linke Hand Christi ruht leblos auf der lebendigen Linken von Maria Magdalena.
Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme (1435-1440); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
Am deutlichsten ist diese „conformitas“ an der Mutter Jesu abzulesen, die von mehreren Frauen aufgefangen werden muss: Der kraftlos herabhängende Arm und das bewusstlos auf die Schulter gesunkene Haupt entsprechen der Körperhaltung Christi. „Die Ohnmacht der Gottesmutter bildet den Tod des Sohnes ab“ (Traeger 1997, S. 141). Rogier van der Weyden war der Erste, der solch eine figürliche Angleichung dargestellt hat, und zwar in seiner Kreuzabnahme aus dem Prado in Madrid (siehe meinen Post „Die Schönheit der Trauer“). Durch diese Parallelisierung wird nicht nur Marias Mitleiden veranschaulicht, sondern auch ein wichtiger theologischer Gedanke der damaligen Zeit, nämlich ihre Mitwirkung bei der Erlösungstat. Dieser Bildgedanke findet sich auch bei der Kreuzabnahme aus der Galleria dell’ Accademia in Florenz: Von Filippino Lippi bei seinem Tod 1504 unvollendet hinterlassen, wurde sie bis 1507 von Pietro Perugino vollendet. Raffaels Compassio-Motiv hatte hier einen unmittelbaren Vorläufer bzw. eine nahezu zeitgleiche Entsprechung.
Filippino Lippi/Pietro Perugino: Kreuzabnahme (1507 vollendet); Florenz,
Galleria dell’ Accademia
Das Gewand der barfüßigen Maria gleicht der Tracht der Klarissen, wie sie Giotto in seinem Fresko der hl. Klara und ihrer Nonnen in der Oberkirche von San Francesco in Assisi dargestellt hat: ein braunes, sackartiges Kleid mit Gürtel, weißer Wimpel und Weihel, die den Hals und oberen Teil der Brust bedecken und den Kopf umhüllen, darüber der schwarze Schleier. Bei Raffael kommen minimale Verzierungen hinzu: golden gemusterte Bordüren am Ärmel sowie ebenfalls goldene Ornamentstreifen am Gürtel. In der Renaissance ist die Mutter Jesu öfter als Nonne dargestellt worden – so in Botticellis Beweinung Christi aus der Münchner Pinakothek oder auf der bereits erwähnten Kreuzabnahme von Filippino Lippi und Pietro Perugino. Bekanntestes deutsches Beispiel ist Matthias Grünewalds Maria in der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars. 
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1495); München, Alte Pinakothek
Welchen Zweck erfüllt nun die Klarissenkleidung der Maria in Raffaels Gemälde? Maria wird durch sie einerseits mit der franziskanischen Frömmigkeit verknüpft und auf diese Weise auch mit dem Bestimmungsort des Bildes in San Francesco al Prato. Jörg Traeger geht außerdem davon aus, dass die Nonnentracht der Mutter Jesu Atalante Baglioni an das mönchsartige Gewand erinnerte, dass sie bei der Beweinung ihres getöteten Sohnes Grifone getragen hatte (Traeger 1997, S. 145).
Andrea Mantegna: Grabtragung Christi (um 1480); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Michelangelo: Tondo Doni (um 1506); Florenz; Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Pala Baglioni lässt erkennen, dass sich Raffael mit einer Vielzahl von Kunstwerken auseinandergesetzt hat. So findet sich die zweigeteilte Komposition bereits in dem berühmten Kupferstich der Grabtragung Christi von Andrea Mantegna (um 1480), in dem sowohl der linke Träger als auch das Motiv der ohnmächtigen Maria vorkommen. Eine weitere Inspirationsquelle war vermutlich ein antiker Sarkophag mit dem Begräbnis Meleagers, der sich heute im Vatikan befindet. Und natürlich ist Michelangelo zu nennen, denn die muskulöse Frau, die sich zu Maria umwendet und sie mit ausgestreckten Armen stützt, zitiert die Marienfigur aus dessen Tondo Doni (siehe meinen Post Nimm mir mal den Kurzen ab!“). Ohne Zweifel hatte Raffael die Gelegenheit, dieses Bild in Agnolo Donis Haus eingehend zu studieren, als er den begüterten Tuchhändler und seine Frau Maddalena porträtierte (siehe meinen Post „Geld heiratet Adel“). Der tote Christus entspricht bis in die Kräuselung der Barthaare und Haltung der Finger dem Christus der spektakulären Pietà-Skulpturengruppe, die Michelangelo 1498/99 in Rom für die Grabkapelle eines französischen Kardinals geschaffen hatte (siehe meinen Post Tief schlafend oder tot?). Sie war ursprünglich – anders als heute – so tief aufgestellt gewesen, dass man von oben auf den schönen jugendlichen Christus-Körper herabblicken konnte. 
