Michelangelo: Tondo Doni (um 1506); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken) |
Michelangelos Rundbild mit der Heiligen Familie,
bekannt geworden unter dem Titel Tondo
Doni, ist das einzige eigenhändige Tafelbild, das wir von ihm kennen. Den
Auftrag dazu erhielt er von dem Florentiner Tuchhändler Agnolo Doni, entstanden ist das Gemälde um 1506. Vor
dem Hintergrund einer mit zumeist nackten Jünglingen bevölkerten Landschaft
haben sich Maria, Josef und der Jesusknabe auf einer Wiese niedergelassen. Die
in üppige Gewänder gekleidete Maria sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf dem
Boden, während ihr Josef von hinten das Christuskind reicht. Josefs Arme werden
fast vollständig verdeckt, von seinen Händen sind nur die Finger der Linken zu
sehen, die den Knaben an Brust, Achselhöhle und Schulter umgreifen. Michelangelo
hat den Ziehvater Jesu als ehrwürdigen Greis dargestellt, ganz der Tradition
entsprechend.
In Marias Schoß liegt ein Buch – sie ist
offensichtlich beim Lesen unterbrochen worden und wendet sich rücklings dem auf
ihre Schulter steigenden Jungen zu, um ihn in Empfang zu nehmen. So ganz
eindeutig ist die Szene allerdings nicht: Manche Kunsthistoriker gehen davon
aus, dass Josef das Kind Maria nicht reicht, sondern ihr abnimmt: „Michelangelo’s Mary, like any Renaissance mother, gives her Child to his father’s house, or rather to both his fathers’ houses. She gives him of course to his Eternal Father, but also to the Father’s earthly surrogate, Saint Joseph, in fulfillment of prophecies about the Messiah. That is to say, giving her Child to her husband’s house, Mary gives Christ to the House of David“ (Goffen 1999, S. 55). Nach der in Matthäus 1,1-17 aufgeführten Stammlinie zählt Josef, obwohl nicht der leibliche Vater Jesu, zu dessen Vorfahren. Paul Barolsky sieht in dem Weitergeben des Kindes auch eine Anspielung auf den Namen des Auftraggebers Doni (donare = schenken), weil Christus in der theologischen Literatur der Zeit immer wieder als Gabe und Geschenk Gottes an die Menschheit bezeichnet wird. Dass Maria ihr Kind in die Höhe hebt, verweist außerdem, so Barolsky, auf die Elevation des Leibes Christi in der katholischen Messe.
Mit ihren Händen berührt Maria den Sohn an der rechten Schulter und – an seinem Geschlecht. Die Aufmerksamkeit, die das Genital des Knaben auf diese Weise erhält, ist als theologisches Statement gemeint: Sein Geschlechtsteil gilt als Siegel und Beweis dafür, dass der Sohn Gottes wirklich Mensch geworden ist. Der Jesusknabe wiederum sucht in den Haaren seiner Mutter Halt, um bei der schwierigen Übergabe nicht abzustürzen. Seine eigene Lockenpracht wird von einem kaum sichtbaren, metallisch wirkenden Stirnband zusammengehalten. Erstaunt beobachtet der rechts hinter einer Mauer stehende Johannesknabe die Szene – mit ihm hat das Christuskind wohl kurz zuvor noch gespielt. Der kleine Johannes bildet das Bindeglied zwischen der Heiligen Familie und den fünf Jünglingen, die sich vor und auf einer halbrunden Exedra gruppiert haben.
Mit ihren Händen berührt Maria den Sohn an der rechten Schulter und – an seinem Geschlecht. Die Aufmerksamkeit, die das Genital des Knaben auf diese Weise erhält, ist als theologisches Statement gemeint: Sein Geschlechtsteil gilt als Siegel und Beweis dafür, dass der Sohn Gottes wirklich Mensch geworden ist. Der Jesusknabe wiederum sucht in den Haaren seiner Mutter Halt, um bei der schwierigen Übergabe nicht abzustürzen. Seine eigene Lockenpracht wird von einem kaum sichtbaren, metallisch wirkenden Stirnband zusammengehalten. Erstaunt beobachtet der rechts hinter einer Mauer stehende Johannesknabe die Szene – mit ihm hat das Christuskind wohl kurz zuvor noch gespielt. Der kleine Johannes bildet das Bindeglied zwischen der Heiligen Familie und den fünf Jünglingen, die sich vor und auf einer halbrunden Exedra gruppiert haben.
Maria: kein zerbrechliches Mädchen, sondern eine robuste Mutter |
Michelangelo: Kopfstudie für den Tondo Doni; Florenz, Casa Buonarroti |
Sterbender Alexander; Florenz, Uffizien |
Immer wieder ist die Farbigkeit des Tondo Doni hervorgehoben worden, die vor
allem in den Gewändern geradezu phosphoreszierend leuchtet. Maria trägt das
traditionell ihr zugehörige rote Gewand mit blauem Mantel, die mit einem
dunkelgrünen Stoffstreifen und dem glühenden, irisierenden Orangegold von Josefs
Mantel zusammenklingen. „Die metallisch blauen Falten, die den Vordergrund
füllen, finden ihr Echo in dem dunkleren Blau der Tunika Josefs und den
zarteren Färbungen des Himmels und der fernen Landschaft. So werden Vorder- und
Hintergrund durch die Wiederaufnahme und Modulation von Farbe miteinander
verbunden“ (Wallace 1999, S. 137).
