Dienstag, 14. November 2017

Vereint unter einem Himmel – Michelangelos sixtinische Sibyllen

Michelangelo: Die erythräische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Das Sockelgeschoss der von Michelangelo ausgemalten Sixtinischen Decke wird beherrscht von zwölf monumentalen Sitzfiguren: sieben Propheten des Alten Testaments und fünf sogenannten Sibyllen. Sie besetzen die zwölf Zwickel des Kapellengewölbes. Michelangelo vereint damit im wichtigsten Sakralraum der damaligen Christenheit die griechisch-römische mit der biblischen Welt.
Propheten des Alten Testaments waren von Beginn an ein Thema der christlichen Kunst, denn das Christentum verstand die Geburt Christi, sein Leiden wie seine Auferstehung als Erfüllung dessen, was diese Seher vorhergesagt hatten. Die Sibyllen dagegen gehören der heidnischen Antike an; als Verkünderinnen der Staatsorakel hatten sie große Bedeutung. Die hohe Achtung, die das Volk den Sibyllen entgegenbrachte, versuchten christliche Autoren zu nutzen, indem man ihre Weissagungen mit christlichen Messiaserwartungen verknüpfte. Möglich war dies, weil die Sibyllen Zeugnis ablegen von nur einem Gott; außerdem sagen sie die Passion des Gottesssohns und das Jüngste Gericht voraus. Legitimiert für die christliche Theologie werden die heidnischen Seherinnen vor allem durch Augustinus: In einem ganzen Kapitel seines Werkes De civitate (18,23) beschäftigt er sich mit der Vision der erythräischen Sibylle zum Jüngsten Gericht.
Von Michelangelos sieben Propheten nehmen Zacharias und Jonas die beiden prominentesten Plätze ein, nämlich die an den Schmalseiten der Kapelle (Zacharias über dem Eingangsportal und Jonas über der Altarwand). Die übrigen fünf Propheten und fünf Sibyllen wechseln sich an den Längsseiten im Verhältnis 2:3 bzw. 3:2 ab; auf der Südseite die Delphica, Jesaja, die Cumäa, Daniel und die Libyca, auf der Nordseite Joel, die Erythräa, Hesekiel, die Persica und Jeremias.
Michelangelo: Decke der sixtinischen Kapelle (1508-1512); Rom, Sixtina (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Sehergestalten nehmen Plätze in kargen Sitznischen ein, deren Hauptmerkmal eine glatte, die Figuren überragende Rückwand und seitlich begrenzende, mit Puttenskulpturen dekorierte Pfeiler sind. Vorkragende, von Konsolen getragene steinerne Platten schaffen den Fußraum. Unterhalb dieser Platte, die unterschiedlich tief in den Gewölbezwickeln ihren Sitz hat, befindet sich eine große gerahmte, an grünen Bändern aufgehängte Tafel mit dem Namen der jeweils dargestellten Figur; noch darunter, im untersten Zwickel, stehen „lebendige“ Putten, die sich mit den grünen Girlanden beschäftigen oder auch die Tafeln stützen. Die Thronnischen werden bekrönt von einem reich profilierten, über den seitlichen Pfeilern verkröpften Gesims, das zugleich ein Teil des Rahmens ist, „der den gesamten flachen Deckenspiegel des Gewölbes als autonomen Bereich für die Darstellung des Genesis-Zyklus abtrennt und aussondert“ (Herzner 2015, S. 156).

