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Raffael: Grabtragung Christi (1507); Rom, Galleria Borghese (für die Großansicht einfach anklicken)
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In der Zeit um 1507
erhielt Raffael (1483–1520) in Perugia einen anspruchsvollen Auftrag. Es handelt
sich um einen Altar, die sogenannte Pala
Baglioni. Sie ist mit „RAPHAEL URBINAS M.D.VII“ signiert und war damals in
San Francesco al Prato in Perugia aufgestellt. Die zentrale Tafel, auf der eine
Grabtragung Christi dargestellt ist, hat der Kardinal Scipione Borghese im
frühen 17. Jahrhundert rauben und in seine römische Villa bringen lassen. In
der Kirche ist seitdem das Gemälde durch eine Kopie ersetzt. Die Pala Baglioni bestand ursprünglich aus
einem etwa quadratischen Mittelfeld, einer Bekrönung mit der Figur des
segnenden Gottvaters sowie drei Predellentafeln, auf denen in Grisaille Personifikationen
der geistlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung abgebildet sind.
Man geht davon aus,
dass Atalante Baglioni den Altar bei Raffael bestellte. Atalante war die Mutter
des Grifonetto Baglioni, der im Sommer 1500, nachdem er rivalisierende Mitglieder
der eigenen Familie ermordet hatte, selbst einem Anschlag zum Opfer fiel. Der
gewaltsame Tod des Grifonetto, der in den Armen seiner Mutter starb, wird der
Grund für die Auftragsvergabe gewesen sein.
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Compassio drückt sich in der Conformitas aus |
Über der Frauengruppe
mit der ohnmächtig zusammensinkenden Maria sieht man in der Ferne die drei
Kreuze auf Golgatha. Von dort haben die Männer den Leichnam Christi bis
kurz vor die dunkle Öffnung des Felsengrabes links im Bild getragen – jetzt müssen sie ihn noch unter großer Kraftanstrengung über mehrere Felsstufen hinaufheben. Raffael
hat die Personen in zwei Gruppen aufgeteilt – beide sind geprägt durch „compassio“:
Dieses tiefe, Leib und Seele erfassende trauernde Mitleiden drückt sich darin
aus, dass sich die Figuren formal der Gestalt Jesu angleichen. Das Motiv des
zurückgesunkenen Hauptes kehrt wieder bei Nikodemus, dem Träger am Kopfende. Wie
ein spiegelverkehrtes Echo wiederum wirkt das abgewendete Haupt des grauhaarigen
Joseph von Arimathäa neben ihm. Der Jünger Johannes zwischen ihnen senkt das
Haupt und ringt in seinem Schmerz die Hände. Die linke Hand Christi ruht leblos
auf der lebendigen Linken von Maria Magdalena.
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Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme (1435-1440); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken) |
Am deutlichsten ist
diese „conformitas“ an der Mutter Jesu abzulesen, die von mehreren Frauen
aufgefangen werden muss: Der kraftlos herabhängende Arm und das bewusstlos auf
die Schulter gesunkene Haupt entsprechen der Körperhaltung Christi. „Die
Ohnmacht der Gottesmutter bildet den Tod des Sohnes ab“ (Traeger 1997, S. 141).
Rogier van der Weyden war der Erste, der solch eine figürliche Angleichung
dargestellt hat, und zwar in seiner Kreuzabnahme aus dem Prado in Madrid
(siehe meinen Post „Die Schönheit der Trauer“). Durch
diese Parallelisierung wird nicht nur Marias Mitleiden veranschaulicht, sondern
auch ein wichtiger theologischer Gedanke der damaligen Zeit, nämlich ihre
Mitwirkung bei der Erlösungstat. Dieser Bildgedanke findet sich auch bei der Kreuzabnahme aus der Galleria dell’ Accademia in Florenz: Von Filippino Lippi
bei seinem Tod 1504 unvollendet hinterlassen, wurde sie bis 1507 von Pietro
Perugino vollendet. Raffaels Compassio-Motiv hatte hier einen unmittelbaren
Vorläufer bzw. eine nahezu zeitgleiche Entsprechung.
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Filippino Lippi/Pietro Perugino: Kreuzabnahme (1507 vollendet); Florenz,
Galleria dell’ Accademia |
Das Gewand der barfüßigen Maria
gleicht der Tracht der Klarissen, wie sie Giotto in seinem Fresko der hl. Klara
und ihrer Nonnen in der Oberkirche von San Francesco in Assisi dargestellt hat:
ein braunes, sackartiges Kleid mit Gürtel, weißer Wimpel und Weihel, die den
Hals und oberen Teil der Brust bedecken und den Kopf umhüllen, darüber der
schwarze Schleier. Bei Raffael kommen minimale Verzierungen hinzu: golden
gemusterte Bordüren am Ärmel sowie ebenfalls goldene Ornamentstreifen am
Gürtel. In der Renaissance ist die Mutter Jesu öfter als Nonne dargestellt
worden – so in Botticellis Beweinung Christi aus der Münchner Pinakothek oder
auf der bereits erwähnten Kreuzabnahme von Filippino Lippi und Pietro
Perugino. Bekanntestes deutsches Beispiel ist Matthias Grünewalds Maria in der
Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars.