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter
Michelangelo: Grablegung Christi (1500/1501); London, National Gallery
Michelangelo: Matthäus (1505/06); Florenz,
Galleria dellAccademia
Die Idee wiederum, dass die Träger den toten Christus rückwärts über Steinstufen zum Grab hinaufheben, hatte Michelangelo in seiner unvollendeten Grabtragung Christi von 1500/01 entwickelt. Auch an Michelangelos unvollendetem Matthäus (1505/06) hat sich Raffael erkennbar orientiert: Er hat die Skulptur nämlich gezeichnet – die dann seitenverkehrt im Joseph von Arimathäa wiederkehrt.
Peter Cornelius: Grabtragung Christi (1819); Kopenhagen, Thorvaldsens Museum
Der Düsseldorfer Maler Peter von Cornelius (1783–1867), einer der führenden Nazarener
, hat sich in einem 1819 vollendeten Ölbild nochmals intensiv mit Raffaels Grabtragung Christi auseinandergesetzt. Die entscheidenden Handlungsmotive sind von dort übernommen und dennoch erkennbar abgewandelt: Die Ohnmacht Mariens wird stärker betont, und in der Christusgruppe fehlt jede heftige Bewegung; bei der Darstellung des Leichnams vermeidet der Maler Realismus – sind bei Raffael alle fünf blutenden Wundmale deutlich sichtbar, muss man bei Cornelius schon genau hinsehen, um zwei von ihnen wahrzunehmen, zumal kein einziger Blutstropfen auf sie hinweist. Während bei Raffael nicht nur in den Gesichtern, sondern auch im Auseinanderfahren der Hauptgruppe tiefster Schmerz zum Ausdruck kommt, herrscht bei Cornelius die feierliche Stimmung stillen Leidens. „Das Bewegte und Bewegende des Meisterwerks von Raffael wird von dem Nazarener in eine ›klassische‹ Sprache transponiert, in der Emotionalität Maß bewahren muß“ (Büttner 1991, S. 252).

Literaturhinweise
Buck, Stephanie/Hohenstatt, Peter: Raffaello Santi, genannt Raffael. 1483–1520. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998, S. 32-40;
Büttner, Frank: Subjektives Gefühl, künstlerisches Ideal und christliche Wahrheit. Das religiöse Bild im frühen Werk von Peter Cornelius. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch LII (1991), S. 237-261;
Forcellino, Antonio: Raffael. Biographie. Siedler Verlag, München 2006, S. 113-122;
Meyer zur Capellen, Jürg: Raffael in Florenz. Hirmer Verlag, München 1996, S. 214-216;
Oberhuber, Konrad: Raffael. Das malerische Werk. Prestel Verlag, München 1999, S. 60-69;
Pfisterer, Ulrich: Raffael. Glaube · Liebe · Ruhm. Verlag C.H. Beck, München 2019, S. 69-85;
Rohlmann, Michael: Die Kunst des Zitats. Zu inhaltlicher Motivation und Bedeutung entlehnter Motive bei Raffael. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch LXXXII (2021), S. 71-131;
Traeger, Jörg: Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 132-154.

(zuletzt bearbeitet am 5. September 2025)