Samstag, 17. Juli 2021

Barock-Splatter – Caravaggio malt „Judith und Holofernes“

Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
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Der italienische Barockmaler Caravaggio (1571–1610) ist der erste Künstler, der in aller Drastik zeigt, wie die schöne Witwe Judith den berauscht in den Schlaf gesunkenen assyrischen Heerführer Holofernes in seinem Feldlager enthauptet. In der Regel wurde Judith mit dem bereits abgetrennten Kopf des Holofernes abgebildet, der Trophäe ihrer Entschlossenheit und ihres Mutes, so z. B. von Giorgione (um 1504), Lucas Cranach (um 1530) oder Tintoretto (1577). Donatellos berühmte Judith und Holofernes-Gruppe wiederum zeigt den Moment vor dem entscheidenden Hieb (siehe meinen Post Ein äußerst kopfloser Heerführer).
Giorgione: Judith mit dem Haupt des Holofernes (um 1504); St. Petersburg, Eremitage
Lucas Cranach d.Ä.: Judith mit dem Haupt des Holofernes (um 1530);
Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
Tintoretto: Judith und Holofernes (1577); Madrid, Museo del Prado
Caravaggio zwingt den Betrachter zur Nahsicht auf das gewaltsame Geschehen, als sei er Zeuge im selben finsteren Raum wie die im Bild agierenden Personen. Die Szene spielt sich ab vor einem fast schwarzen Hintergrund ohne räumliche Tiefe, in den aus unsichtbarer Quelle von links scheinwerferartiges Licht auf die Figuren fällt. Judith, ihre Magd Abra und Holofernes sind nebeneinander in der vorderen Bildebene angeordnet. Alle drei Figuren wirken eigentümlich erstarrt und wie in einem „schicksalhaften Entscheidungsmoment stillgestellt“ (Uppenkamp 2004, S. 67). 
Das Gemälde ist geradezu in zwei Hälften geteilt. Die linke Seite des Holofernes wird beherrscht vom Aufruhr und vom blutigen Rot. Das unruhige Spiel von Licht und Schatten auf dem Körper des Feldherrn setzt sich auf dem Vorhang hinter ihm fort: Durch die Drapierung wechseln sich hier tief dunkle und leuchtend rote Zonen ab. Die rechte Bildseite mit den beiden Frauen ist dagegen sehr viel gleichmäßiger ausgeleuchtet, besonders die Gestalt der Judith. Es sind ihre parallel geführten Arme, die beide Bildhälften miteinander verbinden.  
Mit dem ausgestrecktem linken Arm hält Judith den Kopf des Holofernes am Haupthaar fest, während sie mit der anderen Hand das Schwert führt. Psychologisch genau beobachtet ist die Mischung aus Entschiedenheit und Ekel, die sich in ihren Zügen spiegelt. Vor allem die steile Falte zwischen den Augenbrauen markiert dabei sowohl körperliche Anstrengung und Konzentration wie auch Abscheu vor der eigenen Tat. Judiths Körper ist leicht nach hinten gebogen, um gleichsam auf Abstand zu ihrem Opfer zu bleiben. 
Caravaggios Heldin führt mit dem Schwert keinen kräftigen Hieb aus, sondern tranchiert den Kopf geradezu, als handele es sich um einen Quarkkäse. Das ist nun alles andere als realistisch. Anatomisch betrachtet, wird Judith mit ihrem gestreckten rechten Arm wohl kaum die Wirbelsäule des Holofernes durchtrennen können, zumal sie als Schneidewerkzeug ein flach geschliffenes, altertümliches Türkenschwert benutzt, also eine klassische Hieb- und Stichwaffe. Allerdings gelingt es Caravaggio auf diese Weise, die ansonsten sekundenschnelle Enthauptung zu verlangsamen; der Zuschauer kann alles genau beobachten.  
Ebenso unrealistisch wie das mühelose Durchtrennen des Halses ist der dekorative und geordnete Blutschwall. An der Halsschlagader wird keine Blutfontäne in die Höhe gepumpt, wie man es erwarten würde, einzig ein mehrstrahliges, opakes Rinnsal fließt in geraden Bahnen über Kopfkissen und Laken der Erde entgegen. Die hervorquellenden Augen und der aufgerissene Mund des Heerführers zeugen derweil eher von jähem Schrecken als von einem dramatischen Todeskampf. Holofernes stirbt, ohne vielleicht recht zu wissen, wie ihm geschieht. Mit der rechten Hand stützt er sich ab, um den muskulösen Oberkörper aufzurichten; sein Unterleib bleibt von einem anthrazitfarbenen Tuch bedeckt. 
