Freitag, 30. Juni 2023

Bronzene Bildergeschichten – die Bernwardtür in Hildesheim

Bernwardtür (1015); Hildesheim, Dom
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Im Jahr 1015 gab Bischof Bernward (Amtszeit 933–1022) zwei große bronzene Türflügel in Auftrag – umstritten ist, ob für seine Hildesheimer Grabeskirche St. Michael (siehe meinen Post „Schlüsselwerke mittelalterlicher Baukunst“) oder von Anfang an für den westlichen Eingang des Hildesheimer Doms. Das monumentale Bronzewerk ist nach seinem Stifter benannt und nimmt unter den mittelalterlichen Türen einen besonderen Rang ein: Die Höhe der Bernwardtür beträgt 4,72 Meter – damit ist sie die größte ihrer Epoche. Sie ist die älteste figürlich geschmückte Bronzetür des Mittelalters mit einem der wahrscheinlich frühesten plastischen Groß-Bildzyklen nördlich der Alpen. Darüber hinaus gilt sie als eines der kühnsten Stücke mittelalterlichen Erzgusses überhaupt: Jeder ihrer Flügel wurde in einem Stück aus Bronze gegossen.

Wolfstür am Aachener Dom (um 800)
Holzportal in Sta. Sabina, Rom (um 430)

In einem Stück gegossene Bronzetüren ohne figürlichen Schmuck hatte um 800 Karl der Große in Aachen anfertigen lassen, um 1009 dann Erzbischof Willigis für den Mainzer Dom. Die Bernwardtür jedoch übertraf sie nicht nur durch ihre gewaltige Höhe, sondern auch durch die Reliefs, die die Hildesheimer Bronzetür zu einem monumentalen Bildwerk machen. Sowohl die Aachener wie die Mainzer Türen dürften Bernward bekannt gewesen sein, möglicherweise auch die spätantiken Holztüren in S. Ambrogio in Mailand aus dem 4. Jahrhundert und in Sta. Sabina auf dem Aventin in Rom aus den Jahren um 430 mit geschnitzten figürlichen Bildfeldern, wobei auf der römischen Tür sogar Ereignisse aus dem Alten und dem Neuen Testament gegenübergestellt waren. 

In ungewöhnlicher Plastizität wird in 16 Feldern die biblische Heilsgeschichte vor Augen geführt. Das Hochrechteck des äußeren Flügelrahmens ist jeweils in acht querrechteckige Bildfelder unterteilt, die durch eine breite Mittelleiste nochmals in Vierergruppen gegliedert werden. Im zweiten und dritten Feld überschneiden Löwenköpfe mit Zugringen die Trennungsleisten. Sie sind zum Schließen der Türen gedacht und wurden zusammen mit den Türflügeln gegossen. Die Bildfolge des linken, alttestamentarischen Flügels erzählt, von oben nach unten gelesen, die Erschaffung des Menschen, die Zusammenführung von Adam und Eva, den Sündenfall, die Verurteilung und Vertreibung aus dem Paradies, das Erdenleben, das Opfer von Kain und Abel und den Brudermord. Der rechte Flügel sind, von unten aufsteigend, neutestamentliche Szenen mit dem Erlösungswerk Christi dargestellt: die Verkündigung an Maria, die Geburt Christi, die Anbetung der Könige, die Darbringung im Tempel, Verurteilung und Kreuzigung Christi, das leere Grab und die Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena. Inhaltliche und kompositionelle Entsprechungen sind deutlich: Neben dem Sündenfall steht die Erlösung durch den Kreuzestod Christi im dritten Feld von oben. Dem Verhör der sündig gewordenen Stammeltern entspricht die Szene „Christus vor Pilatus“. Der ihre erstgeborenen Sohn nährenden Eva auf der linken Tür wird rechts die Gottesmutter mit dem Jesuskind auf dem Schoß aus der „Anbetung der Könige“ entgegengesetzt.