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Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1495); München, Alte Pinakothek |
Welchen Zweck erfüllt nun die Klarissenkleidung
der Maria in Raffaels Gemälde? Maria wird durch sie einerseits mit der
franziskanischen Frömmigkeit verknüpft und auf diese Weise auch mit dem
Bestimmungsort des Bildes in San Francesco al Prato. Jörg Traeger geht außerdem
davon aus, dass die Nonnentracht der Mutter Jesu Atalante Baglioni an das
mönchsartige Gewand erinnerte, dass sie bei der Beweinung ihres getöteten Sohnes
Grifone getragen hatte (Traeger 1997, S. 145).
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Andrea Mantegna: Grabtragung Christi (um 1480); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
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Michelangelo: Tondo Doni (um 1506); Florenz; Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Pala Baglioni lässt erkennen, dass sich Raffael mit einer Vielzahl
von Kunstwerken auseinandergesetzt hat. So findet sich die zweigeteilte
Komposition bereits in dem berühmten Kupferstich der Grabtragung Christi von
Andrea Mantegna (um 1480), in dem sowohl der linke Träger als auch das Motiv
der ohnmächtigen Maria vorkommen. Eine weitere Inspirationsquelle war
vermutlich ein antiker Sarkophag mit dem Begräbnis Meleagers, der sich heute im
Vatikan befindet. Und natürlich ist Michelangelo zu nennen, denn die muskulöse
Frau, die sich zu Maria umwendet und sie mit ausgestreckten Armen stützt,
zitiert die Marienfigur aus dessen Tondo Doni (siehe meinen Post „Nimm mir mal den Kurzen ab!“). Ohne Zweifel hatte Raffael die
Gelegenheit, dieses Bild in Agnolo Donis Haus eingehend zu studieren, als er
den begüterten Tuchhändler und seine Frau Maddalena porträtierte (siehe meinen Post „Geld heiratet Adel“). Der tote Christus entspricht bis in die Kräuselung der Barthaare und Haltung der Finger dem Christus der spektakulären Pietà-Skulpturengruppe, die Michelangelo 1498/99 in Rom für die Grabkapelle eines französischen Kardinals geschaffen hatte (siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“). Sie war ursprünglich – anders als heute – so tief aufgestellt gewesen, dass man von oben auf den schönen jugendlichen Christus-Körper herabblicken konnte.
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Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter |
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Michelangelo: Grablegung Christi (1500/1501); London, National Gallery
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Michelangelo: Matthäus (1505/06); Florenz, Galleria dell’Accademia
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Die Idee wiederum, dass die Träger den toten Christus rückwärts über Steinstufen zum Grab hinaufheben, hatte Michelangelo in seiner unvollendeten Grabtragung Christi von 1500/01 entwickelt. Auch an Michelangelos unvollendetem Matthäus (1505/06) hat sich Raffael erkennbar orientiert: Er hat die Skulptur nämlich gezeichnet – die dann seitenverkehrt im Joseph von Arimathäa wiederkehrt.
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Peter Cornelius: Grabtragung Christi (1819); Kopenhagen, Thorvaldsens Museum
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Der Düsseldorfer Maler Peter von Cornelius (1783–1867), einer der führenden Nazarener, hat sich in einem 1819 vollendeten Ölbild nochmals intensiv mit Raffaels Grabtragung Christi auseinandergesetzt. Die entscheidenden Handlungsmotive sind von dort übernommen und dennoch erkennbar abgewandelt: Die Ohnmacht Mariens wird stärker betont, und in der Christusgruppe fehlt jede heftige Bewegung; bei der Darstellung des Leichnams vermeidet der Maler Realismus – sind bei Raffael alle fünf blutenden Wundmale deutlich sichtbar, muss man bei Cornelius schon genau hinsehen, um zwei von ihnen wahrzunehmen, zumal kein einziger Blutstropfen auf sie hinweist. Während bei Raffael nicht nur in den Gesichtern, sondern auch im Auseinanderfahren der Hauptgruppe tiefster Schmerz zum Ausdruck kommt, herrscht bei Cornelius die feierliche Stimmung stillen Leidens. „Das Bewegte und Bewegende des Meisterwerks von Raffael wird von dem Nazarener in eine
›klassische‹
Sprache transponiert, in der Emotionalität Maß bewahren muß“ (Büttner 1991, S. 252).
Literaturhinweise
Buck, Stephanie/Hohenstatt, Peter: Raffaello Santi, genannt Raffael. 1483–1520. Könemann
Verlagsgesellschaft, Köln 1998, S. 32-40;
Büttner, Frank:
Subjektives Gefühl, künstlerisches Ideal und christliche Wahrheit. Das
religiöse Bild im frühen Werk von Peter Cornelius. In:
Wallraf-Richartz-Jahrbuch LII (1991), S. 237-261;
Forcellino, Antonio:
Raffael. Biographie. Siedler Verlag, München 2006, S. 113-122;
Meyer zur
Capellen, Jürg: Raffael in Florenz. Hirmer Verlag, München 1996, S. 214-216;
Oberhuber, Konrad:
Raffael. Das malerische Werk. Prestel Verlag, München 1999, S. 60-69;
Pfisterer, Ulrich: Raffael. Glaube
·
Liebe
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Ruhm. Verlag C.H. Beck, München 2019, S. 69-85;
Rohlmann, Michael: Die Kunst des Zitats. Zu inhaltlicher Motivation und Bedeutung entlehnter Motive bei Raffael. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch LXXXII (2021), S. 71-131;
Traeger, Jörg:
Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. Verlag
C.H. Beck, München 1997, S. 132-154.
(zuletzt bearbeitet am 5. September 2025)