Der ungerührte Blick der Dienerin wiederum scheint sich über das, was sich hier gerade ereignet, nicht im mindesten zu wundern. „Wer zuerst auf die Bildmitte mit dem noch halb lebenden, schreienden Holofernes blickt und dann über Judiths Arme nach links zur Hauptakteurin schweift, wird am rechten Bildrand von diesem funkelnden Blick wieder zum Ausgangspunkt zurückgeworfen, in einer Endlosschleife wiederholten Betrachtens, die kein Entrinnen zulässt (Ebert-Schifferer 2015, S. 47). In den Händen hält die Alte den Sack, der für das Haupt des Holofernes vorgesehen ist. Ansonsten erinnert Caravaggios Magd an die betagten Kupplerinnen, die auf den erotischen Gemälden des 16. und 17. Jahrhunderts oft in der Zuschauerrolle abgebildet sind. Die Bibel allerdings berichtet nichts von einem großen Altersunterschied zwischen Judith und ihrer Magd.
Gerrit van Honthorst: Bei der Kupplerin (1625); Utrecht, Centraal Museum
Caravaggio ist immer wieder für seinen „Naturalismus“ gerühmt worden – mit Recht. Aber auch er greift, wie so viele Künstler vor und nach ihm, auf antike Vorbilder zurück bzw. spielt auf sie an: So verweisen die Mimik – der geöffnete, bärtige Mund und die gefurchte Stirn – , der muskulöse Oberkörper, die geballte Linke und die angewinkelten Arme wie überhaupt die verrenkte Pose des Holofernes auf die Skulptur des Laokoon (siehe meinen Post Das ultimative antike Meisterwerk). In Caravaggios Gemälde ist die Statue lediglich um neunzig Grad gedreht. Der Sterbende blickt nun nicht verzweifelt in den Himmel, wo sein Schicksal besiegelt worden ist, sondern rücklings in das Antlitz seiner realen Mörderin (Oberli 2001, S. 155). Judith wiederum folgt dem Typus einer antiken Amazone, und die Magd, die eigentlich nach der biblischen Erzählung vor dem Zelt zu warten hätte, erinnert an eine römisch-republikanische Porträtbüste einer alten Frau. Sybille Ebert-Schifferer sieht in der Dienerin eine Auseinandersetzung Caravaggios mit einer berühmten antiken Skuptur, und zwar der Trunkenen Alten (siehe meinen Post Der Trost der Trauben). Dabei überblende der Maler die hellenistische Figur mit einem auf Leonardo zurückgehenden Typus, der in zahlreichen Zeichnungen von ihm und seinen Schülern überliefert ist.  Indem Caravaggio die Magd mit ihrem runzligen Gesicht und dem zahnlosen Mund unmittelbar neben das jugendlich schöne Antlitz der Judith setzt, schafft er außerdem einen reizvollen Kontrast, wie ihn die Kunstheorie der Zeit als contrapposto empfahl.
Kopf des Laokoon; Rom, Vatikanische Museen
Verwundete Amazone; Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek
Trunkene Alte; München, Glyptothek
(röm. Kopie nach hellenistischem Original aus dem späten 3. Jh. v.Chr.)