Wenn die Türflügel zunächst für St. Michael vorgesehen waren, dann ließ sie in den dreißiger Jahren des 11. Jahrhunderts Bernwards Nachfolger, Bischof Godeward, von dort in den Dom überführen und in eine glatte Wand einfügen. Dort überstand die Tür den Dom-Brand von 1046 unbeschadet. Dem Bombenangriff auf Hildesheim am 22. März 1945 entgingen die Türflügel nur, weil sie bereits knapp drei Jahre zuvor zusammen mit zahlreichen anderen Kunstwerken der Ausstattung ausgelagert worden waren. Um die kostbaren bronzenen Türen vor Umwelteinflüssen zu schützen, wurden beide Flügel im Zuge des Dom-Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Bildflächen nach innen gedreht. Nach Abschluss der Sanierungsarbeiten hat die Bernwardtür wieder ihren ursprünglichen Standort eingenommen: am Eingang zum Inneren des Doms. Eine Vorhalle im Westwerk sorgt dafür, dass die nach außen zeigenden Bildwerke nicht der Witterung ausgesetzt sind.

Die einzelnen Figuren auf den 16 Bildfeldern weisen unterschiedliche Relieftiefen auf: Einmal verschmelzen sie fast mit dem Hintergrund und wirken dann wieder wie auf die Bildfläche aufgesetzt. Aber alle greifen mit Schultern und Kopf in den Raum hinein, heben sich mit diesen Körperteilen weit vom Reliefgrund ab und werden zu vollplastischen Gestalten.

Die Erschaffung Adams
Im ersten Relief mit der Erschaffung Adams (1. Mose 2,4-25) führen diagonal entwickelte Rankengewächse auf die Hauptgruppe zu: Nach dem Bibeltext ist es Gottvater, der Adam seinen Odem einhaucht. Sein Kreuznimbus lässt allerdings vermuten, dass nicht Gottvater als Schöpfer gezeigt werden soll, sondern der göttliche Logos, das in Christus menschgewordene Wort des Vaters, von dem der Prolog des Johannes-Evangeliums sagt, dass alles durch dieses Wort gemacht geworden ist (Johannes 1,1-3).

Zuführung Evas
Schon auf dem ersten Bildfeld, stärker noch in der nach rechts versetzten, Haupt- und Nebenszene trennenden Blütenpflanze, wird deutlich, wie Ornamentales in die Darstellung einbezogen ist. Bei der Figur am rechten Rand des Bildfeldes handelt es sich ebenfalls um Adam, der in Adorantenhaltung Gottvater bzw. Christus als Logos und seinem Schöpfungswerk huldigt. In der „Zuführung Evas“ im zweiten Bildfeld ist Gottvater/Christus durch seine menschliches Maß überragende Größe ausgezeichnet. Behutsam die Rechte auf Evas Schulter legend, geleitet er sie zu Adam. Die beiden Urmenschen wiederum scheinen nur Augen für ihr Gegenüber zu haben und von ihrem Schöpfer gar keine Notiz zu nehmen.

Der Sündenfall
Der „Sündenfall“ (1. Mose 3) im dritten Bildfeld muss von rechts nach links gelesen werden. Am rechten Rand steht der mit Äpfeln behangene Baum der Erkenntnis. Die Schlange hat sich um dessen Stamm geschlungen und einen Apfel mit dem Maul gepackt, um ihn Eva anzubieten. Eva, mit Beinen und Unterkörper dem Reptil zugewandt, kehrt Kopf und Arme Adam zu und reicht ihm gleich mit beiden Händen Früchte vom verbotenen Baum. Der Apfel „vervielfältigt“ sich sozusagen, wandert von der Schlange zu Eva und weiter zu Adam; die Stadien des Sündenfalls werden also synchron dargestellt. Außer der Schlange im rechten Baum beobachtet im Baum hinter dem Rücken Adams ein Drachen das Geschehen – ein in der Bildtradition nicht bekanntes Motiv.

