Michelangelo: Madonna mit Kind (um 1504/05); Brügge, Liebfrauenkirche |
Im April 1503 zum
Beispiel, also noch während der Arbeiten am Marmor-David, schloss er mit der Wollhändlerzunft und der Bauhütte an
Santa Maria del Fiore einen Vertrag ab über zwölf überlebensgroße Apostelfiguren.
Ungefähr zur selben Zeit verpflichtete sich der Künstler, für den großen
Ratssaal des Palazzo della Signoria ein monumentales Wandgelmälde mit der Schlacht von Cascina zu schaffen, an dem
er bis zum März 1505 arbeitete – dann rief ihn Papst Julius II. nach Rom. Im
Zeitraum von vier Jahren hatte Michelangelo Aufträge für 37 Einzelwerke
übernommen, darunter 31 Skulpturen oder Reliefs in Marmor, von denen wiederum 13
über zwei Meter groß sein sollten. Hinzu kam der Auftrag für eine kleinere
Bronzefigur, obwohl er keinerlei Erfahrungen im Bronzeguss hatte. Eine Malerei
in vergleichbarer Größe wie die Cascina-Schlacht
konnte er bis dahin ebenfalls nicht vorweisen.
Michelangelo: Tondo Doni (1503/04); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken) |
Von den genannten 37
Werken stellte Michelangelo lediglich den David,
die Brügger Madonna, den verschollenen
Bronze-David und den Tondo Doni fertig. Die anderen Projekte
oder Einzelwerke blieben im Anfangsstadium stecken. Von den zwölf Aposteln nahm er lediglich den Matthäus in Angriff, von
15 Figuren für einen Altar im Dom von Siena vollendete er nur vier. Für das
Wandbild schuf Michelangelo lediglich den Entwurfskarton, und die beiden
Marmorreliefs, genannt Tondo Taddei
und Tondo Pitti, wurden auch nicht vollständig
ausgeführt. „Bereits hier zeichnet sich die Neigung Michelangelos ab, mehr
Aufträge zu übernehmen, als er in einem überschaubaren Zeitraum hätte vollenden
können“ (Zöllner 2009, S. 50/51).
Die Brügger Madonna, der ich mich jetzt
zuwenden will, war gegen Ende des Jahres 1503 von dem flandrischen Tuchhändler
Jean-Alexandre Mouscron bestellt worden, und zwar für seine Familienkapelle in
der Brügger Liebfrauenkirche. Im August 1505 wurde die Madonna für den
Transport verpackt und nach Brügge verschifft, wo sie auch wohlbehalten ankam.
Dort ziert sie bis heute die von der Familie Mouscron gestiftete Kapelle. Die
erste Nachricht über ihre Aufstellung in Brügge stammt übrigens von Albrecht
Dürer, der sie im Tagebuch seiner niederländischen Reise am 21. April 1521 ausdrücklich
als Werk Michelangelos erwähnt. Die Brügger Madonna zählte zu Michelangelos Zeit zu seinen weniger bekannten Werken. Sein Biograf Ascanio Condivi, der die Skulptur nie gesehen hatte, behauptete 1553 in seiner Vita di Michelagnolo Buonarroti, sie sei aus Bronze; ein Irrtum den Giorgio Vasari in seiner Lebensbeschreibung Michelangelos von 1568 übernahm.
Maria, völlig in sich selbst versunken |
Gefasster Schmerz: Michelangelos Gottesmutter aus St. Peter |
Michelangelo orientiert sich mit seiner Madonna, so Franz-Joachim Verspohl, an Donatellos kurz vor 1450 für den Hochaltar von San Antonio in Padua geschaffener Muttergottes, mildert aber deren feierlich-ernste Haltung. Das Kind ist eng zwischen Marias Beine gestellt, umgeben vom reichen Faltenwurf des Stoffs; mit seiner rechten Hand fasst es die linke der Mutter, mit der linken Hand stützt es sich seitlich an ihrem Knie ab. Irving Lavin wiederum verweist auf ein anderes Werk von Donatello als Anregung für die Brügger Madonna, und zwar auf die aus Holz gearbeitete Madonna della Mela (um 1420/22 entstanden).
Donatello: Thronende Muttergottes mit Kind (um 1450); Padua, Sant’ Antonio (für die Großansicht einfach anklicken) |
Donatello: Madonna della Mela (um 1420/22); Florenz, Museo Bardini |
Im Kontrast zu dem bewegten, labil stehenden Kind wirkt Maria besonders hoheitsvoll und streng, „ein unbewegliches Gegenstück“ (Wallace 1999, S. 68). Sie versucht nicht, ihren Sohn zurückzuhalten; Maria wirkt selbstvergessen und ganz in Gedanken versunken – weil sie Jesu Berufung erkennt. Denn auf ihrem rechten Bein hat die Gottesmutter das Alte Testament abgelegt; mit der Abwärtsbewegung ihres Kindes beginnen sich die dort aufgezeichneten und mit ihm verbundenen Leidens- und Heilsprophezeiungen zu erfüllen: Als Retter wird er am Kreuz sterben und damit die Sünden aller Menschen auf sich nehmen, um ihnen das ewige Leben zu ermöglichen.
Jesus beginnt seinen irdischen Weg |
Michelangelo: Medici-Madonna (1525/31); Florenz, San Lorenzo/Medici-Kapelle |
Raffael: La Belle Jardinière (1507); Paris, Louvre |
Literaturhinweise
Bredekamp, Horst: Michelangelo. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, S. 150-155 und 376-379;
Goffen, Rona: Mary’s Motherhood According to Leonardo and Michelangelo.
In: artibus et historiae 40 (1999), S. 35-69;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 80-81;
Schwedes, Kerstin: Historia in statua. Zur Eloquenz plastischer Bildwerke Michelangelos im Umfeld des Christus von Santa Maria sopra Minerva zu Rom. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 95-108;
Söding, Ulrich: Importierte Skulpturen. Transalpine Wechselbeziehungen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. In: Wolfgang Augustyn/Ulrich Söding (Hrsg.), Dialog – Transfer – Konflikt. Künstlerische Wechselbeziehungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Dietmar Klinger Vrlag, Passau 2014, S. 189-256;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Florenz zwischen 1501 und 1505. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, S. 93-99;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 80-81;
Schwedes, Kerstin: Historia in statua. Zur Eloquenz plastischer Bildwerke Michelangelos im Umfeld des Christus von Santa Maria sopra Minerva zu Rom. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 95-108;
Söding, Ulrich: Importierte Skulpturen. Transalpine Wechselbeziehungen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. In: Wolfgang Augustyn/Ulrich Söding (Hrsg.), Dialog – Transfer – Konflikt. Künstlerische Wechselbeziehungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Dietmar Klinger Vrlag, Passau 2014, S. 189-256;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Florenz zwischen 1501 und 1505. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, S. 93-99;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.
(zuletzt bearbeitet am 26. Oktober 2024)
(zuletzt bearbeitet am 26. Oktober 2024)
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