Dass es in Caravaggios Gemälde nicht nur um drastische Gewalt, sondern auch um Erotik geht, verdeutlicht Judiths Bekleidung. Ihr Kleid öffnet sich vom Nabel aufwärts und zeigt den Oberkörper von einem sehr dünnen Stoff umhüllt, unter dem die Brüste deutlich durchscheinen; die Brustwarzen stehen sichtbar vor. Der weiße Stoff des Hemds ist mit den Tönen des Inkarnats durchsetzt. In diesem Bereich wird der Stoff nur von quer verlaufenden Schnüren gehalten, die die Brüste zusätzlich betonen. „An der Achsel münden die Schnüre in einer Schleife, die dem Betrachter nahelegt, daß ein winziger Handgriff zur Enthüllung genüge“ (Lang 2001, S. 81). Caravaggio hat die blutige Szene mit erotischer Spannung aufgeladen, die darauf verweist, dass Holofernes (wie schon der biblische Samson) ein Opfer weiblicher Reize geworden ist. Judith hat sich Holofernes als sexueller Köder dargeboten, aber sie stellt unmissverständlich klar: „Zwar hat ihn mein Anblick verführt und in das Verderben gestürzt, aber er hat mich durch keine Sünde befleckt oder geschändet“ (Judit 13,16; EÜ). In Caravaggios Bild treten die patriotische Heldentat und auch deren religiöse Aspekte in den Hintergrund – den Maler interessiert weit mehr das reißerische Potenzial der Geschichte: Sex and Crime im Schlafgemach. Das sieht auch Jutta Held so: Da im Bild ein Hinweis auf den Sinn der Tat fehle – die Rettung des jüdischen Volkes –, muß automatisch ein Subthema der biblischen Geschichte in den Vordergrund rücken, nämlich der Antagonismus der Geschlechter (Held 2007, S. 69). Durch die Hand einer schwachen Frau zu fallen, war eine zusätzliche Demütigung des männlichen Opfers.
Die Schleife des Perlenohrrings wird von der Hemdschleife an der Achsel
wiederholt, um Judiths Blickrichtung zu unterstützen
Dabei wird die grausige Hinrichtung, so Walther K. Lang, von Caravaggio regelrecht ästhetisiert, da die Enthauptung keinen echten Schmerz des Ermordeten kenne. Der Gesichtsausdruck des Holofernes „gibt vor allem eine stilisierte Grimasse des Schreckens wieder“ (Lang 2001, S. 82). Der unrealistische Blutstrahl besudelt nichts und niemanden. Auf diese Weise senkt Caravaggio im Betrachter die Mitleidsgefühle und damit auch die Barrieren für einen ästhetischen Genuss der Grausamkeit.
Raffael: Der Erzengel Michael besiegt Luzifer (1518); Paris, Louvre
Caravaggio hat Holofernes in einer komplizierten Körperdrehung dargestellt. Er scheint auf dem Bauch gelegen zu haben und sich in dem Augenblick, da ihm Judith die Kehle durchtrennt, aufrichten zu wollen. Diese Position hat, so Maurizio Calvesi, ihr Vorbild in Raffaels Luzifer, der vom Erzengel Michael bezwungen und in den Orkus gestürzt wird. In diesem Zitat sieht Calvesi auch den Schlüssel zu einer heilsgeschichtlichen Bedeutungsebene von Caravaggios Bild. Holofernes wird auf diese Weise zur typologischen Parallele Satans und Judith zu der von Maria, die nach katholischer Auslegungstradition als „Schlangenzertreterin“ gilt (1. Mose 3,15). Bei Raffaels Gemälde liegt der Blickpunkt allerdings oberhalb von Luzifer – „der Betrachter schaut wie der siegreiche Engel von oben auf den Rücken des Bezwungenen herab und teilt somit die Perspektive des Triumphes“ (Uppenkamp 2004, S. 58). Caravaggio hat dieses eindeutige Oben und Unten hingegen durch ein horizontales Nebeneinander der Figuren ersetzt; der Blickpunkt des Betrachters befindet sich hier auf der Höhe des Holofernes: Wir sehen dem Sterbenden direkt ins Gesicht.
Das blanke Entsetzen im Augenblick des Todes
Caravaggio: Medusa (zweite Fassung von 1597/98); Florenz, Uffizien
Bettina Uppenkamp sieht noch eine Verwandtschaft des Holofernes mit Caravaggios Medusa; er wirke „wie eine ins Männliche gewendete Variante“ (Uppenkamp 2004, S. 64). Gemalt hat Caravaggio die erste Fassung seines Medusenhaupts 1596 für den Kardinal del Monte (heute in Privatbesitz), den Gönner seiner frühen römischen Zeit, und zwar auf einen hölzernen, konvex gewölbten Turnierschild aus dem 16. Jahrhundert (siehe meinen Post Wenn Blicke töten können). Holofernes wie Medusa sind mit schreckensweit aufgerissenen Augen und offenem Mund dargestellt, beiden schießt das Blut aus dem Hals.
