Mittwoch, 30. Juni 2021

Ein Hüne geht in die Knie – der „Christophorus“ des Konrad Witz

Konrad Witz: Der hl. Christophorus (um 1435); Basel, Kunstmuseum
Die im frühen Mittelalter entstandene Legende des Christophorus ist durch eine Reihe von späteren Bearbeitungen, vor allem aber durch die um 1264 verfasste Legenda aurea des Jacobus de Voragine verbreitet worden. Im Spätmittelalter wurden Darstellungen dieses Heiligen außerordentlich populär, da er unter anderem als Schutzpatron auf Reisen galt und angenommen wurde, dass sein Anblick vor dem mala mors schütze, dem plötzlichen (wörtlich: schlechten) Tod. Unvorbereitet aus dem Leben zu scheiden, ohne die Möglichkeit, eine letzte Beichte abzulegen und die Sterbesakramente zu empfangen, gehörte zu den großen Ängsten der damaligen Menschen. Die ältesten Darstellungen der Christophorus-Legende zeigen zwar einen im Vergleich zu dem Riesen Reprobus (so der ursprüngliche Name des Heiligen) winzigen Christus, aber noch nicht explizit ein Kind. Erst mit der Zeit bürgerte sich die Tradition ein, Christus als Kind wiederzugeben. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass das Menschsein des fleischgewordenen Gottes im kindlichen Jesusknaben besonders offensichtlich wird. In einem Gemälde von Konrad Witz (um 1440 – um 1446), das sich heute im Kunstmuseum Basel befindet, wird die bekannteste Episode der Christophorus-Legende in eine voralpine Landschaft verpflanzt: Karg aufragende Felskuppen umsäumen einen ausladenden Wasserspiegel, weiter nach hinten lichtet sich der Ausblick, links im Mittelgrund ragt eine waldige Landzunge ins Bild, auf der ein Einsiedler samt Kapelle und Kartause stehen. Die zwei Kähne, die dahinter auf dem Wasser verkehren, verleihen der Ansicht einen idyllischen Charakter, der mit der dramatischen Szene im Bildvordergrund kontrastiert.

Dort kämpft ein mit einem rubinroten Mantel bekleideter Christophorus mühevoll gegen den Strom an; er ist bereits weit über die Knie eingesunken, und der Wollstoff des Mantels hat sich vollgesogen, vor allen aber lastet das Gewicht seines außergewöhnlichen Kunden immer schwerer auf den Schultern des Fährmanns. Christophorus knickt regelrecht ein und sackt samt Christus, der sich an eine Haarlocke klammert, nach vorne – notdürftig versucht die vorgestreckte linke Hand, das verlorene Gleichgewicht auszubalancieren. Dabei bricht der knorrige Ast, auf den er sich beim Übersetzen stützt: Was auf der rechten Flussseite noch wie ein Kind aussah, gibt sich dann am anderen Ufer als der zu erkennen, der er ist: Christus, der Weltenherrscher; und der Fährmann, der bis dahin auf den Namen Reprobus hörte, erhält einen neuen – Christophorus, Christusträger.

Albrecht Dürer: Der hl. Christophorus (1511); Holzschnitt
Das enorme Gewicht auf seinem Rücken veranschaulicht Witz durch die Landschaftsgestaltung: Der steile, massige Fels am rechten Rand trifft in der Bildfläche genau auf den gebeugten Rücken des Riesen, knapp unterhalb des Kindes; seine Diagonale aber setzt sich in den angewinkelten Beinen des Heiligen fort. Die von oben drückende Last wird auf diese Weise visuell umgesetzt. Dieses Gewicht wird auf den Christusknaben bezogen, indem der Maler das Gewand und den gewaltigen Fels in eng verwandten Graufarben anlegt. „Darüber hinaus hat das Kind eine blockhaft geschlossene, den Felsbrocken rechts gleichende Grundform bekommen, und die Linie seines vorderen Beins verläuft parallel zur unteren Kante des steilen Felsens dahinter“ (Kunstmuseum Basel 2011, S. 159). Christophorus-Darstellungen gibt es in der abendländischen Kunst zuhauf – meist wird der Heilige dabei als hünenhafter Heros inszeniert, wenn er die Fluten durchquert, so etwa bei Dürer, Tizian oder Rubens. Der Christophorus von Witz dagegen wirkt eher wie ein christlicher Atlas, der seine Last kaum zu stemmen vermag.