Gericht über Adam und Eva
Dem Sündenfall folgen im nächsten Relief Verhör und Verurteilung der Stammeltern durch Gottvater. Seine Figur ist nach rechts geneigt, der ausgestreckte Zeigefinger der linken Hand richtet sich zürnend auf den schuldbewusst und ängstlich gebeugten Adam. Der wiederum weist mit zwei Fingern seiner unter dem linken Arm durchgeschobenen rechten Hand auf Eva, um von der eigenen Verfehlung abzulenken und sie als die eigentlich Sünderin hinzustellen. Eva schließlich, noch stärker zusammengekrümmt als Adam, zeigt mit ihrer linken Hand auf den am Boden sitzenden Teufel, der hier nicht als Schlange, sondern als Mischwesen mit Drachenkopf und Flügeln dargestellt ist. Unmittelbare Folge des Sündenfalls ist, dass die Ureltern sich als nackt erkennen und mit einem großen Blatt ihre Scham bedecken, Adam mit der linken, Eva mit der rechten Hand.

Vertreibung aus dem Paradies
In der Vertreibungsszene dominiert der Engel mit seinem (heute teilweise abgebrochenen) Schwert die linke Bildhälfte, die durch Rankengewächse als Garten Eden gekennzeichnet ist. In Haltung und Gebärde hat der Engel die Rolle Gottvaters übernommen. Auf sein „Hinaus!“ reagiert die sich zurückwendende Eva mit der unausgesprochenen Frage, ob dieser Richtspruch wirklich endgültig sei, während Adam schicksalsergeben aus dem Paradies schleicht. „Spätestens bei diesem Bild wird ablesbar, wie sehr auch die Pflanzen, deren Blattspitzen sich welk zu Boden wenden, der Intensivierung und Ausdeutung des szenischen Gehalts nutzbar gemacht werden“ (Kahsnitz 1993, S. 507). Erstmals wird auf der rechten Seite nun Architektur ins Relief eingeführt, die aber ganz flächenhaft bleibt.

Das Erdenleben der Stammeltern
In das sechste Bildfeld ragt fast mit seiner ganzen Kreisform das Rund eines Löwenkopfes hinein; geschildert das Erdenleben der ersten Menschen. Adam, am linken Bildrand platziert, blickt in gebeugter Haltung und mit erhobener Hacke zu einem Engel empor, der ihn anweist, wie er das Feld zu bebauen hat. An die Stelle der reich sich entfaltenden Paradiesbäume ist ein kleiner, in sich geschlossener, abweisender Strauch getreten. Die rechte Seite des Reliefs wird von Eva eingenommen, die unter einer laubenartigen, an zwei Bäumen befestigten Stoffdrapierung sitzt und dem Kind auf ihrem Schoß die Brust gibt. In strenger Frontalität wölben sich Kopf und Oberkörper der Urmutter nach vorne. In dieser Figurengruppe scheinen geradezu alle späteren plastischen Sitzmadonnen vorgeformt zu sein.

Das Opfer der Söhne
Der Brudermord Kains
Es folgen nun auf dem linken Türflügel noch das „Opfer der Söhne“ und der „Brudermord Kains“ (1. Mose 4,1-16). Zwischen Abel, der auf verhüllten Armen sein Opferlamm heranträgt, und dem seine Ährengabe in den Händen haltenden Kain erscheint in bildbeherrschender Ellipse die Hand Gottes. Während der jüngere Sohn zu der göttlichen Erscheinung aufblickt, wirkt Kain unbeteiligt. „Wie ein weites Segel umfängt ihn der im Wind auffliegende Mantel“ (Grimme 1985, S. 29). Die Richtung der Gotteshand und die sich ihr öffnende Pflanze vor Abel, der zusammenschrumpfende, sich schließende Strauch vor Kain deuten an, wessen Gabe angenommen und wessen verworfen wird. Ranken mit ornamentalisierendem Blattwerk füllen die verbleibenden Bildflächen. Im letzten Feld des Türflügels fehlen sie hingegen völlig. „Die Mordszene vertrug kein schmückendes Beiwerk mehr“ (Grimme 1985, S. 29). Rechts sehen wir Kain, der mit seiner erhobenen Keule auf den zu Boden stürzenden Bruder einschlägt – der hinter ihm flatternde Mantel verdeutlicht die Wildheit seines Anschlags. Auf der linken Seite steht Kain abermals, jetzt mit gesenktem Mordwerkzeug und mit der Rechten seinen Mantel um sich hüllend, als wollte er sich gegen die aus den Wolken herabfahrende Hand Gottes schützen.

