Samstag, 13. Juli 2024

Michelangelo Merisi da Caravaggio – der Quentin Tarantino der Barockmalerei

Caravaggio: David mit dem Haupt Goliaths (1609/10); Rom, Galleria Borghese
(für die Großansicht einfach anklicken)

Ein nachdenklicher junger Mann betrachtet sinnierend das bluttriefende Haupt, das er soeben vom Rumpf getrennt hat. Es handelt sich um den biblischen David, der Kopf ist der des riesenhaften Philister-Kriegers Goliath, den der junge Schafhirte mit einem gezielten Steinwurf töten konnte (1. Samuel 17). Einem Henker nach vollbrachter Hinrichtung gleich hält David den Kopf an den Haaren empor. Es ist jedoch kein Publikum anwesend – außer dem Betrachter des Bildes. Den Kopf ein wenig geneigt, den Blick gesenkt, lässt sich an Davis Gesichtszügen kein Triumphgefühl ablesen. „Dieser David scheint den Auftrag im Dienste seines Volkes ausgeführt zu haben, ohne den Sieg als eine persönliche Genugtuung zu empfinden“ (Held 2007, S. 173).
Der biblische Held steht als Dreiviertelfigur in leichter Schrägansicht vor einem vollständig dunklen Hintergrund. Oben links ist schemenhaft ein Vorhang angedeutet. David trägt eine ockerfarbene Hose und ein dünnes weißes Hemd, das den nackten Oberkörper nur zur Hälfte bedeckt. In der rechten Hand hält der Hirtenknabe das Schwert, mit dem er Goliath enthauptet hat – die Klinge blitzt hell im Licht auf. Die Waffe und der ausgestreckte linke Arm sind parallel ausgerichtet; Davids Körper scheint sich nach links zu bewegen, während sein Kopf in Gegenrichtung auf das abgetrennte Haupt herabblickt.
Das Gemälde entstand 1609 oder 1610 während des letzten Lebensjahres Caravaggios in Neapel. Die Faszination des Bildes rührt zu einem großen Teil aus der nachdrücklichen Präsenz des abgeschlagenen Hauptes. „Dem Betrachter entgegengestreckt, stellt diese makabre Kopftrophäe die Figur Davids geradezu in den Schatten“ (Lang 2001, S. 132). Der abgetrennte Kopf ist kein bloßes Attribut des jugendlichen Helden, sondern das ausdrucksstärkste Bildelement. Goliaths markantes Haupt nimmt die Protagonistenrolle vor David ein. Freilich ist der Kopf des Riesen Goliath größer als der seines Bezwingers. Doch nicht der Größenunterschied ist der Grund dafür, dass unsere Aufmerksamkeit vor allem dem Haupt des Philisters gilt. Die schockierende Präsenz des abgeschlagenen Kopfes rührt von den soeben brechenden, aber in diesem Moment noch lebenden Augen her, wobei das eine voll geöffnet, das andere halb geschlossen ist. Diese Asymmetrie gibt dem Gesicht einen entstellten Ausdruck. Die Stirnwunde dagegen ist ohne jeden Horroreffekt relativ zurückhaltend gestaltet. Zwar trieft das Blut in Strömen aus der dem Blick entzogenen Schnittfläche am Hals, aber über das Gesicht läuft es nicht. Die zusammengezogene Stirn und der schmerzlich geöffnete Mund sind Elemente, die auch an Caravaggios anderen abgeschlagenen Köpfen zu finden sind.

Caravaggio: David mit dem Haupt Goliaths (1605); Wien, Kunsthistorisches Museum

Caravaggio hatte das gleiche Motiv bereits 1605 dargestellt, allerdings in einem Querformat. David erscheint auch hier als ärmlich gekleideter, doch schöner Jüngling. Das seinen Oberkörper nur halb bedeckende Hemd erinnert an antike Kleidungsstücke; die Tasche, die er am Rücken trägt, weist ihn als Hirten aus, das Schwert Goliaths schultert er wie einen Hirtenstab. Die untersichtige Darstellung gibt zu verstehen, dass er zum Helden geworden ist. Mit Blick und Geste richten sich an eine für uns nicht sichtbare Person: Ist es König Saul selbst, dem er den Kopf des getöteten Feindes präsentiert? Wie das spätere Gemälde lebt das Bild vom Kontrast zwischen der Schönheit des Jünglings und der grausigen Siegestrophäe, aus der noch Blut fließt und die beinahe aus dem Bild zu ragen scheint.

