Donnerstag, 26. April 2012

Michelangelos schwankender Bacchus

Michelangelo: Bacchus (1496/97);
Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Michelangelos Bacchus, den der junge Künstler 1496/97 in Rom für den Kardinal Raffaele Riario schuf, könnte man durchaus als „Fälschung“ bezeichnen. Auf jeden Fall handelt es sich um eine sehr ungewöhnliche Skulptur: Erstmals in der Geschichte der neuzeitlichen Kunst schuf ein noch nicht etablierter Bildhauer (Michelangelo war damals 22 Jahre alt!) eine allansichtige, etwas überlebensgroße und damit für damalige Verhältnisse monumentale Marmorfigur mit einem antiken Thema. Ihre Allansichtigkeit, übrigens einmalig in Michelangelos Œuvre, ist darauf zurückzuführen, dass die Skulptur für eine Antikensammlung unter freiem Himmel bestimmt war, wo sie von allen Seiten betrachtet werden konnte.
Geht schon in Ordnung, dass ein Bacchus seine Standfestigkeit einbüßt
Weinreben, Weinlaub und Efeu schmücken als pflanzliche Attribute den Kopf des Weingottes, und eine Trinkschale in seiner rechten Hand spielt auf den berauschenden Trank an, der aus den Trauben gewonnen wird. Ein bocksfüßiger Satyr, der an einer Weinrebe nascht, stützt die große, gebogene Figur des Bacchus – ein Kunstgriff, der bereits von dem Marmorbildhauern der Antike angewendet wurde. Auch das Raubtierfell in seiner linken Hand gehört zu den Attributen des Bacchus. 
Deutlich erkennbar: das Raubtierfell in der linken Hand des Bacchus
Michelangelos Absicht war es, die Skulptur wie eine echte antike Statue wirken zu lassen. So verweist z. B. das abgeschlagene Glied des Gottes auf das vermeintlich ehrwürdige Alter der Figur, ebenso die Tatsache, dass ursprünglich die rechte Hand und die Trinkschale fehlten – Defekte, wie sie bei ausgegrabenen antiken Skulpturen anzutreffen waren. 
In diesem Skulpturengarten war Michelangelos Bacchus ursprünglich aufgestellt

