Donnerstag, 11. April 2013

Meine Augen werden ihn schauen – Michelangelos Selbstporträt in seinem „Jüngsten Gericht“


Michelangelo: Bartholomäus, Ausschnitt aus dem Jüngsten Gericht;
Rom, Sixtinische Kapelle
Michelangelos Jüngstes Gericht (1536-1541) an der Altarwand der Sixtinischen Kapelle wird dominiert von Christus als Weltenrichter. Er ist mit Maria an seiner Seite fast genau in der Mitte des oberen Drittels dargestellt. Der Gottessohn bildet das Zentrum der himmlischen Zone mit zahlreichen Heiligen und Märtyrern. Da Michelangelo aber bei den meisten Figuren auf Attribute verzichtet hat, lässt sich das Bildpersonal nur in Einzelfällen überzeugend identifizieren. Abgesehen von Christus und Maria sind vor allem die zu seinen Füßen sitzenden Märtyrer Laurentius und Bartholomäus zweifelsfrei zu erkennen: Als Hinweis auf sein Martyrium trägt der eine den Rost bei sich, auf dem er der Legende nach hingerichtet wurde; der andere umklammert mit der rechten Hand des Messer, mit dem man ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen hatte, die er wiederum mit seiner Linken festhält.
Michelangelo: Bartholomäus und Petrus (für die Großansicht einfach anklicken)
Petrus, vom Betrachter aus rechts neben Christus platziert, hält mit zwei Schlüsseln ebenfalls eindeutige Atttribute in seinen Händen. Links neben Christus sind die gewaltige Aktfigur Johannes des Täufers durch ihr Fellgewand und der Apostel Andreas durch sein Kreuz kenntlich gemacht. Ebenfalls eindeutige Attribute haben die Märtyrer der rechten Seite: die hl. Katharina ein Rad, der hl. Simon eine Säge, der hl. Blasius zwei Wollkämme und der hl. Sebastian mehrere Pfeile. Ein großer männlicher Akt am rechten Bildrand gilt als Simon von Kyrene, der das Kreuz Christi auf dem Weg nach Golgatha trug (Matthäus 37,31-32), die kleinere Gestalt zwischen den Heiligen Blasius und Simon als Dismas, einer der beiden Schächer, die mit Christus auf Golgatha hingerichtet wurden.
Michelangelo: Jüngstes Gericht (1536-1541); Rom, Sixtinische Kapelle
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Bartholomäus ist die Gestalt des Freskos, die Michelangelo am weitesten nach vorne geschoben hat; sein Knie markiert zusammen mit der Wolke zwischen seinen Beinen die vorderste Zone des Wandgemäldes, die leere menschliche Haut in seiner Linken wiederum bildet den allervordersten Punkt der riesenhaften Malfläche. Warum erhält Bartholomäus eine so herausgehobene Position in Michelangelos Jüngstem Gericht? Die Antwort sehen Kunsthistoriker in der abgezogenen Haut des Heiligen. Denn bei genauerem Hinsehen erkennt der Betrachter: Das Gesicht auf der Haut ist nicht das Gesicht des Apostels. Durch das üppige Haupthaar und die andersartigen Gesichtszüge ist es von der Physiognomie des Bartholomäus, den Michelangelo kahlköpfig und mit einem langen grauen Bart zeigt, deutlich abgesetzt. Der damals 60-jährige Künstler hat nämlich die leere Haut in der Hand des Apostels mit seinem eigenen Antlitz versehen. Sie ist sozusagen seine Signatur auf dem gewaltigen Wandbild.
Michelangelo spielt, so Rudolf Preimesberger, mit der Figur des Bartholomäus auf bekannte Verse aus dem Buch Hiob an: „Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust“ (Hiob 19,25-27; LUT). In der Vulgata, der damals verbindlichen lateinischen Bibelübertragung des Hieronymus, lautet Vers 26 sogar: „Ich werde wieder mit meiner Haut umgeben, und in meinem Fleisch werde ich meinen Gott schauen“. Dass der geschundene Bartholomäus problemlos mit dieser Hiobrede verknüpft werden konnte, leuchtet unmittelbar ein. Michelangelo verbindet auf diese Weise sein Krypto-Porträt mit der christlichen Auferstehungshoffnung und macht sie zu seiner ganz persönlichen Heilserwartung: Wiedergeburt zu ewigem Leben und radikale Erneuerung am Tag des Jüngsten Gerichts. Die Bartholomäus-Haut „ist eine halb verborgen gemalte individuelle Eschatologie im Bild der universalen Eschatologie“, in der Michelangelo seine Hoffnung verschlüsselt, so wie Bartholomäus „an der allgemeinen Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tag mit der Auferstehung des eigenen Fleisches teilzuhaben“ (Preimesberger 2005, S. 52).
Hiobs Rede endet mit einer an seine Freunde gerichteten Warnung: „(...) so fürchtet euch selbst vor dem Schwert; denn das sind Missetaten, die das Schwert straft, damit ihr wisst, dass es ein Gericht gibt“ (Hiob 19,29; LUT). Auch diese Wendung lässt sich ohne Weiteres auf Bartholomäus beziehen. Denn wie ein Schwert und wie zum Gericht hebt der Märtyrer das Messer empor, mit dem er geschunden wurde, sodass es sogar das linke Bein des richtenden Christus zu berühren scheint. Das Messer des Bartholomäus hat aber noch eine weitere Bedeutungsebene: Er hält es Christus entgegen und erinnert ihn damit an sein „Verdienst“ als Märtyrer. Indem sich Michelangelo nun Bartholomäus „mit Haut und Haar in die Hand gibt“, macht er ihn zu seinem Patron und Fürsprecher, der beim Jüngsten Gericht für ihn eintreten soll. „Es geht um gemalte Interzession“ (Preimesberger 2006, S. 116).
Torso vom Belvedere; Rom, Vatikan
Seitenverkehrt wiedergegeben, ist die Gestalt des Bartholomäus unverkennbar dem antiken Torso vom Belvedere nachempfunden (siehe meinen Post Ruhm und Rätsel), den Michelangelo wohl sehr bewunderte: So sind z. B. seine Ignudi an der Sixtinischen Decke ohne den berühmten Marmorrumpf aus dem Vatikan nicht denkbar. „Was den Torso vom Belvedere zum geeigneten Vorbild für den in seiner Integrität wiederhergestellten und verklärten Auferstehungsleib des Bartholomäus machte, ist zum einen wohl seine vollendete leibliche Schönheit, die die Nattur übertreffende perfezione seines Körpers (...) Ein zweiter Grund für Michelangelos ,electio‘: die Verletztheit des Torso. Er teilt sie mit Bartholomäus“ (Preimesberger 2006, S. 106/107).
Caravaggio: Amor als Sieger (1601/02); Berlin, Gemäldegalerie
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Ein anderer Michelangelo, nämlich Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610), hat sich dann zu Beginn des 17. Jahrhunderts die komplizierte Haltung des Bartholomäus zum Vorbild genommen – und den reifen kahlköpfigen Heiligen mit Vollbart in sein genaues Gegenteil verwandelt: einen indezent nackten Knaben, nämlich den Irdischen Amor aus der Berliner Gemäldegalerie (auch Amor als Sieger genannt). Caravaggio übernimmt dabei die Grundzüge der Gestalt fast wörtlich: die reitende Pose mit gespreizten Schenkeln, die Torsion des Körpers, die Geste des rechten Arms mit der erhobene Waffe. Der Barockmaler ahmt aber den großen gleichnamigen Renaissancekünstler nicht nur nach, sondern geht auch über ihn hinaus, indem er das „laszive Potential der Körperpose“ (Preimesberger 2003, S. 255) verschärft. Der Apostel und Märtyrer auf den Wolken des Jüngsten Gerichts wird von Caravaggio transformiert „in eine Verkörperung des amor profano, der die Notationen und Konnotationen physischer Liebe überdeutlich beigemengt sind“ (Preimesberger 2003, S. 252).
Ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Figuren scheint die Nacktheit des Knaben zu sein, denn Bartholomäus’ Scham ist von einem Tuch bedeckt. Aber Michelangelos Heiliger war ursprünglich ebenfalls völlig nackt und deswegen für viele zeitgenössische Betrachter eine Provokation (siehe meinen Post „Ganz nackt, ganz Mann“). Das bedeckte Geschlecht des Bartholomäus ist das Ergebnis der berühmten dutzendfachen Übermalungen von Daniele da Volterra, die das Konzil von Trient in seiner Sitzung am 11. Februar 1564 beschlossen hatte – eine Woche vor dem Tod Michelangelos am 18. Februar. Caravaggio wusste um die Übermalungen, und er hatte sicherlich auch eine Vorstellung vom Originalzustand des Freskos, da eine große Zahl von Kopien die Gestalten in ihrer irritierenden Nacktheit wiedergab.