Tizian: Der hl. Christophorus (1523); Venedig, Palazzo Ducale
Peter Paul Rubens: Der hl. Christophorus (1611/12);
Antwerpen, Liebfrauen-Kathedrale
Verfolgt man die Gerade seines Stabs bis unter die Wasseroberfläche weiter, so erscheint sie noch einmal gebrochen, doch nicht im Material, sondern optisch. Es handelt sich um eine für die damalige Zeit absolut einzigartige Umsetzung der Lichtbrechungsgesetze – bedenkt man, dass das Brechungsgesetz erst im 17. Jahrhundert von Snellius (1580–1626) formuliert und erst seit diesem Zeitpunkt zur künstlerischen Norm wird. Durch das trübe Wasser hindurch scheinen Pflanzen vom Flussgrund heraus, vorüberziehende Wolken verschatten die Oberfläche, und Mönch, Kirche wie Kartause spiegeln sich, mit perspektivisch genau wiedergegebener Verzerrung, im Wasser wider. Jeder einzelne strapaziöse Schritt des Fährmanns verursacht neue Ringwellen, die die vorherigen überlagern. Dabei reflektieren die konzentrischen Kreise das Rot des Mantels, und zugleich sieht man ihn durch das Wasser scheinen. 

Konrad Witz: Der wunderbare Fischzug (1444); Genf, Musée d’Art et d’Histoire
Ähnliche Virtuosität hat der Maler auch auf dem Flügel des Genfer Petrusaltars zum Wunderbaren Fischzug (1444) unter Beweis gestellt, auf dem Strömungswirbel, Wasserblasen und kleinste Wellenschläge mit unvergleichlicher Präzision dargestellt sind. Diese Detailgenauigkeit und generell die Tiefe der Landschaft sind ohne Zweifel von der niederländischen Malerei angeregt, vor allem von der Kunst Jan van Eycks (um 1390–1441).

 

Literaturhinweise

Alloa, Emmanuel: Eine gebrochene Erscheinung. Zum Christophorus von Konrad Witz. In: Sebastian Egenhofer u.a. (Hrsg.), Was ist ein Bild? Antwort in Bildern. Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, S. 199-201;

de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Zweiter Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 1295-1307;

Kunstmuseum Basel (Hrsg.): Konrad Witz. Hatje Cantz, Ostfilern 2011, S. 156-161.