Caravaggio: David mit dem Haupt des Goliath (1598/99); Madrid, Prado

Und es gibt von Caravaggio noch eine weitere Fassung des Themas, die sich heute im Prado befindet und um 1598/99 entstanden sein dürfte. Die ursprüngliche Leinwand wurde allerdings an beiden Seiten beschnitten. Im Unterschied zu den späteren Fassungen in Wien und Rom hat Caravaggio hier, trotz des grausigen Bildmotivs, einen Moment relativer Ruhe dargestellt. David hat sein linkes Knie auf den mächtigen Rumpf Goliaths gesetzt und beugt sich über das bereits abgeschlagene Haupt, um die Haare des Philisters zusammenzubinden – an dieser Schnur wird er den Kopf dann davontragen. Der Betrachter blickt auf die Schulterpartie des bildeinwärts gelagerten, sich im Dunkel verlierenden Riesen, dessen im Tod erstarrte Hand am linken Bildrand hervorragt. Sein bärtiger Kopf ist uns in Gegenrichtung, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, zugewandt. Deutlich ist die tödliche Stirnwunde erkennbar. 

Nach einer Restaurierung im Jahr 2023 ist nun wieder ein Bein Goliaths sichtbar, das sich hinter David zum oberen Leinwandabschluss erhebt, ebenso konnte der zur geballten Faust gehörige Arm wiederhergestellt werden. In vorderster Bildebene liegen, um auf den Hergang des Geschehens zu verweisen, einige Steine und das gewaltige Schwert Goliaths. Die bedächtige Ruhe, mit der David vorgeht, wirkt fast so, als sei ihm die ganze Tragweite und Bedeutung seiner heroischen Tat noch nicht bewusst.

Zurück zu dem Gemälde aus der Galleria Borghese: Der Schrecken, den die Miene des enthaupteten Goliaths einflößt, „beruht nicht zuletzt auf der Porträthaftigkeit des prägnanten Gesichts“ (Lang 2001, S. 133). Schon im 17. Jahrhundert hat man in diesem Kopf ein Selbstbildnis Caravaggios gesehen. Vergleiche mit Porträts und anderen Selbstdarstellungen des Künstlers bestätigen diese Überlieferung.

