Dienstag, 29. Mai 2012

Raffaels schöne Bäckerstochter: La Fornarina

Raffael: La Fornarina (um 1518/1520); Rom, Galleria Nazionale d’Arte Antica
Raffaels La Fornarina, in seinen letzten Lebensjahren entstanden (um 1518/1520), ist zweifelsohne sein bekanntestes Porträt. Nach links gewandt, sitzt eine halbnackte Frau in Dreiviertelansicht vor einem dichten Gebüsch aus Myrten und – kaum noch zu erkennen – Quitten. Ihr dunkles Haar ist mit einem gestreiften und plissierten Seidentuch wie mit einem Turban umwickelt, von dem eine Perle herabhängt; die rechte Hand zieht einen durchsichtigen Schleier über den Bauch bis zu den Brüsten hoch, der sie allerdings kaum verhüllt. Der linke Arm liegt auf ihrem Schenkel und dem roten Untergewand. Die junge Frau mit dem porzellanhaften Inkarnat scheint dem Blick des Betrachters auszuweichen; ihre großen Augen, die von den geschwungenen, schwarzen Brauen betont werden, sind nach rechts gerichtet. Sie wirkt dabei jedoch keineswegs schüchtern, das angedeutete Lächeln verweist eher darauf, dass sie sich ihrer Schönheit und erotischen Anziehungskraft sehr wohl bewusst ist. Der dunkle Hintergrund unterstreicht das Weiß ihrer Schultern und Brüste, die ein wenig heller sind als das sonnengebräunte Gesicht – für Antonio Forcellino ein Beleg dafür , dass es sich um ein naturgetreues Porträt handelt.
Die Kapitolinische Venus mit Venus-pudica-Pose
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Die Haltung der Arme und Hände entspricht der Pose einer antiken „Venus pudica“. Wie bei diesem Bildtypus hält La Fornarina die rechte Hand schamhaft vor die Brust, die andere bedeckt den Schoß. Allerdings wirken diese Gesten bei Raffael beinahe lasziv und machen den Betrachter eher auf die Reize der Schönen aufmerksam, als sie vor ihm zu verbergen. Gleichzeitig weist der Zeigefinger ihrer rechten Hand unauffällig und dennoch eindeutig auf einen blau emaillierten Goldreif um ihren Oberarm, der die Aufschrift „RAPHAEL URBINAS“ trägt („Raffael aus Urbino“) – die Signatur betont die Urheberschaft wie auch die Zuneigung (oder den Besitzanspruch) des Künstlers. Kein anderes Porträt Raffaels ist signiert – sein Name auf dem Schmuckstück scheint daher eine besondere Beziehung des Künstlers zu der Dargestellten zu signalisieren.
Eine Brust, die mehr präsentiert als bedeckt wird
Wegen der durchaus pikanten Platzierung neben der nackten linken Brust und dem Herzen hat man später vermutet, es handele sich bei der jungen Frau um Raffaels (angebliche) Geliebte, die Tochter eines römischen Bäckers (genau das bedeutet „La Fornarina“ nämlich). Sie war ab 1514 sein bevorzugtes Modell in allen Darstellungen von weiblichen Heiligen oder antiken Gottheiten. Möglicherweise spielt der Armreif auch auf das alttestamentliche Hohelied an, wo es heißt: „Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm“ (8,6). La Fornarina erscheint als Name des Gemäldes erstmals auf einem Stich der 1770er Jahre, der nach Raffaels Bildnis angefertigt wurde. Ursprünglich war das Porträt mit zwei zuklappbaren Flügeln versehen, sodass es unerwünschten Blicken entzogen werden konnte.
Sabine Poeschel ist allerdings der Ansicht, dass es sich gar nicht um ein Porträt handelt, sondern um die Darstellung eines spezifischen Frauentyps – nämlich den der sinnlichen, erotisch anziehenden Frau. Dieser Typus – „eine durchaus irdische Erscheinung von provozierender Nähe“ (Poeschel 2002, S. 291) – sei von Raffael selbst variiert und auch von Künstlern wie Giulio Romano, Sebastiano del Piombo u.a. in einer Reihe von Gemälden aufgegriffen worden. Es sind dies Bilder von Frauen, die offenkundig erotische Züge haben, im Gegensatz zur enthaltsamen „guten Schönen“, die Keuschheit als höchste weibliche Tugend respektiert. Die körperliche Attraktivität, die La Fornarina zeigt, durfte bei der guten Schönen noch nicht einmal angesprochen werden. 