Über den seitlichen Pfeilern der Thronnischen steigen Gurtbögen auf, die über den Deckenscheitel hinweg die Verbindung zu den Thronnischen der gegenüberliegenden Seite herstellen. Diese insgesamt zehn Gurtbögen gliedern den inneren Bereich der Decke in neun Felder, in denen neun Szenen aus den biblischen Genesis-Erzählungen dargestellt sind. Die Pfeiler, die die Thronnischen begrenzen, haben allerdings einen geringeren Abstand voneinander als die Pfeiler von einer Thronnische zur nächsten. Das hat Folgen für die Abmessungen der neun Bildfelder im Gewölbespiegel: Über den Thronnischen sind sie deutlich schmaler als über den Stichkappen. Es resultiert daraus ein Wechsel von vier breiteren und fünf schmaleren Feldern. Dieser Wechsel wird noch dadurch drastisch verstärkt, dass die breiteren Felder zur Gänze die Fläche zwischen den begrenzenden Gesimsen ausfüllen; den schmaleren steht jedoch, da an den beiden Schmalseiten bronzefarbene Medaillons eingefügt sind, nur eine sehr viel kleinere Fläche zur Verfügung. Außerdem sind den kleineren Bildfeldern die Ignudi zugeordnet: Diese nackte Jünglingsfiguren (siehe meinen Post „Michelangelo feiert das schöne Geschlecht“) sitzen auf Sockeln über den Pfeilern der Thronnischen einander gegenüber und halten sowohl Eichengirlanden als auch Bänder, die zur Befestigung der erwähnten Medaillons dienen.