Literaturhinweise
Barnes, Bernadine: Skin, Bones, and Dust: Self-Portrait in Michelangelo’s Last Judgment. In: The Sixteenth Century Journal 35 (2004), S. 969-986;  
Gregory, Sharon: Michelangelo, St Bartholomew, and northern Italy. In: Renaissance Studies 32 (2018), S. 778-805;
Hartt, Frederick: Michelangelo in Heaven. In: artibus & historiae 26 (1991), S. 191-209; 
Marotzki, Miriam Sarah: Das Selbstporträt bei Leonardo da Vinci und Michelangelo Buonarroti. Oder: Der »horror vacui« der Kunsthistoriografie. In: Uwe Fleckner und Titia Hensel (Hrsg.), Hermeneutik des Gesichts. Das Bildnis im Blick aktueller Forschung. Walter De Gruyter, Berlin/Boston 2016, S. 349-372;
Mösenender, Karl: Michelangelos „Jüngstes Gericht“. Über die Schwierigkeit des Disegno und die Freiheit der Kunst. In: Karl Mösenender (Hg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 95-118;
Preimesberger, Rudolf: Michelangelo da Caravaggio – Caravaggio da Michelangelo. Zum „Amor“ der Berliner Gemäldegalerie. In: Valeska von Rosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger (Hrsg.), Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2003, S. 243-260;
Preimesberger, Rudolf: Michelangelo Buonarrroti, Ausschnitt aus dem Jüngsten Gericht, 1534-41. In: Ulrich Pfisterer /Valeska von Rosen (Hrsg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Philipp Reclam, Stuttgart 2005, S. 52;
Preimesberger, Rudolf: „Und in meinem Fleisch werde ich meinen Gott schauen“. Biblische Regenerationsgedanken in Michelangelos „Bartholomäus“ der Cappella Sistina (Hiob). In:
Steffen Martus/Andrea Polaschegg (Hrsg.), Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Peter Lang AG, Bern 2006, S. 101-117;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 26. August 2024)

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