Für Ulrich Pfisterer hingegen setzt Raffael mit seinem Bildnis „Modell, (vermeintliche) Geliebte und Muse der Malerei in eins und markiert so einen entscheidenden Schritt hin zu dieser später omnipräsenten Vorstellung von der Geliebten als erotischer Inspirationsquelle des Künstlers“ (Pfisterer 2012, S. 64). Aus seiner Sicht verhüllt die junge Frau weder ihre Brust im Pudica-Gestus noch legt sie die Hand auf das Herz, wie ebenfalls vermutet worden ist. Sie präsentiere ihre Brust vielmehr und drücke offenbar sogar leicht deren Spitze – ein für den zeitgenössischen Betrachter eindeutiges Motiv, das ihm von der „Madonna lactans“, der stillenden Gottesmutter, bekannt gewesen sei. 
Sebastiano Mainardi: Madonna lactans (um 1480); Wien, Kunsthistorisches Museum
Pfisterer hat in seinem Buch Kunst-Geburten (2014) belegt, wie häufig in Renaissance-Texten Nähr- und Inspirationsmetaphern durch Brust und Milch zu finden sind. Er schlägt deswegen vor, den Griff der Fornarina an ihre linke Brust als „Inspirationsgestus“ (Pfisterer 2012, S. 69) zu verstehen, die halbnackte Frau als  inspirierende Musen-Geliebte des Malers. Pfisterer verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Musen-Darstellung aus der Werkstatt Botticellis, die das Nähr-Motiv explizit vorführt – die Muse als Quell der Inspiration. „Entscheidend für Raffael war, von sich selbst das Bild eines Kunst- und Musen-Liebhabers und die Existenz einer eigenen Muse nach dem Modell der Dichter-Musen zu propagieren“ (Pfisterer 2012, S. 74).
Botticelli-Werkstatt: Muse (um 1480/85); Privatsammlung
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Raffael hat sich intensiv mit der Porträtkunst Leonardo da Vincis beschäftigt, der von 1513 bis 1516 ebenfalls in Rom lebte (siehe meinen PostGeld heiratet Adel“). Das lässt sich auch an der Fornarina ablesen, deren Lächeln von der Mona Lisa angeregt sein dürfte. Noch deutlicher werden diese Bezüge aus den Röntgenaufnahmen der Fornarina: Sie sollte ursprünglich vor eine offene Landschaft mit einem mittigen Busch platziert werden – eine Lösung, die Raffael von Leonardos Bildnis der Ginevra de’ Benci übernommen haben könnte.
Leonardo da Vinci: Ginevra de’ Benci (um 1475); Washington D.C.; National Gallery of Art
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Raffael und die Fornarina wurden von nachfolgenden Künstlern immer wieder als Bildthema aufgegriffen – um die inspirierende Kraft einer erotischen Beziehung von Maler und Modell zu verdeutlichen. Besonders Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867) variierte den Stoff mehrfach, und Pablo Picasso (1881–1973) schuf 23 Radierungen mit Darstellungen des Paares. Ingres‘ Raffael und die Fornarina von 1814 zeigt den Maler und die Geliebte im Atelier. Die Sitzung für das berühmte Aktporträt ist unterbrochen; die Fornarina hat sich auf Raffaels Bein gesetzt und blickt den Betrachter über die rechte Schulter hinweg an. Ihr Dreiviertelporträt gleicht nicht so sehr dem unfertigen Abbild auf der Leinwand als eher der ebenfalls berühmten Madonna della Sedia von Raffael, die rechts an der Rückwand des Ateliers lehnt und demnach ebenfalls nach diesem Modell gemalt ist. Raffael war Ingres‘ künstlerischer Fixstern, an dessen Formensprache er sich lebenslang anlehnte. Der Fornarina selbst hat dann insbesondere der italienische Maler Amedeo Modigliani (1884–1920) 1918 mit einer seiner zahlreichen Aktdarstellungen seine Reverenz erwiesen.
Jean-Auguste-Dominique Ingres: Raffael und die Fornarina (1814);
Cambridge/Mass., Fogg Art Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Picasso: Raffael und die Fornarina XVII (1968); Radierung
Picasso: Raffael und die Fornarina XXIII (1968); Radierung
Amedeo Modigliani: Junge Frau im Hemd (1918); Wien, Albertina

Literaturhinweise
Forcellino, Antonio: Raffael. Biographie. Siedler Verlag, München 2008, S. 229-232;
Pfisterer, Ulrich: Raffaels Muse – Erotische Inspiration in der Renaissance. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 38 (2012), S. 63-83;
Poeschel, Sabine: Raffael und die Fornarina. Ein Bild wird Biographie. In: Udo Grote (Hrsg.), Westfalen und Italien. Festschrift für Karl Noehles. 
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2002, S. 285– 294;
Talvacchia, Bette: Raffael. Phaidon Verlag, Berlin 2007, S. 122/126.