Ottavio Leoni: Porträt Caravaggios (um 1621)
Diese Form der Selbstdarstellung kann sich auf ein großes Vorbild berufen: Michelangelo hat in seinem Jüngsten Gericht an der Stirnwand der Sixtinischen Kapelle die abgezogene Haut des Märtyrers Bartholomäus mit seinem eigenen Gesicht versehen. Auch der Kopf des Johannes auf Tizians Bild der Salome (ca. 1515) wurde als Selbstporträt des Künstlers betrachtet. Sich in der Opferrolle selbst darzustellen scheint also zur Zeit Caravaggios nicht mehr neu gewesen zu sein. Aber Tizians Kopf des Johannes bietet keine aufdringliche Frontalansicht, und außerdem handelt es sich sowohl bei Bartholomäus wie auch bei dem Täufer um religiöse Identifikationsfiguren. Caravaggio dagegen verleiht seine Züge einem Feindbild. Andererseits vermutet man auch in dem abgeschlagenen Haupt des Holofernes an der Decke der Sixtina ein Kryptoporträt Michelangelos. David M. Stone geht davon aus, dass sich Caravaggio mit seinem Sixtina-Zitat vor allem als Michelangelo moderno inszenieren will: „What better way to construct his artistic identity, taunt critics who accused him of being a mere ape of nature, or intimidate rival artists than strike this arrogant pose as a new Michelangelo?“ (Stone 2006, S. 43).
Die abgezogene Haut des Märtyrers Bartholomäus
 trägt die Gesichtszüge Michelangelos
Auch im abgeschlagenen Haupt des Holofernes in der Judith-Episode wird ein Kryptoporträt Michelangelos vermutet
Tizian: Salome mit dem Haupt des Täufers (um 1515); Rom, Galleria Doria Pamphilij
Caravaggios Identifizierung mit der Negativgestalt des Goliath hat zu den unterschiedlichsten Interpretationen herausgefordert. Seine Neigung zur Gewalttätigkeit ist durch Dokumente belegt; 1606 war er wegen eines Totschlags aus Rom geflohen. Herwarth Röttgen geht in seiner Deutung unter Bezug auf Sigmund Freud von einem unbewussten Strafbedürfnis Caravaggios aus, in dem sich ein Schuldgefühl manifestiere (Röttgen 1974, S. 210). Walther K. Lang sieht das entleibte Haupt wiederum in erster Linie als Concetto, als kalkulierten Überraschungseffekt, der uns in Staunen versetzen soll: „Noch in der demonstrativen Selbstenthauptung liegt die Absicht, den Betrachter zu fesseln, ihn durch den eigenen Medusenblick zu versteinern, sprich: zu beherrschen“ (Lang 2001, S. 136). Sybille Ebert-Schifferer ist der Ansicht, Caravaggio habe das Bild dem mächtigen Papstneffen Scipione Borghese zugedacht (in dessen Besitz das Bild 1613 erstmals erwähnt wird), um seine Begnadigung zu befördern, komme es doch auf den ersten Blick einer schockierenden Selbsterniedrigung gleich. Mit einem geistreichen Einfall „vollzieht Caravaggio seine Hinrichtung stellvertretend im Kunstwerk und bringt sich mit der Bitte um nachdenkliche Milde selbst dar“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 211).
Guido Reni: David mit dem Haupt Goliaths (1605/06); Paris, Louvre
Benvenuto Cellini: Perseus (1545-1554); Florenz; Piazza della Signoria
In großer zeitlicher Nähe zu Caravaggios David-Versionen in Wien und Rom hat der Bologneser Maler Guido Reni (1575–1642) ebenfalls einen David mit dem Haupt Goliaths geschaffen. Von 1600 bis 1614 hielt sich Reni vorrangig in Rom auf; sein David, der sich heute im Louvre befindet, wird auf 1605/06 datiert, und bis heute ist unklar, wer von den beiden Künstlern das Gemälde des anderen als Anregung für seine Komposition genutzt hat.
Caravaggios römischer David erinnert darüber hinaus an eine der berühmtesten Renaissance-Statuen überhaupt: nämlich an Benvenuto Cellinis Perseus in Florenz (siehe meinen Post Cellinis Medusentöter“). Mit einer ähnlichen Geste wie Caravaggios David präsentiert uns der bronzene Perseus den abgeschlagenen Kopf der Medusa.
Valentin de Boulogne: David mit dem Haupt Goliaths (um 1615/16); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Auch Valentin de Boulogne (1591–1632), einer der wichtigsten französischen Caravaggisten, der um 1613 nach Rom übersiedelte, hat das Motiv des abgetrennten Goliath-Hauptes aufgegriffen. Der Maler zeigt David, flankiert von zwei Soldaten in zeitgenössischer Bekleidung, frontal dem Betrachter gegenüber und nah an den Bildvordergrund gerückt. Der Jüngling wirkt nachdenklich, der Blick ist nach innen gerichtet, weder Mimik noch Gestik lassen Triumphgefühle erkennen. Beinahe zärtlich stützt er mit seiner Rechten das kolossale Haupt Goliaths; statt der üblichen Kopfwunde verweist das aus Hals und Nase tropfende Blut auf die vollbrachte Tat. 
Tanzio da Varallo: David mit dem Haupt Goliaths (1616);
Varallo, Palazzo dei Musei
Tanzio da Varallo: David mit dem Haupt Goliaths (um 1620);
Varallo, Palazzo dei Musei
Von Tanzio da Varallo (1575–1633) kennen wir zwei Gemälde mit abgetrennten Goliath-Köpfen, die ohne Zweifel von Caravaggio angeregt sind: Das erste, 1616 entstanden, ist als Hochformat und dem nach rechts geneigten Haupt Davids dem Vorbild aus der Galleria Borghese recht nahe; bemerkenswert sind besonders der übergroße Schädel des Riesen und der verstört wirkende Gesichtsausdruck des Hirtenjungen. Das zweite, spätere Gemälde zeigt David als muskulösen Helden, der im Begriff ist, das soeben vom Körper abgetrennte Haupt hochzuheben. Der
überlängte, diagonal durch das Bild geführte linke Arm dominiert mit seiner angespannten Muskulatur die Komposition und bildet mit dem Schwert in seiner rechten Hand eine Kreuzform – wobei die phallische Anmutung des Schwertes noch durch das Paar Steine verstärkt wird, die in einem Netz an Davids Hüfte hängen.
Jusepe de Ribera: David mit dem Haupt Goliaths (um 1620); Privatbesitz
Simon Vouet: David mit dem Haupt Goliaths (um 1621); Genua Palazzo Bianco
Dass Darstellungen Davids als Einzelfigur mit dem Haupt Goliaths bei den Caravaggisten außergewöhnlich beliebt waren, belegen beispielhaft zwei Gemälde von Simon Vouet (1590–1649) und Jusepe de Ribera (1591–1652), die beide um 1615/16 in Rom arbeiteten. Ihre David und Goliath-Bilder sind eng mit Caravaggios Komposition verwandt: Es handelt sich ebenfalls um Kniestücke in Hochformat, und auch bei ihnen hält David das große Schwert in der rechten und das riesige Haupt in der linken Hand. Während jedoch Caravaggios David den Kopf Goliaths hoch und von sich weg hält und ihn dabei anschaut, berührt das Haupt bei Vouet und Ribera den Körper des jungen David und ruht dabei auf einer nicht näher bestimmten Unterlage. David blickt bei ihnen aus dem Bild, ohne dass der Betrachter einen Hinweis erhält, wem oder was dieser Blick gilt.