Montag, 21. Juni 2021

Dies ist mein Leib – Caravaggios „Grablegung Christi“


Caravaggio: Grablegung Christi (1603/04); Rom, Pinacoteca Vaticana
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Caravaggios Grablegung Christi (1603/04) ist für die Vitricci-Familienkapelle in der römischen Kirche der Oratorianer (Santa Maria in Vallicella) entstanden. Die Oratorianer, die Filippo Neri 1575 gegründet hatte, gehörten zu den modernen Kongregationen, die sich vermehrt der Laienfürsorge widmeten, der Armenpflege wie der Seelsorge.
Der Barockmaler (1571–1610) kombiniert in seinem Gemälde die eigentliche Grablegung durch Nikodemus und Johannes (Matthäus 25,57-60) mit einer Beweinung durch die drei dahinter gestaffelten Marien. Die sechs Figuren sind in vorderster Bildebene angeordnet; sie agieren auf einer über Eck gestellten Grabplatte, die rechts und links auf Steinquadern aufliegt. Vornüber gebeugt sind Johannes und Nikodemus im Begriff, den Leichnam Jesu ins Grab herabzulassen. Christus ist bis auf das um die Lenden geknotete weiße Leichentuch nackt, sein Leib erstreckt sich nahezu über die gesamte Bildbreite. Das bärtige Haupt mit dem langen gelockten Haar ist ein wenig zurückgefallen und zeigt dem Betrachter ein mit gesenkten Lidern und schmal geöffnetem Mund gelöst wirkendes Antlitz. Die grünliche Gesichtsfarbe verdeutlicht aber unmissverständlich, dass wir einen Verstorbenen und nicht einen Schlafenden vor uns sehen. Auch die auf dem Bauch ruhende linke Hand des Toten vermittelt Gelöstheit. Sonja Lechner bemerkt zu Recht, dass es sich hier nicht um die Hand des Johannes handeln kann, wie verschiedentlich behauptet wird: Sie unterscheidet sich durch das blasse Inkarnat deutlich von der sonnengebräunten rötlich-braunen rechten Hand des Jüngers.
Gelöst im Tod (für die Großansicht einach anklicken)
Die drei Frauen stehen direkt hinter Nikodemus und Johannes: Die Mutter Jesu ist als alte Nonne dargestellt, bekleidet mit einem weißen Untergewand, das Gesicht und Brust umschließt, sowie einem königsblauen Umhang. Sie blickt über die Schulter des Johannes auf ihren Sohn herab und hat ihre Arme über seine gesamte Körperlänge ausgebreitet, um darauf binzuweisen, ihn behutsam zu beten. Neben ihr steht Maria Magdalena mit gesenktem Kopf und trocknet mit einem Taschentuch ihre Tränen; über einem weißes Unterhemd trägt sie ein ärmelloses Oberkleid sowie einen Umhang, der von der linken Schulter herabgeglitten ist. Ganz hinten hat der Maler Maria, die Schwester Marthas, platziert – sie sieht zum Himmel auf und hat die Arme in dem alten Gestus der Klage erhoben. Caravaggio stuft die emotionale Anteilnahme sorgfältig ab, sie reicht von der gefassten bis zur hemmungslosen Trauer. Die Figuren stehen dabei dicht gedrängt beieinander – es macht fast Mühe, sie als einzelne Körper zu erfassen. 
Der schräggestellte Sarkophagdeckel ragt, da das Altarbild niedrig angebracht war, unmittelbar in den Raum des Betrachters, also in die Kapelle: „Das vor dem Bild zu denkende Grab ist der Altar, eine klare Anspielung auf das Sakrament der Eucharistie“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 171). Der tote Erlöser, lebensgroß (300 x 203 cm sind die Maße des Bildes), wird vor den Augen der Gläubigen herabgelassen – sein Fleisch und Blut kehren auf dem Altar in Brot und Wein wieder. Wolfgang Brassat bezieht den Leichnam Christi ausdrücklich auf die Präsentation der Hostie während der Liturgie: „Die perspektivische Einrichtung des Gemäldes war somit darauf abgestimmt, dass der vor dem Altar stehende Priester bei der Intonation der Worte ,Dies ist mein Leib’ die konsekrierte Hostie aus Sicht der Gemeinde vor den gemalten Körper Christi hielt“ (Brassat 2007, S. 325). Die Grabplatte dient darüber hinaus als Christus-Symbol: An mehreren Stellen im Alten und Neuen Testament ist von Christus als einem Eckstein der Kirche die Rede, einem „Stein des Anstoßes“ und „Fels des Ärgernisses“ für die Ungläubigen, während diejenigen, die an ihn glauben, „nicht zuschanden werden“ (1. Petrus 2,6-8; Römer 9,33; LUT).
Links unter der Grabplatte sprießt eine großblättrige Pflanze, ein Spathiphyllum. Es gehört zur Gruppe der Aaronstabgewächse und galt den Kirchenvätern als Auferstehungssymbol (Forstner 1977, S. 164/165) Caravaggio deutet damit an, dass der Tod den Sohn Gottes nicht im Grab halten wird. Oberhalb der Figuren, über den erhobenen Händen der dritten Maria sind vor dem schwarzen Hintergrund die Blätter eines Feigenbaums zu erkennen – allerdings nur, wenn man vor dem Original steht. Die Feigenblätter könnten auf den Sündenfall im Paradies verweisen (1. Mose 3,7) und damit auf die Bedeutung des Sterbens Jesu als Sühnetod zur Erlösung der Menschheit.
Römischer Sarkophag mit der Heimtragung Melagers; Durres, Albanien