Antonello, sehr angetan
(zuletzt bearbeitet am 25. Juni 2021)

Samstag, 26. Mai 2012

Das Wort lebt und leuchtet – Rembrandt porträtiert den Mennonitenprediger Anslo und dessen Frau

Rembrandt: Der Mennonitenprediger Cornelis Clasz. Anslo und seine Frau Aeltje Gerritsdr. Schouten (1641);
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Cornelis Claesz. Anslo (1592–1646) war ein erfolgreicher Tuchhändler und zugleich einer der führenden Laienprediger unter Hollands Mennoniten. Als geistlicher Lehrer stand er der bibeltreuen waterländischen Gemeinde in Amsterdam vor. 1641 bezog Anslo ein neues, großes Haus im Zentrum der Stadt. Das 1641 datierte Doppelporträt dürfte für dieses Domizil bestimmt gewesen sein. Das große Bildformat (176 x 210 cm) setzt einen wohlhabenden Geschäftsmann als Auftraggeber voraus. Rembrandt inszeniert Anslo gleichermaßen als arrivierten Textilkaufmann wie als Prediger, indem er auf dem Tisch gleich mehrere kostbare Teppiche zeigt, auf deren üppigen Falten die aufgeschlagene Bibel ruht. Auch der Pelzbesatz an den Mänteln der beiden Eheleute gibt Auskunft über ihren Wohlstand, ohne allzu lauthals die mennonitische Abneigung gegen das Zurschaustellen von Reichtum und Prunk zu verletzen. Und offensichtlich waren bei den gemäßigten Mennoniten, zu denen Anslo gehörte, auch Porträts nicht als „weltliche Eitelkeit verpönt – Bilder wurden im Privatbereich geduldet, im Kirchenraum jedoch abgelehnt.
Rembrandt präsentiert Anslo in seinem Arbeitszimmer. Von der Bibel wendet er sich seiner Frau Aeltje Gerritdr. Schouten zu, mit der er seit 1611 verheiratet war. Fast fünfzigjährig, wirkt Anslo mit seinem schwarzen Vollbart geradezu kraftstrotzend. Er beugt sich weit nach rechts, sodass der weiße Kragen und das helle Gesicht ein Stück neben der Mittelachse des Bildes aufscheinen. Die Gebärde seiner linken Hand, die das Zentrum der Gesamtkomposition markiert und in ihrer Bewegung geradezu die Bildfläche zu durchstoßen scheint, verleiht seinem Reden Nachdruck; die Drehung des Oberkörpers und der weit in den Raum ausgreifende Arm suggerieren körperliche Bewegung und betonen das Momenthafte der geschilderten Situation. Dargestellt wird der Fluss der Rede, denn offensichtlich ist der Prediger dabei, seiner ergeben zuhörenden Ehefrau einen Bibeltext auszulegen. Wir als Betrachter sind dabei nicht ausgeschlossen, im Gegenteil: Das Figurenpaar ist in Untersicht dargestellt, Anslo deutlicher noch als seine Frau. Wie diese nehmen wir als Betrachter die Rolle des Zuhörers ein, in einer Position, als würden wir, zur Kanzel aufblickend, einer Predigt folgen. Der niedrige Blickpunkt ist zugleich ein Hinweis darauf, dass Rembrandts Gemälde recht hoch hängen sollte.
Hinter Anslo sehen wir ein Bücherregal mit schwerem Vorhang, der die meisten Bände verdeckt. Das in ihnen gespeicherte Wissen stellt im Wortsinn seinen eigentlichen Hintergrund dar. „Zugleich verfügt er allein über sie; denn er verstellt auch den Zugriff auf sie“ (König 2003, S. 2). Bücher geben Anslo Autorität.
Rembrandt: Cornelis Claesz. Anslo (1641);  Radierung, 15,8 x 10,8 cm
Außer dem Gemälde hat sich Anslo 1641 von Rembrandt ein radiertes Einzelporträt anfertigen lassen, das ihn als Verfasser theologischer Schriften zeigt. Die Radierung wartet mit neuen Motiven auf: einem leeren Nagel an der Rückwand und einem Gemälde, das darunter mit der Rückseite zum Betrachter abgestellt ist. Werner Busch hat die beiden Hinzufügungen überzeugend auf den mennonitischen bzw. allgemein reformatorischen Grundsatz zurückgeführt, nach dem nicht dem Bild, sondern dem Wort und somit der Schrift der Vorrang in der Vermittlung der Heilsbotschaft zukomme.
Wie paradox: Rembrandts Kunde gibt bei ihm ein großes Gemälde von sich und seiner Frau und eine Radierung in Auftrag, die „beide dazu dienen sollten, die Würde des Wortes gegenüber der des Bildes herauszustellen“ (Schama 2000, S. 477). Rembrandts Aufgabe bestand, wenn man so will, darin, das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen – nämlich das gesprochene Wort.