Der Türflügel rechts mit den Szenen aus dem Neuen Testament muss in umgekehrter Reihenfolge betrachtet werden. Hier wird die Erlösungsgeschichte dem Sündenfall und seinen Folgen für die Menschheit gegenübergestellt. Anders als auf dem linken Flügel sind die Felder stärker gefüllt. „Die leere Fläche als eines der wichtigsten Kompositionselemente verliert an Bedeutung“ (Kahsnitz 1993, S. 507). Mehr Figuren als links, gelegentlich ganze Gruppen, treten plastisch aus dem Grund heraus. Dabei stehen sie nicht mehr auf den unteren Rahmenleisten, sondern auf flachen Bodenwellen oder auf kleinen Hügeln, die sich unter den einzelnen Gestalten aufwerfen. Architektur, die im linken Flügel nur in der Vertreibungsszene als Randmotiv vorkommt, taucht nun deutlich häufiger und umfangreicher auf, besonders auffallend in den unteren drei Rechtecken.

Verkündigung an Maria
Im untersten Feld bildet Architektur in flacher Reliefebene die Kulisse, vor der Maria die Botschaft des Engels empfängt (Lukas 1,26-38). Gabriel tritt von rechts heran; seine Linke hält einen Kreuzstab, der ausgestreckte rechte Zeigefinger veranschaulicht als Redegestus sein Sprechen. Flach bleibt der antikisch in Tunika und Pallium gehüllte Köper der Fläche verbunden, ebenso die sich hinter dem Rücken nach links und rechts ausbreitenden Flügel. Nur der Kopf steht frei vor dem Grund. Eine geöffnete Tür gibt Einblick in das Gemach der Jungfrau. Maria ist von dem Faltstuhl, auf dem sie gesessen hat, aufgestanden und kommt dem Engel entgegen. Wie in leiser Abwehr hat sie den linken Arm mit der ausgebreiteten Hand vor den Körper erhoben. Die Rechte hält – sehr ungewöhnlich – einen Palmzweig. Dieses Attribut, sonst das der Märtyrer, „muß als Jungfräulichkeitssymbol verstanden werden, wobei die Wortähnlichkeit von virgo und virga auslösendes Element für solche Deutung gewesen sein dürfte“ (Kahsnitz 1993, S. 510).

Geburt Christi
Für die „Geburt Christi“ hat der Künstler ein stadtähnliches architektonisches Szenarium mit Mauerumwallung, Säulenarkaden, Bogenstellungen und Giebelbauten geschaffen. Maria ist in Aufsicht wiedergegeben und ruht auf einem Lager. Blick und Handgebärden sind auf eine am Bettrand stehende Frau bezogen, die angstvoll das Haupt auf ihre Rechte stützt, während sie die Linke offensichtlich hilfesuchend Maria entgegenstreckt. Es ist vermutlich die Hebamme Salome, von der die Legende berichtet, dass ihr wegen ihrer Zweifel an Mariens Jungfräulichkeit die Hand verdorrt sei. Ihre Heilung galt als erstes von Christus gewirktes Wunder. Die Krippe in der rechten Bildhäfte ist auf Dachfirsthöhe der mehrgeschossigen Häuser im Hintergrund platziert. Christus liegt kreuzförmig gewickelt in dem Trog (ein Verweis auf seinen späteren Opfertod), an dessen Fußende ragen die Köpfe von Ochs und Esel aus dem Reliefgrund auf. Christi Haupt ist von einem Kreuznimbus hinterfangen, die rechte Hand weit geöffnet und auf Salome bezogen, die durch diese Geste geheilt wird. Josef wiederum sitzt mit aufgestütztem Kinn in „Denkerpose“ auf einer Thronbank.