Dass der Bacchus tatsächlich in einem Skulpturen-Garten aufgestellt wurde, zeigt eine Zeichnung des niederländischen Künstlers Maarten van Heemskerck (1498–1574), der sich von 1532 bis 1535 in Rom aufhielt. Diese Zeichnung zeigt Michelangelos Skulptur ohne die rechte Hand mit der Trinkschale, also den Originalzustand. Sie ist später angefertigt worden, wahrscheinlich von einem Restaurator, der nicht über die Qualitäten Michelangelos verfügte. Die Arbeit des Restaurators ist an zwei Rissen erkennbar, von denen einer genau durch das Handgelenk, der andere durch Daumen und Zeigefinger verläuft. Heute befindet sich der Bacchus im Museo Nazionale del Bargello in Florenz.
Bacchus (Dionysos Richelieu), röm. Marmorkopie
nach einem um 300 v.Chr. entstandenen Original;
Paris, Louvre
Kennzeichen einer antiken Skulptur ist ein solider Kontrapost, d. h. die sorgfältige Balance einer Figur mit Stand- und Spielbein. Michelangelos Bacchus hat seine Standfestigkeit allerdings eingebüßt: Seine Trunkenheit und sein unsicherer Gang kommen sowohl in der instabilen Stellung der Beine als auch im Neigungswinkel von Oberkörper und Kopf zum Ausdruck. Der Weingott taumelt regelrecht und sucht mühsam Halt in sich selbst.
Michelangelos Bacchus tritt in direkte Konkurrenz mit vergleichbaren Werken antiker Bildhauer wie Praxiteles oder Lysipp. Aber er ahmt das antike Kunstideal nicht nur nach – er ironisiert es auch. Michelangelos Bacchus ist ohne Beispiel: In den allermeisten antiken Darstellungen des Weingotts fehlen Hinweise auf Trunkenheit oder Ausschweifung; Bacchus wird durch die oben genannten Attribute erkennbar. An Michelangelos Skulptur dagegen können wir durch die schwankende Pose sehr realistisch die Auswirkungen des reichlich genossenen Weins ablesen. Volker Herzner geht sogar so weit, die Statue als „Lasterallegorie“ zu bezeichnen, die vor den schädlichen Folgen exzessiven Weinkonsums warnen soll. Dem mag ich mich nicht anschließen dafür ist der Anblick des torkelnden Bacchus meiner Ansicht nach einfach zu vergnüglich.
Kardinal Riario hatte 1496 einen von Michelangelo in Florenz geschaffenen, heute verschollenen schlafenden Cupido als vermeintlich antike Skulptur gekauft – die Täuchung jedoch bald bemerkt. Das löste bei dem einflussreichen Würdenträger jedoch keine Empörung, sondern wohl eher Bewunderung aus, sonst hätte er den Bildhauer nicht nach Rom gerufen und mit dem Bacchus beauftragt. Für den Kunstliebhaber der  Renaissance war eine scheinbar „originalantike“ Plastik keineswegs Betrug, Imitation kein kaltes, uninspiriertes Geschäft, sondern sehr wohl mit schöpferischem Geist vereinbar. Bildhauern des Altertums nachzueifern wurde begrüßt und goutiert. Wenn es einem Künstler gelang, antike Meister täuschend ähnlich nachzuahmen, so konnte er sich mit ihnen messen.
Es stellt sich die Frage: Wie war es für Michelangelo möglich, fast gleichzeitig eine unverhohlen heidnische Götterfigur wie den Bacchus und die Pietà von St. Peter zu schaffen? Wie konnte er pagane antike Vorbilder imitieren und zugleich fromm sein (was Michelangelo ohne Zweifel war)? Eine Antwort darauf versucht Edgar Wind in seinem Buch Heidnische Mysterien in der Renaissance; speziell das Kapitel XII („Ein bacchisches Mysterium Michelangelos) geht auf den Bacchus ein.


Literaturhinweise
Barolsky, Paul: The Strange Case of the Young Michelangelo. In: Arion 21 (2013), S. 103-112;
Freedman, Luba: Michelangelo’s Reflections on Bacchus. In: artibus et historiae 24, No. 47 (2003), S. 121-135;
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015, S. 304-313; 
Hirst, Michelangelo: Michelangelo in Rome: an Altar-Piece and the Bacchus. In: The Burlington Magazine 123 (1981), S. 581-593;
Keazor, Henry: Täuschend echt! Eine Geschichte der Kunstfälschung. Theiss Verlag, Darmstadt 2015. S. 94-105;
Lieberman, Ralph: Regarding MichelangeloBacchus. In: artibus et historiae 22 (2001), S. 65-74;
Myssok, Johannes: Monolith und weiß. Die Oberflächen von Michelangelos Skulpturen. In: Magdalena Bushart/Andreas Huth (Hrsg.), superficies. Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit. Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, S. 57-74;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 73-75; 
Wind, Edgar: Heidnische Mysterien in der Renaissance. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.

(zuletzt bearbeitet am 26. Mai 2024)


Als Stendhal-Syndrom bezeichnete die Florentiner Psychiaterin Graziella Magherini (1927–2023)1989 eine spezifische Auswirkung der Betrachtung von Kunst und insbesondere von Meisterwerken, nämlich der Überforderung und Überwältigung durch visuelle Reize, die zu einem physischen und psychischen Zusammenbruch führen können, wie es der französische Schriftsteller Stendhal (1783–1842) 1817 in seinem Reisebericht „Rome, Naples et Florence“ beschrieben hatte.

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