Caravaggio: David mit dem Haupt Goliaths (1605); Wien, Kunsthistorisches Museum
Mit Caravaggios Judith und Holofernes beginnt eine Schaffensperiode des Malers, in der er sich fast ausschließlich biblischen Sujets zugewandt hat und die zudem allesamt Gewalttätigkeit thematisieren. Er verknüpft diese Motive mit der von ihm entwickelten Helldunkelmalerei, um den emotionalen Effekt seiner Bilder zu steigern (siehe meinen Post Malerei mit dem Scheinwerfer). Auch das Motiv der Enthauptung taucht immer wieder in Caravaggios Werk auf: Er hat mehrere Bilder von David mit dem abgeschlagenen Kopf des Goliath geschaffen und ebenso zahlreiche Darstellungen von der Hinrichtung Johannes des Täufers. In der Londoner Salome zeigt Caravaggio wie in seinem Judith-Bild eine alte Frau, die ihren Blick intensiv auf das Männerhaupt richtet, während die jugendliche Hauptfigur direkt vor ihr den Kopf abwendet (siehe meinen Post ,Was du von mir bittest, will ich dir geben).
Caravaggio: Salome (1607); London, National Gallery
Adam Elsheimer: Die Enthauptung des Holofernes (1601/03); London,
The Wellington Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Einer der ersten, die sich unter dem Eindruck von Caravaggios Gemälde ebenfalls dem Judith-und-Holofernes-Thema zuwandten, war der seit 1600 in Rom lebende deutsche Maler Adam Elsheimer (1578–1610). Sein Bild, das um 1601/03 entstanden ist, weist nicht nur wegen der nächtlichen Szenerie, sondern vor allem durch den in eindrucksvoller Verkürzung wiedergegebenen Holofernes Parallelen zu dem Werk seines Künstlerkollegen auf. Elsheimer verzichtet allerdings auf das grelle Licht, das bei Caravaggio das grausige Geschehen erhellt. Er ersetzt es vielmehr durch den Schein zweier Kerzen mit nur geringer Strahlkraft und betont damit den intimen Charakter des Gemachs. Im Gegensatz zu Caravaggio schildert Elsheimer den Ort des Geschehens minutiös und zeigt ihn als kostbar ausgestatteten Raum. Ein schwerer grüner Vorhang hängt über dem Lager des Holofernes, orientalische Teppiche schmücken die Wände. Dargestellt ist der Moment, in dem Judith zu dem in der Bibel erwähnten zweiten Schwerthieb ausholt: Holofernes, bereits schwer getroffen, strömt das Blut schon aus Hals und Mund. Getreu der biblischen Vorgabe wartet die Magd draußen, blickt allerdings neugierig durch den Vorhang in das Zeltinnere. Über dem Zelteingang befindet sich ein Bildteppich mit der Darstellung eines Löwen, der wie in einem Triumphzug von Amoretten geführt wird. Elsheimer kommentiert auf diese Weise das Geschehen: Dem löwenhaften Feldherrn wird sein leidenschaftliches Liebesverlangen zum Verhängnis. Der Tisch mit dem Stillleben aus Trinkgefäßen und Trauben deutet die Erwartungen an, die Holofernes mit dem gemeinsamen Nachtmahl verbunden hatte; „sie erinnern zugleich an sein Laster, seine Unmäßigkeit beim Weingenuß, den unmittelbaren Grund seiner jetzigen Lage“ (Uppenkamp 2004, S. 77). Die Gegenstände auf dem Tisch, das zerbrechliche Glas wie die niederbrennende, bald erlöschende Kerze, gewinnen so Vanitascharakter.
Peter Paul Rubens: Judith tötet Holofernes (1601); Kupferstich von
Cornelis Galle (für die Großansicht einfach anklicken)
Auch Peter Paul Rubens (1577–1640) hat Caravaggios Gemälde bei seinen Rom-Aufenthalten sicherlich gesehen und mit einem eigenen Bild darauf geantwortet: Seine
„Große Judith“ ist möglicherweise bereits 1601 entstanden. Seit dem 18. Jahrhundert gilt sie als verschollen, das Gemälde ist uns aber durch eine Zeichnung und Nachstiche mehrfach überliefert. Wie Caravaggio zeigt Rubens den Moment der Enthauptung im Zelt des Holofernes. Wiederum bildet Laokoon, den der flämische Künstler in Rom intensiv studiert hatte, das Modell für den sterbenden Feldherrn; davon zeugen besonders der Oberkörper mit der kräftigen Schulterpartie und sein durchgestreckter rechter Arm. Im Beisein ihrer Dienerin drückt Judith ihrem auf dem Bett liegenden Opfer den Kopf nach unten und schneidet ihm den Hals durch; Holofernes’ Gegenwehr fällt auch hier hilflos aus: Das Bein angewinkelt, kann er nur noch die Arme weit von sich strecken. Über dem grausigen Geschehen schweben vier Putti, von denen einer die Aufmerksamkeit der Magd auf sich zieht, als er sie mahnt, leise zu sein.      