Was nun alle Sibyllen Michelangelos verbindet, ist ihre heilsgeschichtliche Aufgabe: nämlich Künderinnen von Christi Geburt und Passion unter den Heiden zu sein. „Die unmittelbare Konsequenz davon ist, daß ihre Namen für die verschiedenen heidnischen Weltteile stehen, aus denen sie stammen“ (Herzner 2015, S. 178). Die Delphica, die Erythräa, die Cumäa, die Persica und die Lybica repräsentieren Griechenland, Ionien, Italien, Asien und Afrika. Die Seherinnen sind dabei in verschiedenen Altersstufen wiedergegeben. Allen Sibyllen sind zwei Putten, gelegentlich auch weiblichen Geschlechts, beigegeben, die sich zumeist in ihrem Rücken aufhalten.
Michelangelo: Die delphische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die delphische Sibylle ist von allen die jüngste. Sie sitzt schräg nach links auf ihrer Bank, den Blick anscheinend in die Tiefe der Kapelle gerichtet, doch galt ihre Aufmerksamkeit zuvor dem mit der linken Hand gehaltenen Rotulus, „als sie plötzlich, mit angstvoll geweiteten Augen den Kopf in die entgegengesetzte Richtung wendet, offenbar weil sie von dort einen Anruf empfing, der ihre Beschäftigung mit den schriftlichen Zeugnissen als nebensächlich erscheinen lässt“ (Herzner 2015, S. 180). Der fast waagrecht vor der Brust ausgestreckte linke Arm wirkt wie eine Barriere, „die den Kopf in die Tiefe rücken läßt, aus der heraus der Blick der Seherin umso nachdrücklicher in die Weite geht“ (ebd.). Zusätzlich geben der ansteigende rechte Arm und der die ganze Figur in ihrem Rücken einschließende Gewandbogen diesem Blick eine große Energie mit. Der Kopf ist ganz in Ruhe, das Gesicht dabei frontal wiedergegeben, was der Sibylle eine große Würde und Autorität verleiht.
Frauen, die ihre Muskeln spielen lassen
Die Erythräa galt als älteste Sibylle. Sie ist ebenfalls als junge und sehr würdevolle Gestalt dargestellt. Nach rechts gewendet und den Kopf ins Profil gedreht, sitzt die Erythräa mit übergeschlagenem Bein auf ihrer Bank; sie ist ganz nach links gerückt, um in dem hinter ihr stehenden, aufgeschlagenen Folianten lesen zu können. Der aufmerksame Blick auf den Text wird durch den ausgestreckten linken Arm unterstrichen. Die Sibylle hat jedoch mit der linken Hand am rechten Rand des Buches eine große Menge an Seiten in den Griff genommen. Das erscheint merkwürdig, ist aber wohl aus der Absicht zu erklären, den Schluss des Buches aufzuschlagen. Das Ende des Buches verweist auf das Ende der Geschichte, das Jüngste Gericht, dessen Künderin die Erythräa vor allem war. Ihre würdevoll-gelassene Haltung „könnte als Hinweis darauf zu verstehen sein, daß das endzeitliche Gericht unausweichlich allen Menschen bevorsteht“ (Herzner 2015, S. 182). Auf der rechten Seite hinter dem Buch sind zwei Putten zu sehen; sie verdeutlichen, dass über den Studien der Sibylle inzwischen die Nacht hereingebrochen ist, denn der eine ist im Begriff, mit einer Fackel eine Öllampe anzuzünden, während der andere sich vor Müdigkeit die Augen reibt.
Das Studium in einem Buch ist merkwürdigerweise auch die Haupttätigkeit der übrigen drei Sibyllen, der Cumäa, der Persica und der Libyca. Denn das Besondere sibyllinischer Weissagung bestand ja darin, dass sie nicht aus Büchern erfolgte, sondern auf unmittelbarer Eingebung beruhte. Dagegen ist bei Michelangelos Sibyllen „Sehen und Hören nicht dominant, sondern lesendes Forschen“ (Kuhn 1975, S. 49/50). Denn die Bücher dienen nicht zur Aufzeichnung der Weissagungen, was die Sibyllen ja auch niemals taten. „Michelangelo kam es anscheinend darauf an, die Sibyllen als reguläre Vertreterinnen der Buch-Religion zu ,verfälschen‘, aber damit gleichzeitig auch zu legitimieren. Offensichtlich war der Verzicht auf die den Sibyllen eigentümliche Raserei der Preis, den sie für ihre Akzeptanz als klarsichtige christliche Seherinnen zahlen mußten“ (Herzner 2015, S. 184).