Anbetung der Könige
Für die „Anbetung der Könige“ wird durch säulengestützte Bogenläufe ein Raum angedeutet, in dem sich, von rechts heranschreitend, die Weisen aus dem Morgenland der Mutter mit ihrem Kind nähern. Es sind feingliedrige Gestalten, die mit ausgestreckten Händen ihre Gaben darreichen. Der Mittlere weist mit seiner Rechten auf den Stern, der im Himmel über dem Christuskind leuchtet, Maria ist den Königen zugewandt: „In kühner Bewegung wachsen der Oberkörper und das Kind auf dem Schoß aus der Relieffläche heraus und gewinnen plastisches Eigengewicht“ (Grimme 1985, S. 331). In den Schollen- und Rankengrund des Bodens greift die Mähnenscheibe des Löwenkopfs mit dem Türgriff ein und verdeckt die Beinpartie des ersten Königs.

Darbringung Christi im Tempel
Die „Darbringung Christi“ deutet den Tempel durch eine Giebelarchitektur an, um deren tragende Säulen sich Vorhänge schlingen. In der Mitte steht ein Altarblock, der den Ort der handlung angibt, an dem sich Beschneidung und Opferung vollziehen. doch der eigentliche Vorgang ist in die Bildmitte gerückt: Hier begegnen sich Maria und Simeon (Lukas 2,21-40), die das Kind zwischen sich halten. Am rechten Bildrand verharrt Josef, der in seinen ausgestreckten Armen die Opfertauben hält.

Christus vor Herodes/Pilatus
Die Bilderzählung wechselt nun von der Verehrung des Kindes zur Verspottung Christi durch den gekrönten Herodes. Doch scheinen hier der Vierfürst von Judäa und der römische Landpfleger Pontius Pilatus in einer Figur dargestellt zu sein, um den Lukastext (23,9-11) illustrieren zu können. Von links wird Jesus herangeführt. Der durch seine Größe bedeutungsmäßig herausgehobene Erlöser hat das Haupt gesenkt. Rechts thront die „Doppelfigur“ Pilatus-Herodes unter einer Bogenstellung des Palastes, im Profil gezeigt und der herankommenden Dreiergruppe zugewandt. Zugeordnet ist ihm der Teufel in Gestalt eines Dämons mit Schuppenpanzer und Klauenfüßen. Die Palastarchitektur in der rechten Bildhälfte bildet einen lebhaften Kontrast zu der leeren Fläche, vor der Christus und die beiden Schergen erscheinen. Als Mitte der Komposition scheidet der linke Turm „die von Christus bestimmte Hälfte von der dem Bösen zugewiesenen rechten“ (Grimme 1985, S. 32).

Die „Kreuzigung“ ist als strenge Zentralkomposition angelegt. Ihre Mitte bildet das Kreuz als Lebensbaum, vor dem Christus mit geneigtem, vom Kreuznimbus hinterfangenen Haupt steht, die Füße nebeneinander auf dem Suppedaneum. Den ans Kreuz gehefteten erhobenen Armen antworten die Lanze und die ein kelchförmiges Gefäß tragende Stange, die der Legende nach Longinus und Stephaton auf Christus gerichtet haben. Maria und Johannes begrenzen die durch ihre feierliche Symmetrie gekennzeichnete Darstellung. Das herabgeneigte, im Tod friedvoll entspannte Antlitz mit den kugeligen, geschlossenen Augen sowie der stilisierten Haar- und Bartracht verweist in seiner Hoheit und Würde voraus auf den um 1060 entstandenen Essen-Werdener Bronzekruzifixus (siehe meinen Post „Der korrodierte Christus“).