Es fällt auf, dass der Prediger und seine Frau nur die rechte Hälfte des Bildes einnehmen. Die linke Seite ist ganz einem Stillleben aus Büchern und einem Kerzenleuchter vorbehalten, auf das Anslos linke Hand weist. Am Rand des Tisches liegt ein dickes Buch ohne Einband, dessen Blätter sich wellen. Schräg hinter dem zerfledderten Buch erhebt sich ein schlichtes hölzernes Pult; es trägt einen Folianten in Leder mit vergoldeten Beschlägen, sicherlich eine Bibel. Der extrem tiefe Blickwinkel und die beiden wertvollen Teppiche – der untere golddurchwirkt, darauf drapiert ein üppiger roter Orientteppich mit schwarzem Muster – vermitteln den Eindruck, als handle es sich um einen Hochaltar mit heiligen Büchern. Und diese Bücher, die das ganze Licht auf sich vereinigen, das von links einfällt, sind nicht ein bloßer Stapel gebundenes Papier. Die Seiten sind in Bewegung, das Wort lebt und leuchtet bzw. erleuchtet.
Wenn man etwas näher rangeht, ist die Lichtschere bestens zu erkennen
Auf dem Tropfteller der größeren Kerze liegt eine Lichtschere, ein Utensil, mit dem der Docht gekürzt wird, damit die Kerze nicht rußt. Johann Christian Klamt ist der Ansicht, sie symbolisiere  die „correctio fraterna“ (die „brüderliche Ermahnung“, wie sie in Matthäus 18,15-20 beschrieben wird), die dazu beitrage, die Seele von Verirrungen zu befreien wie die Lichtschere die Kerze von Ruß und tropfendem Wachs.
Die Kerze scheint gerade erst ausgeblasen worden zu sein, denn es gibt eine dunkle Spur von Rauch, kaum wahrnehmbar über dem Docht (man sieht sie am besten, wenn man vor dem Original in Berlin steht). Rauchende Kerzen, vor allem wenn sie erloschenen Kerzenstummeln gegenübergestellt sind, spielen in Stillleben des 17. Jahrhunderts häufig auf die Kürze des irdischen Lebens an. Deswegen ist es durchaus denkbar, dass Rembrandt, vielleicht auch auf Wunsch des Auftraggebers, in dem engen Nebeneinander von Heiliger Schrift und Kerze an die unvergänglichen und an die weltlichen Dinge erinnern wollte, an den Geist und das Fleisch (Galater 5,16-25).
Der Prediger, in seinen pelzgefütterten Wohlstand gehüllt, verkündet seiner Frau, wenn auch wohlwollend, so doch von oben herab biblische Gewissheiten. Keine Frage, wer hier im Besitz der rechten Lehre ist – nicht umsonst nimmt Anslo die Spitze der pyramidalen Bildkomposition ein. Rembrandts Gemälde ist vor allem sein Porträt: Er spricht, er greift aus, er beeindruckt. In der Flächendisposition nimmt er majestätisch die Mitte ein; geometrisch rückt er zwar nach rechts; mit Hilfe des Goldenen Schnitts aber bestimmt er eine Symmetrieachse noch höherer Wertigkeit (König 2003, S. 7). An die Seite gerückt und ihm wie Beiwerk untergeordnet ist seine Frau. Das ist von Rembrandt nicht kritisch gemeint, sondern spiegelt die soziale Realität und das Geschlechterverhältnis der damaligen Zeit.
Aeltje Gerritsdr. Schouten (1589-1657)
Aber sie sieht nicht ihren Mann an, sondern die aufgeschlagene Bibel, ohne wirklich aufmerksam ihren Blick auf sie zu richten – der scheint vor allem in sich gekehrt zu sein. Ihre Kopfhaltung mit der leichten Drehung zu ihrem sprechenden Ehemann greift nochmals die Frage auf, wie im Bild das nicht Darstellbare gezeigt werden kann. Rembrandt macht nicht nur Anslos Sprechen sichtbar, sondern auch Aeltjes Hören. 
Das spitzenbesetzte weiße Tuch verweist wie der braune Pelz auf den Wohlstand des Ehepaars
Aeltje Gerritsdr. wirkt zerbrechlich, ihre bleiche Gesichtshaut zeigt mehr Spuren des Alters als das weiche Antlitz ihres Mannes. Das gilt noch mehr für ihre Hände. Diese beinahe in sich zusammengesunkene Frau ist keine ebenbürtige Partnerin für den ehrfurchtgebietenden, hochangesehenen Gemahl. Sie bietet ein Bild geduldiger Unterwürfigkeit und wirkt fast wie ein Kind, das die Schrift nicht versteht und immer Schülerin bleiben wird, angewiesen auf die Erkenntnis und die Erklärungen ihres Mannes.
Rembrandts bekanntestes Bild:  „Die Nachtwache“ (1642); Amsterdam, Rijskmuseum
Anslos Geste mit der perspektivisch verkürzten Hand, auf deren Innenseite das Licht fällt, findet sich übrigens ähnlich ein Jahr später auch in seiner berühmten Nachtwache (1642). Die bemerkenswerte Komposition des Berliner Doppelporträts hat Rembrandt bereits in einem seiner Frühwerke ausprobiert, nämlich in dem Gemälde Petrus und Paulus im Gespräch (1628). Die beiden Apostel sind hier spiegelbildlich auf der linken Seite platziert, während in der rechten Bildhälfte ein Bücherstillleben mit einem Kerzenhalter zu sehen ist. 
Rembrandt: Petrus und Paulus im Gespräch (1628); Melbourne, National Gallery of Victoria