Caravaggio hat die Art, in der die beiden Männer den schwer lastenden Leib Christi mit seinen eingeknickten Beinen und dem herabhängenden Arm umfassen, von einem antiken Typus entlehnt, der Heimtragung Meleagers. Die Kunstkenner erkannten aber auch, dass Caravaggio mit diesem Bild in einen Wettstreit (Paragone) zwischen Malerei und Skulptur eintrat, und zwar mit seinem Namensvetter Michelangelo und dessen berühmter Pietà (siehe meinen Post Tief schlafend oder tot?“), die er mit malerischen Mitteln zu übertreffen suchte. In der Renaissance und im Frühbarock war der Paragone unter den Künstlern ein allgegenwärtiges Thema, bei dem es vor allem um die Vorrangstellung von Malerei oder Bildhauerei ging. Herwarth Röttgen hat beschrieben, wie die zweidimensionale malerische Darstellung der Grablegung bei Caravaggio aus der traditionellen Frontalansicht wie auf einer Drehbühne in die Diagonale gewendet ist, um damit die Dreidimensionalität der Figuren und ihre potenzielle Allansichtigkeit zu betonen (Röttgen 1992, S. 69/71).  
Ein Detail von Caravaggios Gemälde scheint unmittelbar durch Michelangelos Skulptur angeregt zu sein: In dieser greift Maria mit der rechten Hand unter die Achsel Christi; dabei reichen ihre Finger sehr nah an dessen Seitenwunde heran. Daran anknüpfend, berühren bei Caravaggio Zeige- und Mittelfinger des Johannes die Wunde – ein deutlicher Hinweis auf den ungläubigen Thomas und damit auch auf die Auferstehung Christi. Und es gibt noch eine Anspielung auf Michelangelo: Rudolf Preimesberger geht davon aus, dass Caravaggio seinem Nikodemus die Gesichtszüge des berühmten Renaissance-Künstlers verliehen hat. Die Verknüpfung wäre nicht ungewöhnlich, hat sich Michelangelo doch selbst in seiner Pietà Bandini als Nikodemus dargestellt. 
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter
Michelangelo: Pietà Bandini (unvollendet); Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Ein weiteres Vorbild für Caravaggio könnte ebenso Raffaels Grablegung Christi von 1507 gewesen sein, die sogenannte Pala Baglione (siehe meinen Post Zu Tode betrübt“).
Raffael: Grablegung Christi (1507); Florenz, Galleria Borghese
Nikodemus, nach biblischem Zeugnis „einer von den Oberen der Juden“ (Johannes 3,1; LUT), ist von Caravaggio wie ein Mann des niederen Volkes dargestellt worden, mit nackten, sehnigen Beinen und dem kurzen Rock eines Bauern. Jutta Held gibt dafür eine religionspolitische Erklärung: „Nikodemus mit den nackten Füßen und der gebeugten Haltung vertritt die Laien, denen die Oratorianer ihre Aufmerksamkeit widmeten. Caravaggio greift den Pauperismus und Demutsgedanken dieser Kongregation auf, die die Kirche im Volk zu verankern suchte“ (Held 2007, S. 113). Das Aussehen des Johannes entspricht ganz und gar nicht dem geläufigen Typus des empfindsamen Lieblingsjüngers. Obendrein hat Caravaggio die Figur des reichen Ratsherrn und Jüngers Christi Josef von Arimathäa außer Acht gelassen – den eigentlichen Initiator seiner Grablegung. Dass es sich bei dieser Figur dennoch um Johannes und nicht etwa um Josef von Arimathäa handelt, zeigt der Vergleich mit Caravaggios Gemälde Der Tod Mariens im Louvre, in dem am rechten Bildrand Johannes mit ähnlicher Physiognomie und einem ebenfalls grünen Gewand dargestellt ist. In der Grablegung Christi trägt er über diesem noch einen leuchtend roten Umhang. Ähnlich hatte bereits Raffael den Johannes in der Pala Baglione dargestellt.
Caravaggio: Der Tod Mariens (1605/06); Paris; Louvre
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Caravaggios Gemälde enthält einige irritierende Elemente, wie Wolfgang Brassat festgestellt hat. Andrea Mantegna zeigt in seinem Kupferstich der Grablegung Christi (um 1470) an den beiden Träger des Leichnams, dass auf der Seite des Oberkörpers weit mehr Gewicht zu halten ist als an den Füßen. Ganz im Gegensatz dazu vernachlässigt Caravaggio das Gesetz der Schwerkraft und stellt Nikodemus angestrengt und tief gebeugt dar. Schwerfällig umfasst er mit beiden Armen die Beine Christi, während die viel größere Kraftanstrengung des Johannes völlig ausgeblendet wird. Nicht nur, dass auch dessen Beine kaum zu sehen sind und nicht nachzuvollziehen ist, wie er den Leichnam hält – „zudem zeigt das Gesicht des Jüngers, der mit der Rechten die Seitenwunde berührt, den Ausdruck eines jähen Erstaunens über eine plötzlich gewonnene Einsicht. Diese Gemütsbewegung überblendet die körperliche Anstrengung vollkommen“ (Brassat 2007, S. 336).
Andrea Mantegna: Grablegung Christ (um 1470); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Ein weiteres irritierendes Bildelement ist die massive Grabplatte. Sie scheint ein erhebliches Hindernis für die Grablegung zu sein: „Zwar lässt sich das Grabtuch, das über den Rand der Platte hinunterhängt, als ein narrativer Hinweis auf den weiteren Ablauf der Handlung verstehen, dennoch gewinnt man als Betrachter keine Vorstellung, wie dieser weitere Bewegungsablauf aussehen könnte, zumal Caravaggio in dem engen Bildfeld des Hochformats weder das Grab selbst noch seine weitere räumliche Umgebung dargestellt hat“ (Brassat 2007, S. 330).