Kreuzigung Christi (unten); Die drei Frauen am Grabe (oben)
Kopf des Essen-Werdener Bronzekruzifix (um 1060)
Ähnlich dem Zug der drei Könige nähern sich im vorletzten Feld drei Frauen mit ihren Salbgefäßen dem Grab Jesu (Lukas 23,50-24,1-9), die Köpfe geneigt. Der Engel, der ihnen verkündet: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden“ (Lukas 24,6; LUT), sitzt auf einem Pfostenthron und hat im Redegestus die Linke erhoben. Das Grab ist als kirchenartiger Bau dargestellt; zwischen den giebeltragenden Säulen hängt ein geknotetes Velum. Das letzte Bildrechteck zeigt das „Noli me tangere“ (Johannes 20,11-18). Maria Magdalena ist unter einem großen Baum in die Knie gegangen, die Arme nach Christus ausgestreckt, der die Mitte der Komposition beherrscht. Den linken Fuß bereits in Schrittstellung, sind sein Haupt und die rechte Hand noch Maria Magdalena zugewandt. Christi Arm nimmt gleichsam ihre Rückenlinie auf und verlängert sie zu seinem Haupt mit dem großen Tellernimbus. In seiner Linken hält Christus ein großes griechisches Kreuz als Tropaion empor.

Noli me tangere
Es ist mit dieser Szene wohl nicht nur die Begegnung zwischen Jesus und Maria Magdalena gemeint, sondern auch die Rückkehr des Auferstandenen zu seinem himmlischen Vater. Drei Vögel, einer zur Erde gewandt im Baum über Maria Magdalena, zwei andere in der rechten Bildhälfte, die sich mit geöffneten Flügeln aus den Zweigen von Rebstöcken emporschwingen, können als ungewöhnlicher Hinweis auf die Himmelfahrt Christi gedeutet werden. Die Architektur neben Christus ist wohl als Grabturm zu verstehen, dessen verschlossene Tür der Auferstandene überwunden hat.

In der älteren kunstwisschenschaftlichen Forschung bestand Einigkeit darüber, dass die unterschiedliche Ausarbeitung der Figuren auf den 16 Bildfeldern die Beteiligung mehrerer Künstler voraussetzt. Rudolf Wesenberg hat 1955 versucht, die verschiedenen Meister zu charakterisieren und ihren Anteil am Gesamtwerk aufzuzeigen; dabei ermittelte er sechs nebeneinander im Hildesheimer Werkstattbetrieb arbeitende Meister. Rainer Kahsnitz hat diese Zuschreibungen allerdings 1993 in Zweifel gezogen, da die Unterschiede in der Bearbeitung der Reliefs so geringfügig seien, dass sie eher technischen Notwendigkeiten als unterschiedlichen künstlerischen Auffassungen zu verdanken seien. „Versuche, verschiedene Meisterhände zu scheiden, erscheinen verfehlt – was nicht heißen muß, daß nicht mehrere Personen an dem Werk beteiligt sein können“ (Kahsnitz 1993, S. 512).

Einen Hinweis auf die Entstehung der Berndwardtür gibt die auf der mittleren Querleiste des Rahmens eingegrabene lateinische Inschrift. Sie lautet in Übersetzung: „Im Jahre nach der Menschwerdung des Herrn 1015 ließ Bischof Bernward göttlichen Angedenkens diese gegossenen Türflügel an der Fassade des Engeltempels zu seinem Gedächtnis aufhängen“. Die Inschrift ist nicht mitgegossen, sondern nachträglich eingemeißelt worden. Die Formulierung „göttlichen Angedenkens“ zeigt an, dass dies erst nach dem Tod Bernwards 1022 geschehen sein kann. Unter dem Engeltempel hat man lange Zeit die Kirche St. Michael verstanden, obwohl sie der Jungfrau Maria und dem Erzengel Michael und nicht generell den Engeln geweiht war und auch niemals als Engelkirche bezeichnet worden ist. Kahsnitz hält es deswegen für wahrscheinlicher, dass die Türen von Anfang an für das Westwerk des Domes bestimmt waren, das wie oft dem Erzengel Michael und allen Engeln geweiht gewesen sein dürfte.