Literaturhinweise
Busch, Werner: Zu Rembrandts Anslo-Radierung. In: Oud Holland 86 (1971), S. 196-199;

Dickey, Stephanie S.: Rembrandt: Portraits in Print. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 45-56;

Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 300-303;
König, Eberhard: Zur Stellung des Beiwerks auf Rembrandts Berliner Bildnis des Mennonitenpredigers Anslo. In: Hans Dickel (Hrsg.), Preußen – Die Kunst und das Individuum. Beiträge gewidmet Helmut Börsch-Supan. Akademie Verlag, Berlin 2003, S. 1-14;
Klamt, Johann-Christian: Ut magis luceat. Eine Miszelle zu Rembrandts »Anslo«, in: Jahrbuch der Berliner Museen 17 (1975), S. 155-165;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 476-480;
van Thiel, Pieter: Doppelbildnis des mennonitischen Lehrers Cornelis Claesz. Anslo und seiner Frau Aeltje Gerritsdr. Schouten. In: Christopher Brown u.a. (Hrsg.), Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 222-225;
Wittmann-Englert, Kerstin: Die Sprache der Hand. Neue Erkenntnisse zum Doppelporträt des Mennonitenpredigers Cornelis Claesz. Anslo und seiner Frau Aeltje Gerritse Schouten (1641). In: Jahrbuch der Berliner Museen 47 (2005), S. 149-157.

(zuletzt bearbeitet am 31. März 2022)

Dienstag, 22. Mai 2012

Percy Bysshe Shelley: Ozymandias

Two vast and trunkless legs of stone

Ozymandias

I met a traveller from an antique land
Who said: »Two vast and trunkless legs of stone
Stand in the desert … Near them on the sand,
Half sunk, a shattered visage lies, whose frown
And wrinkled lip and sneer of cold command
Tell that its sculptor well those passions read
Which yet survive, stamped on these lifeless things,
The hand that mocked them and the heart that fed.
And on the pedestal these words appear:
›My name is Ozymandias, King of Kings:
Look on my works, ye Mighty, and despair!‹
Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal wreck, boundless and bare,
The lone and level sands stretch far away.«