Merkwürdigerweise sind auch nur die Oberkörper der drei Frauen zu sehen, obwohl sie sich offensichtlich alle hinter Nikodemus befinden. Hinter dessen stämmigen Beinen, dort wo auch die der Frauen zu sehen sein müssten, erscheint aber lediglich der in dekorativen Falten drapierte rote Umhang des Johannes. Bei genauerem Hinsehen sind daneben, hinter dem linken Fuß des Nikodemus, noch einige Falten eines braunen Umhangs zu erkennen – offenbar ist es der von Maria Magdalena.
Maria, die Mutter Jesu, ist als Nonne gekleidet
Wie der Oberköper der Magdalena ist auch derjenige der Maria rechts neben ihr so oberhalb der stämmigen Beine des Nikodemus angeordnet, dass ein flüchtiger Blick auf das Bild dazu verleitet, beides aufeinander zu beziehen: Für einen Moment ergibt sich vexierbildhaft eine weibliche Gestalt mit kräftigen männlichen Beinen. 
Caravaggio formiert die dicht gedrängten Körper des Nikodemus und der Marien, die wie ein Fächer angeordnet sind, um das zu erzeugen, was man den „stroboskopischen Effekt“ nennt: weil in der rechten unteren Bildecke nur ein Paar Beine zu sehen ist, suggerieren die über diesem angeordneten Körper die sukzessive Bewegung eines einzigen Leibes. „Der Vorgang des Herabsenkens des Leichnams, die Bewegung hinunter zum Grab gewinnt durch die gewissermaßen synoptisch in der Zeitachse gestaffelten Figuren eine besondere Anmutungsqualität“ (Brassat 2007, S. 329). Diesem Effekt dienen sämtliche Bildfiguren, die alle – von der aufrecht stehenden Maria rechts bis hin zum waagerecht liegenden Christus – einer gegen den Uhrzeigersinn verlaufenden Abwärtsbewegung folgen. Diese Bewegung wird zudem akzentuiert durch die vier in gleichmäßig größer werdendem Abstand um die Gruppe herum angeordneten geöffneten Hände: die Linke und Rechte der rechts stehenden Maria, die Rechte der Muttergottes, die neben dem Kopf des Johannes erscheint, und schließlich die herabhängende Rechte Christi.
Der im Bild unabgeschlossene Bewegungsablauf erfuhr jedoch, so Wolfgang Brassat, seine Vollendung bei jedem Vollzug der Liturgie: Wenn der Priester die zuvor hoch, vor das Bild mit dem gemalten Leichnam gehaltene Hostie den Gläubigen übergab, wurde die Bedeutung der Passion Christi und der Eucharistie unmittelbar anschaulich: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm“ (Johannes 6,56; LUT). In diesem Moment erscheint der Priester als ein Johannes und Nikodemus gleichender Christus-Träger und als Mittler zwischen Gott und den Menschen. Das eigentliche Thema des Bildes ist also das Wunder der Transsubstantiation.
Peter Paul Rubens nach Caravaggio: Grablegung Christi (1612/14); Ottowa, National
Gallery of Canada (für die Großansicht einfach anklicken)
Der junge Rubens (1577–1640), der sich von 1600 bis 1608 in Italien aufhielt, war von Caravaggios Gemälde tief beeindruckt. Wahrscheinlich auf der Grundlage einer Zeichnung fertigte er um 1612/14 – Rubens war bereits wieder nach Antwerpen zurückgekehrt – eine kleine Ölstudie nach dem Altarbild an. Allerdings fügte er am rechten Bildrand in monochromer Malerei die Figur des Josef von Arimathäa hinzu; die Klage der heftig gestikulierenden dritten Maria verwandelt sich bei ihm in stille Trauer. Die Mutter Jesu hat Rubens wieder als jüngere Frau und Johannes mit hellen Haaren – wie es den Darstellungskonventionen entspricht – abgebildet. Die Grabplatte ruht nun auf breiten, behauenen Steinquadern; der linke der beiden dient dem hier näher an den Bildrand herangerückten Johannes als Stufe, über die er ins Grab hinabsteigen wird, um den Leichnam in die Gruft herabzulassen. Auch der niederländische Caravaggist Dirck van Baburen (um 1592/93–1624) hat sich von der Grablegung seines künstlerischen Vorbildes inspirieren lassen: Seine Fassung von 1617/18 rückt das Geschehen noch näher an den Betrachter heran (vor allem die Füße Christi). Und schließlich sei noch ein großformatiges Werk (215 x 146 cm) des flämischen Malers Jacob Jordaens (1593–1678) hingewiesen, dass ebenfalls deutlich erkennbar von Caravaggios römischem Gemälde beeinflusst ist. Die Angehörigen Christi am Grabe zeigt allerdings keine Grablegung – die dicht aneinander gedrängten Figuren wenden sich vielmehr dem außerhalb des Bildes liegenden leeren Grab Christi nach dessen Auferstehung zu.
Dirck van Baburen: Grablegung Christi (1617/18); Utrecht, Centraal Museum
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Jacob Jordaens: Die Angehörigen Christi am Grabe (1625/30);
Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
1797 ließ Napoleon Caravaggios Gemälde mit vielen weiteren Kunstwerken nach Paris bringen; nach seiner Rückgabe an den Papst 1816 blieb es im Vatikan – wo man es heute in den Vatikanischen Museen besichtigen kann. Allerdings verlor das Altarbild damit seinen Kontext, auf den Caravaggio es inhaltlich und formal abgestimmt hatte.