Literaturhinweise
Bull, Duncan: Tanzio da Varallo, David mit dem Haupt Goliaths. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 113;
Cassani, Silvia/Sapio, Maria (Hrsg.): Caravaggio. The Final Years. Electa Napoli, Neapel 2005, S. 137-138;
Ebert, Bernd/Helmus, Liesbeth M. (Hrsg.), Utrecht, Caravaggio und Europa. Hirmer Verlag, München 2018, S. 220-231;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Lang, Walther K.: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei von Caravaggio bis Giordano. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001;
Özel, Çiğdem:Valentin de Boulogne; David mit dem Haupt Goliaths. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 111;
Pepper, D. Stephen: Guido Reni’s Davids: The Triumph of Illumination. In: artibus & historiae 25 (1992), S. 129-144;
Pichler, Wolfram: Michelangelo Merisi da Caravaggio, David mit dem Haupt Goliaths. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 107;
Röttgen, Herwarth: Il Caravaggio. Ricerche e Interpretazioni. Rom 1974;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 76 und 283-284;
Stone, David M.: Self and Myth in Caravaggio’s David and Goliath. In: Genevieve Warwick (Hrsg.), Caravaggio. Realism, Rebellion, Reception. University of Delaware Press, Newark 2006, S. 36-46.

(zuletzt bearbeitet am 22. Juli 2024)

1 Kommentar:

  1. Ich bin per Zufall auf Ihren Blog gestoßen. Gerade als Kunstinteressierter (ohne Kunststudium) gibt es hier viel zu entdecken und viel zu lernen. Vielen Dank für Ihre Arbeit. Grüße aus Ulm

    AntwortenLöschen