Die Bedeutung des Tondo Doni ist unklar bzw. umstritten. Geht es um die Ablösung des
heidnischen Zeitalters, repräsentiert von den Jünglingen im Hintergrund, durch
das Christentum, für das der Jesusknabe steht? Diese These vertritt
u.a. William E. Wallace: „Die halbkreisförmige facettierte steinerne Wand hinter der
Heiligen Familie läßt an den begonnenen Bau der Apsis einer christlichen Kirche
denken. Der Betrachter wird Zeuge der neuen religiösen Ordnung und ihrer
architektonischen Umsetzung. Folgerichtig nimmt die Heilige Familie den Platz
des Altares ein“ (Wallace 1999, S. 137). Frank Zöllner sieht dies ebenso: „Die Figuren im
Hintergrund stehen für das Alte Testament, für die Zeit vor und unter dem Gesetz
(tempus ante legem und tempus sub legem), während der rechts
hinter der Mauer wartende Johannesknabe mit seinem Blick in die Zeit der Gnade
(tempus sub gratia) überleitet, die
durch die Heilige Familie verkörpert wird“ (Zöllner 2007, S. 442).
Chiara Franceschini wiederum sieht in den nackten Jünglingen die damals noch gültige theologische Ansicht verbildlicht, dass unschuldigen Kindern, die sterben, bevor sie getauft werden konnten, ein glückliches zukünftiges Leben in einem irdischen Paradies vergönnt sein wird. „As a group, the nude youths in the background could be considered as a special attribut to this Virgin: a Virgin to whom Agnolo and Maddalena could pray not only for healthy children, but also for consolation and hope regarding offspring they might lose or had already lost“ (Franceschini 2010, S. 162).
Chiara Franceschini wiederum sieht in den nackten Jünglingen die damals noch gültige theologische Ansicht verbildlicht, dass unschuldigen Kindern, die sterben, bevor sie getauft werden konnten, ein glückliches zukünftiges Leben in einem irdischen Paradies vergönnt sein wird. „As a group, the nude youths in the background could be considered as a special attribut to this Virgin: a Virgin to whom Agnolo and Maddalena could pray not only for healthy children, but also for consolation and hope regarding offspring they might lose or had already lost“ (Franceschini 2010, S. 162).
Leonardo da Vinci: Anna Selbdritt (um 1501); Paris, Louvre |
Luca Signorelli: Heilige Familie (um 1490); Florenz, Uffizien |
Luca Signorelli: Madonna Medici (um 1490); Florenz, Uffizien |
Apoll vom Belvedere; Rom, Vatikanische Museen |
Laokoon-Gruppe; Rom, Vatikanische Museen |
Raffael: Grabtragung Christi (1507); Rom, Galleria Borghese |
Reich geschnitzter, vergoldeter Holzrahmen vor roter Wandtapete – so präsentiert sich der Tondo Doni in den Uffizien |
Literaturhinweise
Barolsky, Paul: Michelangelo’s Doni Tondo and the Worshipful Beholder. In: Source 22 (2003), S. 8-11;
Bonsanti, Giorgio: Michelangelo as a Painter before the Sistine Ceiling. In: Denise L. Bissonnette (Hrsg.), Michelangelo. The Genius of the Sculptor in Michelangelo‘s Work. The Montreal Museum of Fine Arts, Montreal 1992, S. 279-305;
Forcellino, Antonio: Michelangelo. Eine Biographie. Siedler Verlag, München 2006;
Franceschini, Chiara: The Nudes in Limbo: Michelangelo’s Doni Tondo Reconsidered. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 73 (2010), S. 137-180;
Goffen, Rona: Mary’s Motherhood According to Leonardo and Michelangelo. In: artibus et historiae 40 (1999), S. 35-69;
Bonsanti, Giorgio: Michelangelo as a Painter before the Sistine Ceiling. In: Denise L. Bissonnette (Hrsg.), Michelangelo. The Genius of the Sculptor in Michelangelo‘s Work. The Montreal Museum of Fine Arts, Montreal 1992, S. 279-305;
Forcellino, Antonio: Michelangelo. Eine Biographie. Siedler Verlag, München 2006;
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Goffen, Rona: Mary’s Motherhood According to Leonardo and Michelangelo. In: artibus et historiae 40 (1999), S. 35-69;
Himmelmann, Nikolaus: Ideale
Nacktheit. Westdeutscher Verlag, Opladen 1985, S. 25-41;
Natali, Antonio: Dating the Doni Tondo through Antique Sculpture and Sacred Texts. In: Denise L. Bissonnette (Hrsg.), Michelangelo. The Genius of the Sculptor in Michelangelo‘s Work. The Montreal Museum of Fine Arts, Montreal 1992, S. 307-321;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Florenz zwischen 1501 und 1505. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, S. 41-48;
Natali, Antonio: Dating the Doni Tondo through Antique Sculpture and Sacred Texts. In: Denise L. Bissonnette (Hrsg.), Michelangelo. The Genius of the Sculptor in Michelangelo‘s Work. The Montreal Museum of Fine Arts, Montreal 1992, S. 307-321;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Florenz zwischen 1501 und 1505. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, S. 41-48;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur –
Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007, S. 442.
(zuletzt bearbeitet am 1. August 2024)
(zuletzt bearbeitet am 1. August 2024)
sehr schöner Beitrag!
AntwortenLöschenDanke für die guten Infos!
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