Michelangelo: Die cumäische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die Cumäa ist die einzige der sixtinischen Sibyllen, die annähernd frontal auf der Bank sitzt, sodass ihre gewaltigen Beine in den Raum zu ragen scheinen. Sie blickt in den links von ihr aufliegenden Folianten, den sie mit beiden Händen offenhält. Ihr Kopf ist deswegen ins Profil gewendet, auch die Schulterpartie folgt dieser Bewegung. Quer vor der Figur erstreckt sich ihr nackter muskulöser linker Arm, der zusammen mit den wuchtigen bedeckten Beinen dieser Sibylle ihren geradezu herkulischen Charakter verleiht. Die Züge hohen Alters beschränken sich vor allem auf das Gesicht; sie äußern sich aber auch in der Weitsichtigkeit, wegen der die Sibylle das Buch von ihren Augen entfernt hält. Die Putten schauen der Cumäa beim Lesen zu, sie blicken ebenfalls in das Buch, anscheinend jedoch, ohne irgendetwas verstehen zu können; der vordere hält unter dem rechten Arm ein weiteres großformatiges Buch für künftige Studien der Sibylle bereit.
Michelangelo: Die persische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die Persica, zwischen den Propheten Hesekiel und Jeremias platziert, erscheint als Gegenstück zur Cumäa. Beide sind, so Carl Justi, „grandios häßliche Weiber“ (Justi 1900, S. 109), aber im Unterscheid zur kraftstrotzenden Cumäa ist die Persica dürr, bucklig und kurzsichtig – sie hält ihr Buch ganz nah vor die Augen, um die Schrift noch lesen zu können. Die Sibylle hat sich seitlich auf die Bank gesetzt, damit mehr Licht auf ihr Buch fällt, dabei ist ihr Kopf ins verlorene Profil gewendet. Die beiden Putten verhalten sich ruhig und andächtig; der vordere steht im Schatten, den das Buch wirft.
Michelangelo: Die libysche Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina
Die ebenfalls seitlich sitzende Libyca wendet sich nach links und hantiert mit einem großen Folianten in der Nische über und hinter ihr: Legt sie ihn weg, oder holt sie ihn herab? Da sie mit der linken Hand nicht den festen Einband erfasst, sondern nur etwa die erste Hälfte der Seiten etwas angehoben hat, „kann sie nicht im Begriff sein, das Buch auf der Ablage niederzulegen, aber ebenso wenig kann sie dabei sein, das Buch von dort herabzuholen“ (Herzner 2015, S. 186). Beachtet man, wie sie mit der rechten Hand unter die übrigen Seiten mitsamt dem Einband gegriffen hat, dann kann sie wohl nur beabsichtigen, den Folianten zu schließen. Die kunstvoll arrangierte Sitzhaltung der Sibylle lässt nicht darauf schließen, dass er an einer anderen Stelle, als er sich jetzt befindet, verwendet werden soll. Nur die Spitzen der Zehen berühren den Boden, der linke Fuß kann sich erhöht auf einen Holzblock stützen, wie er keiner anderen sixtinischen Sibylle zur Verfügung steht. Der Blick der Lybica ist gesenkt – oder sind die Augen geschlossen, weil der Blick nach innen geht? Die Sibylle hat vieles aus dem Buch erfahren, nun will sie vielleicht über das Gelesene nachsinnen. Dazu scheint die hereinbrechende Nacht die beste Zeit zu sein, die sich wiederum im Schlafsack des vorderen Putto und den abgelegten kostbaren Kleidern der zum Teil schon entblößten Libyca ankündigt.