 

Literaturhinweise

Grimme, Ernst Günther: Bronzebildwerke des Mittelalters. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 24-35;

Hoffmann, Rainer: Im Paradies. Adam und Eva und der Sündenfall – Albrecht Dürers Darstellungen. Böhlau Verlag, Wien/Köln, 2021, S. 75-84;

Kahsnitz, Rainer: Bronzetüren im Dom. In: Michael Brandt/Arne Eggebrecht (Hrsg.), Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog der Ausstellung Hildesheim 1993. Band 2. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1993, S. 503-512;

Klotz, Heinrich: Geschichte der deutschen Kunst. Erster Band: Mittelalter 600 – 1400. Verlag C.H. Beck, München 1998, S. 128-132;

Schütz, Bernhard: Zum ursprünglichen Anbringungsort der Bronzetür Bischof Bernwards von Hildesheim. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), S. 569-599;

Wesenberg, Rudolf: Bernwardinische Plastik. Zur ottonischen Kunst unter Bischof Bernward von Hildesheim. Deutscher Verein für Kunstwissenschaft, Berlin 1955;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


Donnerstag, 15. Juni 2023

Die unfertige Eva – Auguste Rodins Sündenfall-Skulpturen

Auguste Rodin: Eva (1881); Frankfurt, Städel Museum
Eva ist die erste großplastische Figur im Werk des französischen Bildhauers Auguste Rodin (1840–1917). Die Bronzekulptur wurde ursprünglich im Zusammenhang des seit 1880 in staatlichem Auftrag entstehenden Höllentors konzipiert. Die lebensgroße Urmutter sollte zunächst am Mittelpfosten aufgestellt werden, in einem modifizierten Entwurf dann – gemeinsam mit dem Adam – das Tor freistehend flankieren. Diese Idee mag der Bildhauer in Erinnerung an den Foscari-Bogen im Vorhof des Dogenpalastes in Venedig entwickelt haben: Dort sind die beiden überlebensgroßen Adam- und Eva-Statuen von Antonio Rizzo (1430–1499) voneinander getrennt vor jeweils eine Nische gestellt.

Antonio Rizzo: Eva (um 1485); Venedig, Dogenpalast
Da Rodins Auftraggeber die Aufstellung der Stammeltern im Kontext des Höllentors jedoch ablehnte, vereinzelte der Künstler die Eva zur Freifigur. Als eigenständige Plastik wurde sie erstmals 1899 in Paris der Öffentlichkeit präsentiert. Allerdings wirkte die unregelmäßige, grobe, fast raue Oberfläche – insbesondere am Bauch, aber auch an der linken Hand und am Kopf – auf das ansonsten sehr wohlwollende Publikum wie nicht vollendet. Denn auf das abschließende Glätten und Polieren der Bronzefigur zu verzichten, war zur damaligen Zeit revolutionär. Die sichtbaren Gussnähte und Armierungen verstärkten diesen Eindruck noch. Und genau dieser Effekt war auch von Rodin beabsichtigt. Er führte das sogenannte Non-Finito, das Unfertige, als wichtiges Stilmittel in die moderne Plastik ein und legte durch die skizzenhafte Ausführung seiner Skulpturen den künstlerischen Gestaltungsprozess offen.

