Sonntag, 15. Februar 2015

Zu Tode betrübt – Raffaels „Grabtragung Christi“

Raffael: Grabtragung Christi (1507); Rom, Galleria Borghese (für die Großansicht einfach anklicken)
In der Zeit um 1507 erhielt Raffael (1483–1520) in Perugia einen anspruchsvollen Auftrag. Es handelt sich um einen Altar, die sogenannte Pala Baglioni. Sie ist mit „RAPHAEL URBINAS M.D.VII“ signiert und war damals in San Francesco al Prato in Perugia aufgestellt. Die zentrale Tafel, auf der eine Grabtragung Christi dargestellt ist, hat der Kardinal Scipione Borghese im frühen 17. Jahrhundert rauben und in seine römische Villa bringen lassen. In der Kirche ist seitdem das Gemälde durch eine Kopie ersetzt. Die Pala Baglioni bestand ursprünglich aus einem etwa quadratischen Mittelfeld, einer Bekrönung mit der Figur des segnenden Gottvaters sowie drei Predellentafeln, auf denen in Grisaille Personifikationen der geistlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung abgebildet sind.
Man geht davon aus, dass Atalante Baglioni den Altar bei Raffael bestellte. Atalante war die Mutter des Grifonetto Baglioni, der im Sommer 1500, nachdem er rivalisierende Mitglieder der eigenen Familie ermordet hatte, selbst einem Anschlag zum Opfer fiel. Der gewaltsame Tod des Grifonetto, der in den Armen seiner Mutter starb, wird der Grund für die Auftragsvergabe gewesen sein.
Compassio drückt sich in der Conformitas aus
Über der Frauengruppe mit der ohnmächtig zusammensinkenden Maria sieht man in der Ferne die drei Kreuze auf Golgatha. Von dort haben die Männer den Leichnam Christi bis kurz vor die dunkle Öffnung des Felsengrabes links im Bild getragen – jetzt müssen sie ihn noch unter großer Kraftanstrengung über mehrere Felsstufen hinaufheben. Raffael hat die Personen in zwei Gruppen aufgeteilt – beide sind geprägt durch „compassio“: Dieses tiefe, Leib und Seele erfassende trauernde Mitleiden drückt sich darin aus, dass sich die Figuren formal der Gestalt Jesu angleichen. Das Motiv des zurückgesunkenen Hauptes kehrt wieder bei Nikodemus, dem Träger am Kopfende. Wie ein spiegelverkehrtes Echo wiederum wirkt das abgewendete Haupt des grauhaarigen Joseph von Arimathäa neben ihm. Der Jünger Johannes zwischen ihnen senkt das Haupt und ringt in seinem Schmerz die Hände. Die linke Hand Christi ruht leblos auf der lebendigen Linken von Maria Magdalena.
Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme (1435-1440); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
Am deutlichsten ist diese „conformitas“ an der Mutter Jesu abzulesen, die von mehreren Frauen aufgefangen werden muss: Der kraftlos herabhängende Arm und das bewusstlos auf die Schulter gesunkene Haupt entsprechen der Körperhaltung Christi. „Die Ohnmacht der Gottesmutter bildet den Tod des Sohnes ab“ (Traeger 1997, S. 141). Rogier van der Weyden war der Erste, der solch eine figürliche Angleichung dargestellt hat, und zwar in seiner Kreuzabnahme aus dem Prado in Madrid (siehe meinen Post „Die Schönheit der Trauer“). Durch diese Parallelisierung wird nicht nur Marias Mitleiden veranschaulicht, sondern auch ein wichtiger theologischer Gedanke der damaligen Zeit, nämlich ihre Mitwirkung bei der Erlösungstat. Dieser Bildgedanke findet sich auch bei der Kreuzabnahme aus der Galleria dell’ Accademia in Florenz: Von Filippino Lippi bei seinem Tod 1504 unvollendet hinterlassen, wurde sie bis 1507 von Pietro Perugino vollendet. Raffaels Compassio-Motiv hatte hier einen unmittelbaren Vorläufer bzw. eine nahezu zeitgleiche Entsprechung.
Filippino Lippi/Pietro Perugino: Kreuzabnahme (1507 vollendet); Florenz,
Galleria dell’ Accademia