Literaturhinweise
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;
Justi, Carl: Michelangelo. Beiträge zur Erklärung der Werke und des Menschen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1900;
Kuhn, Rudolf: Michelangelo. Die sixtinische Decke. Beiträge über ihre Quellen und zu ihrer Auslegung. De Gruyter, Berlin/New York 1975.

(zuletzt bearbeitet am 18. März 2024) 

Dienstag, 7. November 2017

Ins Ohr geflüstert – Rembrandt malt den Evangelisten Matthäus


Rembrandt: Der Evangelist Matthäus (1661); Paris, Louvre
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Bis in die Frühe Neuzeit galt das Matthäus-Evangelium als das wichtigste der vier Evangelien: Man ging davon aus, dass es, wie das Johannes-Evangelium, von einem Apostel geschrieben wurde und damit eine höhere Authentizität besaß als die beiden von Lukas und Markus, die gemäß der Überlieferung nur Schüler von Aposteln waren. Da man annahm, das Matthäus-Evangelium sei im Unterschied zu den drei anderen nicht in griechischer, sondern in hebräischer Sprache verfasst, hielt man es damals für das älteste der vier Evangelien – deswegen bekam es seinen Platz am Beginn des Neuen Testaments. In der bildenden Kunst wird Matthäus meist als Schreibender dargestellt, an einem Pult, mit Schreibfeder, Buch oder auch mit Buchrolle, und in der Regel identifizierbar durch sein Evangelistensymbol: einen Engel.
Rembrandts Gemälde von 1661 zeigt einen bärtigen Matthäus im Moment des inspirierten Schreibens. Er befindet sich vor einem Pult, dessen Tischkante parallel zur unteren Bildgrenze durch einen dicken Farbbalken sichtbar wird. Vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Buch, das die hellste Stelle des Gemäldes bildet. „Mit trockener Farbe und festem Strich hat Rembrandt die beleuchteten Kanten von sechs Buchseiten auf den graubraunen Malgrund gesetzt“ (Suthor 2014, S. 123). Es dürfte sich um das Manuskript seines Evangeliums handeln. Der Text besteht einfach aus waagrecht gezogenen, aus der Farbmasse herausgekratzten Linien.
Ein Engel tritt von hinten an den Evangelisten heran, legt ihm die Hand sanft auf die Schulter und flüstert ihm die Worte ins Ohr, die Matthäus niederschreiben soll. Wir sehen außer der rechten Hand und dem Kopf des Engels nur noch eine angeschnittene Schulter, auf die das gelockte Haar fällt – Flügel und Nimbus, die ihn als himmlisches Wesen kennzeichnen würden, fehlen auf den ersten Blick. Der Zwischenraum oberhalb der beiden Köpfe ist durch Farbtupfer ausgefüllt, die allerdings einen fedrigen Flügel meinen könnten. Rembrandts Engel aus Fleisch und Blut ist für den Betrachter eine reale Erscheinung, nicht aber für Matthäus – der seine Gegenwart gar nicht zu bemerken scheint.
Der Blick des Matthäus ist nicht auf sein Buch gerichtet, sondern scheint ganz nach innen gewendet zu sein, konzentriert horchend. Sein Mund ist wie der des Engels leicht geöffnet; während seine sehnige Rechte den Federkiel gezückt hält, streicht er mit der Linken über seinen Bart (ganz ähnlich wie in seinem Frühwerk Paulus im Gefängnis von 1627) – oder berührt seinen Hals. Der Geste des Matthäus, die sich im Zentrum des Gemäldes befindet, dürfte deswegen besondere Bedeutung zukommen: „Matthäus greift sich an sein eigenes Stimmorgan und öffnet den Mund. Er ist folglich Medium der Stimme, die er aufmerksam zu vernehmen scheint“ (Suthor 2014, S. 124).
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599); 1945 in Berlin verbrannt
Rembrandts Bildidee ist in Caravaggios erster Fassung seiner Matthäus-Darstellung vorformuliert (siehe meinen Post „Matthäus, der Analphabet“). Caravaggios Matthäus macht allerdings den Eindruck, als würde er in diesem Moment erst schreiben lernen. Ein Engel steht dicht neben ihm und hat seinen Arm ausgestreckt, um dem Evangelisten die Hand zu führen. Dessen Gesichtsausdruck zeigt nicht nur Einfalt, sondern ebenso großes Erstaunen. Matthäus wirkt, als würde er „erst mitlesend realisieren, was seine Hand notiert“ (Suthor 2014, S. 125/126). Ganz offensichtlich ist er nicht Autor des Textes – sondern quasi nur das Schreibwerkzeug. Caravaggio inszeniert in seinem Bild also vor allem den Engel als Medium für das Wort Gottes: Er greift sich – ähnlich wie der Matthäus von Rembrandt – mit der Linken an den Hals und hat den Mund sprechend geöffnet, als würde er dem Evangelisten nicht nur die Hand führen, sondern ihm dabei auch die niederzuschreibenden Worte diktieren.
Rembrandt: Titus, lesend (um 1656/57); Wien, Kunsthistorisches Museum
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Als Modell für Rembrandts Engel wird in der Regel Titus gesehen, der Sohn des Künstlers. Sein Bildnis in Wien, das ihn lesend darstellt, zeigt denselben Jungen mit großer Nase und tiefliegenden Augen in etwas jüngeren Jahren. Titus wurde 1641 geboren und überlebte als einziges der vier Kinder von Rembrandt und seiner Frau Saskia van Uylenburgh das Kindesalter. Kurz vor seinem Vater starb er Anfang September 1668 im 27. Lebensjahr an der Pest.