Percy Bysshe Shelley


Osymandias

Ein Wanderer sprach mir von antikem Land:
„Zwei Beinkolosse, rumpflos, steingehauen,
Stehn in der Wüste ... Nah, zerschellt im Sand,
Versunken halb, ein Haupt. Der herrischen Brauen
Und Runzellippen Grimm, kalt und mokant,
Zeigt, daß der Steinmetz jenen Wahn gut las,
Der beides überlebt im toten Wenig:
Die Hand, die ihn geäfft, das Herz, das er zerfraß.
Und eine Inschrift auf dem Sockel sagt:
›Ich, Osymandias, bin der Könige König,
Schaut auf mein Werk, ihr Mächtigen, und verzagt!‹
Nichts übrig sonst. Rund um die Eitelkeit
Des Trümmerriesen, der dort einsam ragt
Dehnt öd und eben Sand sich endlos weit.“

Percy Bysshe Shelley
(übersetzt von Klaus Bartenschlager)



Donnerstag, 17. Mai 2012

Die Leiden des schönen Sebastian – Rubens’ Märtyrerbild aus der Berliner Gemäldegalerie

Peter Paul Rubens: Hl. Sebastian (1618), Berlin, Gemäldegalerie
Der römische Offizier Sebastian gehört zu den bekanntesten christlichen Märtyrern und meistverehrten katholischen Heiligen. Kaiser Diokletian ließ ihn wegen seines christlichen Glaubens an einen Baum binden und durch numidische Bogenschützen hinrichten – was der Soldat jedoch, so die Legende, durch ein Wunder Gottes überlebte. Irene, eine junge Witwe, wollte den Toten bestatten, fand ihn aber lebend vor und pflegte ihn gesund. Als Sebastian den Kaiser öffentlich der Christenverfolgung beschuldigte, ließ dieser ihn schließlich zu Tode peitschen und in die Cloaca Maxima werfen, den größten Abwasserkanal Roms. 
Das 1618 entstandene Gemälde des flämischen Barockmalers Peter Paul Rubens (1577–1640) zeigt das Pfeilmartyrium Sebastians. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, wird er als lebensgroße (200 x 128 cm) und nahezu die volle Höhe des Bildfeldes einnehmende Aktfigur gezeigt. Die muskulöse Gestalt ist an einen Baum gefesselt, von dessem Stamm und dunklen Blattwerk sich der helle Körper deutlich abhebt. Der in der rechten Bildhälfte sichtbare Horizont liegt so tief, dass der Betrachter zu dem hoch aufragenden Märtyrer aufschaut.
Rubens hat in diesem Bild Erfahrungen seines Italien-Aufenthaltes verarbeitet. Im Mai 1600 war er in den Süden aufgebrochen und hatte dort schon bald von sich reden gemacht. Wenige Monate nach seiner Ankunft in Italien trat er bereits als Maler in den Dienst Vincenzo I. Gonzagas, des Herzogs von Mantua. Von den zahlreichen künstlerischen Arbeiten, die Rubens damals ausführte, ist wenig erhalten geblieben. Doch Rubens war offensichtlich in dieser Zeit nicht nur als Maler für den Herzog tätig, sondern auch als Kunstagent, der Gemälde begutachtete und erwarb. In dieser Funktion reiste er im August 1601 nach Rom, um Kunstwerke zu kaufen und in den vatikanischen Sammlungen Gemälde zu kopieren. Rubens nutzte diesen Aufenthalt für ein intensives Studium der antiken und zeitgenössischen Kunst. Er zeichnete nach antiken Werken, aber auch nach Bildern und Skulpturen der Hochrenaissance, von Raffael und Michelangelo. Besonders intensiv hat sich Rubens in dieser Zeit mit der Laokoon-Gruppe beschäftigt, der er zahlreiche Zeichnungen widmete. 
Laokoon-Gruppe, Rom, Vatikanische Museen
Als er nach Rom kam, war diese 1506 entdeckte Skulpturengruppe das bei weitem berühmteste Zeugnis antiker Bildhauerkunst und seither künstlerisches Leitbild. Vor allem die eindringliche Schilderung körperlichen Leidens galt als vorbildlich. Stärker als alle Künstler vor ihm war Rubens bemüht, die affektstarken Figuren in bewegende Bilder umzusetzen. Vor allem zeichnete Rubens „die Statuen schon vor Ort mit Blick auf die inhärenten Möglichkeiten einer Verwendung der gewonnenen Motive in verschiedenen Zusammenhängen“ (Büttner 2007, S. 20).