Das Gewand der barfüßigen Maria gleicht der Tracht der Klarissen, wie sie Giotto in seinem Fresko der hl. Klara und ihrer Nonnen in der Oberkirche von San Francesco in Assisi dargestellt hat: ein braunes, sackartiges Kleid mit Gürtel, weißer Wimpel und Weihel, die den Hals und oberen Teil der Brust bedecken und den Kopf umhüllen, darüber der schwarze Schleier. Bei Raffael kommen minimale Verzierungen hinzu: golden gemusterte Bordüren am Ärmel sowie ebenfalls goldene Ornamentstreifen am Gürtel. In der Renaissance ist die Mutter Jesu öfter als Nonne dargestellt worden – so in Botticellis Beweinung Christi aus der Münchner Pinakothek oder auf der bereits erwähnten Kreuzabnahme von Filippino Lippi und Pietro Perugino. Bekanntestes deutsches Beispiel ist Matthias Grünewalds Maria in der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars. 
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1495); München, Alte Pinakothek
Welchen Zweck erfüllt nun die Klarissenkleidung der Maria in Raffaels Gemälde? Maria wird durch sie einerseits mit der franziskanischen Frömmigkeit verknüpft und auf diese Weise auch mit dem Bestimmungsort des Bildes in San Francesco al Prato. Jörg Traeger geht außerdem davon aus, dass die Nonnentracht der Mutter Jesu Atalante Baglioni an das mönchsartige Gewand erinnerte, dass sie bei der Beweinung ihres getöten Sohnes Grifone getragen hatte (Traeger 1997, S. 145).
Andrea Mantegna: Grabtragung Christi (um 1480); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Michelangelo: Tondo Doni (um 1506); Florenz; Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Pala Baglioni lässt erkennen, dass sich Raffael mit einer Vielzahl von Kunstwerken auseinandergesetzt hat. So findet sich die zweigeteilte Komposition bereits in dem berühmten Kupferstich der Grabtragung Christi von Andrea Mantegna (um 1480), in dem sowohl der linke Träger als auch das Motiv der ohnmächtigen Maria vorkommen. Eine weitere Inspirationsquelle war vermutlich ein antiker Sarkophag mit dem Begräbnis Meleagers, der sich heute im Vatikan befindet. Und natürlich ist Michelangelo zu nennen, denn die muskulöse Frau, die sich zu Maria umwendet und sie mit ausgestreckten Armen stützt, zitiert die Marienfigur aus dessen Tondo Doni (siehe meinen Post Nimm mir mal den Kurzen ab!“). Ohne Zweifel hatte Raffael die Gelegenheit, dieses Bild in Agnolo Donis Haus eingehend zu studieren, als er den begüterten Tuchhändler und seine Frau Maddalena porträtierte (siehe meinen Post „Geld heiratet Adel“). Der tote Christus entspricht bis in die Kräuselung der Barthaare und Haltung der Finger dem Christus der spektakulären Pietà-Skulpturengruppe, die Michelangelo 1498/99 in Rom für die Grabkapelle eines französischen Kardinals geschaffen hatte (siehe meinen Post Tief schlafend oder tot?). Sie war ursprünglich – anders als heute – so tief aufgestellt gewesen, dass man von oben auf den schönen jugendlichen Christus-Körper herabblicken konnte. 
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter
Michelangelo: Grablegung Christi (1500/1501); London, National Gallery
Michelangelo: Matthäus (1505/06); Florenz,
Galleria dellAccademia
Die Idee wiederum, dass die Träger den toten Christus rückwärts über Steinstufen zum Grab hinaufheben, hatte Michelangelo in seiner unvollendeten Grabtragung Christi von 1500/01 entwickelt. Auch an Michelangelos unvollendetem Matthäus (1505/06) hat sich Raffael erkennbar orientiert: Er hat die Skulptur nämlich gezeichnet – die dann seitenverkehrt im Joseph von Arimathäa wiederkehrt.


Literaturhinweise
Buck, Stephanie/Hohenstatt, Peter: Raffaello Santi, genannt Raffael. 1483–1520. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998, S. 32-40;
Forcellino, Antonio: Raffael. Biographie. Siedler Verlag, München 2006, S. 113-122;
Meyer zur Capellen, Jürg: Raffael in Florenz. Hirmer Verlag, München 1996, S. 214-216;
Oberhuber, Konrad: Raffael. Das malerische Werk. Prestel Verlag, München 1999, S. 60-69;
Pfisterer, Ulrich: Raffael. Glaube · Liebe · Ruhm. Verlag C.H. Beck, München 2019, S. 69-85;
Traeger, Jörg: Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 132-154.

(zuletzt bearbeitet am 11. November 2024)

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