Michelangelo: Vertreibung aus dem Paradies (1508-1512), Rom, Sixtinische Kapelle
Rodin zeigt Eva nicht als Verführerin, wie sie so oft in der Kunstgeschichte dargestellt wurde, sondern im Moment der Vertreibung aus dem Garten Eden. Dabei hat er seine Figur formal wie inhaltlich Michelangelos Sündenfall-Darstellung in der Sixtinischen Kapelle angenähert. Mit dem rechten Arm bedeckt Eva ihre Brüste; den linken hat sie angewinkelt und erhoben, um ihr Gesicht zu verbergen. Der Kopf ist tief herabgebeugt und nach links gewendet. Aber es ist weniger die Scham über die eben entdeckte Nacktheit, die ihre Gestik motiviert, als tiefe Reue und innerste Verzweiflung über die unbedachte, folgenschwere Tat.

Für Rainer Maria Rilke (1875–1925), der die Eva in seinem Rodin-Buch von 1902 beschrieben hat, drückt die Haltung der Urmutter nicht allein Scham angesichts ihrer Verfehlung aus. Sie erkennt zugleich, dass sie schwanger ist und damit, da sich die Erbsünde auf das Menschengeschlecht übertragen wird, der Ursprung von dessen Unheilsgeschichte. Bei Rilke heißt es: „Der Kopf senkt sich tief in das Dunkle der Arme, die sich über der Brust zusammenziehen wie bei einer Frierenden. Der Rücken ist gerundet, der Nacken fast horizontal, die Haltung vorgebogen wie zu einem Lauschen über dem eigenen Leibe, in dem eine fremde Zukunft sich zu rühren beginnt.“ (Rilke 1965, S.161/162)

Paul Dubois: Die Geburt der Eva (1875);
Paris, Petit Palais
Jean-Antoine Houdon: Die Frierende (1783);
Montpellier, Musée Fabre
Neben den Michelangelo-Anlehnungen gibt es noch zwei Skulpturen französischer Bildhauer, die als mögliche weitere Anregungen für Rodins Eva gelten: Paul Dubois’ Geburt der Eva von 1873 und Die Frierende von Jean-Antoine Houdon, 1783 entstanden. Von seiner Eva schuf Rodin bis 1901 verschiedene, zum Teil im Format reduzierte Varianten in unterschiedlichen Materialien.

Auguste Rodin: Adam (1912 gegossen);
New York, Metropolitan Museum
Michelangelo: Pietà Bandini (unvollendet);
Florenz, Museo dellOpera del Duomo
Michelangelo: Die Erschaffung Adams (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle
Die um 1877/78 begonnene Skulptur des Adam belegt die Bewunderung Rodins für Michelangelo, dessen Werke er bei seiner ersten Italienreise Anfang 1876 entdeckt hatte: Die Skulptur des Urvaters ist deutlich erkennbar von der Christusfigur der Pietà Bandini inspiriert (heute im Museo dell’Opera del Duomo in Florenz) – insbesondere der auf die Schulter geneigte Kopf, das gebeugte Bein und die Drehung des linken Armes. Der rechte Arm des Adam wiederum verweist auf Michelangelos Fresko Die Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Das Gipsmodell des Adam wurde im Mai 1881 im Pariser Salon als eigenständige Figur ausgestellt; sie trug dort noch den Titel Die Erschaffung des Menschen. In der Tat ist Adam in dem Moment dargestellt, als er aus dem Schöpfungslehm ersteht: Sein rechter Arm zeigt sehr anschaulich, dass er nach und nach zum Leben erweckt wird.

 

Literaturhinweise

Le Normand-Romain, Antoinette: „Eine der schönsten Inkarnationen der ersten Frau“. Die Figur der Eva. In:  Agnes Husslein-Arco/Stephan Koja, Rodin und Wien. Hirmer Verlag, Münchewn 2010, S. 67-82;

Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Fünfter Band: Worpswede. Auguste Rodin. Aufsätze. Insel Verlag. Frankfurt am Main 1965.