Literaturhinweise 
Brassat, Wolfgang: Rhetorische Merkmale und Verfahren in Darstellungen der Grablegung Christi von Mantegna, Raffael, Pontormo und Caravaggio. Zur Analogisierung und Ausdifferenzierung von Rhetorik und Malerei in der Frühen Neuzeit. In: Joachim Knape (Hrsg.), Bildrhetorik. Verlag Valentin Koerner, Baden-Baden 2007, S. 285-346; 
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Forstner, Dorothea: Die Welt der christlichen Symbole. Tyrolia-Verlag, Innsbruck u.a. Dritte, verbesserte Auflage 1977, S. 162-165; 
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Koos, Marianne: Haut als mediale Metapher in der Malerei von Caravaggio. In: Daniela Bohde/Mechthild Fend (Hrsg.), Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2007, S. 65-85;
Lechner, Sonja: NUDA VERITAS – Caravaggio als Aktmaler. Rezeption und Revision von Aktdarstellungen in der römischen Reifezeit. scaneg Verlag, München 2006, S. 165-183;
Pericolo, Lorenzo: The Other Michelangelo: The Weight of Composition and Artistic Paragone in Caravaggio’s Entombment. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 343-373;
Preimesberger, Rudolf: Pittura Gobba: Conjectures on Caravaggio’s Entombment. In: Rudolf Preimesberger, Pargons and Paragone. Van Eyck – Raphael – Michelangelo – Caravaggio – Bernini. The Getty Research Institute, Los Angeles 2011, S. 83-133;
Röttgen, Herwarth: Caravaggio. Der irdische Amor oder Der Sieg der fleischlichen Liebe. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1992; 
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 121;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 9. Februar 2022)