Literaturhinweis
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.

(zuletzt bearbeitet am 21. Januar 2021)

Samstag, 4. November 2017

Der helle Schein in unsren Herzen – Rembrandts „Selbstbildnis als Apostel Paulus“


Rembrandt: Selbstbildnis als Apostel Paulus (1661); Amsterdam, Rijksmuseum
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Rembrandt hat sich im Verlauf seiner Karriere vielfach in „Rollenporträts“ selbst dargestellt; sein erstes unstrittiges Selbstbildnis im Kostüm einer historischen Persönlichkeit und sein einziges als biblische Gestalt ist das Selbstbildnis als Apostel Paulus von 1661. Der Griff des Schwertes, der aus dem Mantel des Apostels ragt, spielt darauf an, dass er den antiken Märtyrerakten zufolge bei den Christenverfolgungen unter Kaiser Nero enthauptet wurde. Die Waffe verweist aber ebenso auf das Wort Gottes, das Paulus in seinem Epheserbrief als das „Schwert des Geistes“ bezeichnet (Epheser 6,17; LUT). Das halb aufgerollte Manuskript, dass der Apostel in den Händen hält, ist ein weiteres traditionelles Paulus-Attribut. Links oben auf der vorderen Seite sind hebräisch anmutende Zeichen zu erkennen. Dem Blick des Betrachters dargeboten, soll das Manuskript wahrscheinlich einen der Briefe darstellen, die der Apostel während seiner Gefangenschaft in Rom schrieb. Das Gefängnis wird durch das vergitterte Fenster im Hintergrund oben rechts angedeutet.
Paulus wurde insgesamt vier Mal eingekerkert, worauf er sich wiederholt in seinen Briefen bezieht, manchmal metaphorisch, indem er sich als „der Gefangene Christi Jesu“ bezeichnet (Epheser 3,1; LUT). Auch das Licht, das von links oben einfällt, gewinnt in diesem Zusammenhang symbolische Bedeutung – gemeint ist die göttliche Erleuchtung, die in den Paulusbriefen mehrmals thematisiert wird: „Denn Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ (2. Korinther 4,6; LUT).
Das intensiv beleuchtete Haupt des Apostels erinnert darüber hinaus an die Bekehrung des ehemaligen Christenverfolgers, der sich auf der Straße nach Damaskus „vom Saulus zum Paulus“ wandelte: „Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ (Apostelgeschichte 9,3-4; LUT). Die Kopfbedeckung ist nicht das Malerbarett, das wir aus anderen Rembrandt-Selbstbildnissen kennen, sondern eine Art Turban, der wohl auf den Vorderen Orient zur biblischen Zeit verweisen soll. Rembrandt hat hier die dicke Farbe in verschiedenen Tönen mit kräftigen Strichen übereinandergesetzt, um zu zeigen, wie sich der gewickelte Stoff über die Stirn spannt.
Rembrandt: Petrus und Paulus im Gespräch (1628); Melbourne, National Gallery of Victoria
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Rembrandt hat Paulus im Verlauf seiner Karriere mehrmals dargestellt. In einem seiner frühesten Gemälde, Petrus und Paulus im Gespräch, sind die beiden wichtigsten Apostel im Studierzimmer wiedergegeben, vielleicht in der Diskussion über die Geltung des jüdischen Gesetzes für die junge christliche Gemeinde begriffen (Apostelgeschichte 15,4-21). Auf einem weiteren Frühwerk sehen wir einen in sich gekehrten Paulus im Gefängnis, der im Schreiben innehält. Dass er in Gedanken versunken ist, machen die hochgezogenen Augenbrauen und die gerunzelte Stirn deutlich – durchaus vergleichbar mit dem Gesichtsausdruck auf dem Amsterdamer Selbstporträt.
Rembrandt: Paulus im Gefängnis (1627); Stuttgart, Staatsgalerie
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Christian Tümpel versteht Rembrandts Selbstbildnis als persönliches Bekenntnis: Wenn er sich in seinem späten Bild als Apostel Paulus darstellt, erkenne er damit an, wie unvollkommen sein Leben geblieben und wie sehr er auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sei. Als Mittelpunkt der paulinischen Verkündigung gilt, dass der Mensch ganz aus Gnade von Gott angenommen und „allein durch den Glauben“ gerecht wird (Römer 3,28; LUT). Wenn Rembrandt in die Rolle des Paulus schlüpft, dann liegt nahe, dass er sich mit dessen Theologie identifiziert und ihn als Glaubensvorbild betrachtet. Und dieser Rembrandt-Paulus ruft gleichzeitig auch den Betrachter auf, es ihm gleichzutun: „Folgt meinem Beispiel wie ich dem Beispiel Christi!“ (1. Korinther 11,1; LUT). Erinnert sei hier auch an Rembrandts Kreuzaufrichtung in der Münchner Alten Pinakothek, die auch ein Selbstbildnis bzw. Rollenporträt des Künstlers enthält: Rembrandt stellt sich als einen der Schergen dar und bekennt sich auf diese Weise zu seiner Mitschuld am Leiden und Tod Christi. Auch auf diesem Gemälde geht es neben dem persönlichen Bekenntnis darum, dass sich der Betrachter Rembrandt „anschließt“, sich in ihm wiedererkennt.
Rembrandt: Kreuzaufrichtung (1633); München, Alte Pinakothek
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Dass sich Rembrandt mit Paulus identifiziert, hängt möglicherweise nicht nur mit seinen religiösen Überzeugungen zusammen. Der Amsterdamer Meister hat im Lauf seines Lebens sehr häufig biblische Themen aufgegriffen und könnte sich, so die These von H. Perry Chapman, wie Paulus als Verkünder des christlichen Glaubens gesehen haben. Belegt ist das nicht, aber sicherlich wurde Paulus in den damaligen protestantischen Kreisen als zentrale Gestalt des Urchristentums betrachtet. Das dürfte ohne Frage auch Rembrandt so gesehen haben.

Literaturhinweise
Chapman, H. Perry: Rembrandt’s Self-Portraits. A Study in Seventeenth-Century Identity. Princeton University Press, Princeton 1990, S. 126;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 657-658;
Tümpel, Christian: Rembrandt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 125;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 16. März 2024)