Eine von Rubens’ Zeichnungen der Laokoon-Gruppe
Das Bild des Laokoon ruft Rubens’ Sebastian denn auch nicht nur durch seine Körperlichkeit wach, sondern vor allem durch das Leidensmotiv des sich aus leichter Hüftdrehung empordrängenden Oberkörpers.
Sterbender Alexander; Florenz, Uffizien
Eine Zeichnung Rubens’ nach dem Sterbenden Alexander
Die Gesichtszüge des Heiligen erinnern deutlich an den Sterbenden Alexander, einen hellenistischen Marmorkopf, den Rubens ebenfalls gezeichnet hat. Die Büste wurde Künstlern als „exemplum doloris“ empfohlen, als Vorbild für die Gestaltung von extremem Schmerz und Kummer. 
Michelangelo: Sterbender Sklave, unvollendet; Paris, Louvre
Und Rubens hatte offensichtlich auch Michelangelos prigione nicht vergessen – eine unvollendete Skulptur, die vielfach Sterbender Sklave genannt wird, ebenfalls den Einfluss der Laokoon-Gruppe zeigt und sich heute im Louvre befindet. (Michelangelo war 1506 einer der Ersten, die das antike Meisterwerk bewundern konnten.)
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (1459/60); Wien, Kunsthistorisches Museum
Der Kontrapost von Rubens’ Sebastian (die Balance von tragendem Stand- und entlastendem Spielbein) verweist wiederum auf den kleinfigurigen Wiener Sebastian von Andrea Mantegna (1459/60; 68 x 30 cm), und Otto von Simson scheint „die heroische Auffassung der Gestalt vor der abendlichen Landschaft kaum denkbar ohne Tizians großes Vorbild in der Eremitage“ (Simson 1996, S. 220). Die Details der Landschaft sind bei Tizian allerdings kaum ausgearbeitet; und im Gegensatz zu Rubens wählt Tizian die Statue des Apoll vom Belvedere als Vorbild für seinen Sebastian (siehe meinen Post Der Apoll vom Belvedere“), während andererseits die Gesichtszüge an den älteren der Laokoon-Söhne erinnern, vor allem durch den nach hinten gebogenen Kopf, die Augenbrauen, die die Nasenwurzel berühren, und den halbgeöffneten Mund.
Tizian: Hl. Sebastian (um 1570); Eremitage, St. Petersburg
Die überaus zahlreichen Sebastian-Darstellungen in der abendländischen Kunst verdanken sich vor allem der kontinuierlichen Präsenz der Pest in Europa seit der großen Epidemie von 1348. Denn Sebastian wurde wie Rochus, Cosmas und Damian als Pestheiliger verehrt und angerufen, weil die Pfeile seines Martyriums als Symbole für diese Seuche galten. Oft wird der Heilige auf diesen Gemälden mit einem besonders schönen, erotisch anziehenden Körper präsentiert. Das kann heutige Betrachter regelrecht irritieren: Sollte es sich wirklich um einen Heiligen handeln? Doch Sebastians Sinnlichkeit beweist geradezu, dass er wirklich lebt. Vor allem ist er durch die Makellosigkeit seines Leibes ein Gegenbild zu dem von der Pest befallenen Körper. Sebastian, der das Pfeilmartyrium durch ein Wunder Gottes überlebt hat, wird „zu einem Versprechen, dass die Gläubigen, selbst wenn sie am schwarzen Tod sterben müssen, einen zeitlosen, überirdischen, makellosen Körper bekommen“ (Bohde 2004, S. 92). 


Literaturhinweise
Bohde, Daniela: Ein Heiliger der Sodomiten? Das erotische Bild des Hl. Sebastian im Cinquecento. In: Mechthild Fend/Marianne Koos (Hrsg.), Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln 2004, S. 79-98;
Büttner, Nils: Rubens. Verlag C.H. Beck, München 2007;
Marshall, Louise: Manipulating the Sacred: Image and Plague in Renaissance Italy. In: Renaissance Quarterly 47 (1994), S. 485-532;
Prochno, Renate: Die einseitige Konkurrenz: Antonis van Dyck und Peter Paul Rubens. In: Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Akademie Verlag, Berlin 2006, S. 127-154;
Simson, Otto von: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996. 

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2020)