Rubens’ Bildlösung weicht nicht nur durch die geflügelten Himmelswesen von Caravaggios Darstellung ab; bei ihm stehen die Figuren gedrängter beieinander, das Opfer gestikuliert heftiger, und diesmal spritzen drei Blutfontänen aus der durchtrennten Schlagader in die Höhe und beflecken den Arm der Attentäterin. Von oben trifft Judith ein Strom göttlichen Lichts, der ihr die Kraft verleiht, ihre Tat auszuführen, während der mittlere Putto mit einer ausholenden Geste anzeigt, dass ihr Vorhaben am besten mit einem kraftvollen Hieb gelingen wird. Die attraktive Witwe ist bei diesem blutigen Geschäft  die Ruhe selbst – sie handelt völlig unbeirrt im Bewusstsein ihres göttliches Aufrags zum Wohl des Vaterlandes.
Peter Paul Rubens: Judith mit dem Haupt des Holofernes (um 1617);
Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
Um 1617 hat Rubens die Enthauptung des Holofernes erneut gemalt: Grell beleuchtet hebt sich Judiths helle Haut von dem Dunkel des unbestimmten Raumes ab, in dem sich nur rechts oben Teile der Feldherrenrüstung erkennen lassen. In der ausgestreckten Rechten noch das Schwert haltend, packt ihre Linke, über die noch das warme Blut des Getöteten rinnt, in den Haarschopf des abgeschlagenen Kopfes. Das tiefe Dekolleté und die entblößte rechte Brust geben zu verstehen, dass Holofernes Judiths erotische Reize zum Verhängnis geworden sind. Aus großen schwarzen Augen blickt sie den Betrachter unvermittelt und wie aufgeschreckt an – denn sie bemerkt, dass wir Zeugen des eben begangenen Mordes sind. Rubens nutzt auch hier erneut wie Caravaggio das Stilmittel des contrapposto, indem er die jugendliche Sinnlichkeit Judiths der faltigen Gesichtshaut ihrer Dienerin gegenüberstellt. 
Artemisia Gentileschi: Judith und Holofernes (1612/13); Neapel, Museo di Capodimonte
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Am eindringlichsten hat wohl Artemisia Gentileschi (1593–1653) die Bilderfindung Caravaggios weiterentwickelt. In ihrer Fassung des Motivs von 1612/13 ist die Dienerin – im Gegensatz zu den Darstellungen von Caravaggio und Elsheimer – eine junge Frau, etwa so alt wie Judith selbst. Die beiden begehen den Mord gemeinsam. Dafür gibt es weder in der apokryphen Erzählung einen Hinweis noch ein Vorbild in der Judith-Ikonografie. Die Magd hält dem Wehrlosen die Arme fest, während Judith ihm die Gurgel durchschneidet. Im Getümmel der Arme herrscht auf den ersten Blick Verwirrung darüber, wer von den beiden das Schwert führt und damit als Judith zu identifizieren ist. Beide haben für die Tat die Ärmel hochgekrempelt. Die Komplizenschaft der Frauen wird durch den gleichen konzentrierten, aber völlig emotionslosen Gesichtsausdruck betont. Von Anstrengung ist hier ebensowenig etwas zu bemerken wie bei Caravaggio. Judith und Abra erscheinen weder zart noch zögerlich: Mit scheinbar professioneller Kaltblütigkeit schlachten sie Holofernes regelrecht ab – das Blut hat bereits das ganze Bett besudelt. Von der angeblich schwachen oder sensiblen „Natur des Weibes“ ist bei Artemisia nichts zu erkennen.
Die Magd zwingt Holofernes unter Einsatz ihres Körpergewichts auf die Bettstatt nieder, während Judith seinen verrenkten Kopf nach unten presst. Sein Blick wirkt schon gebrochen; in dem verschatteten Gesicht zeichnet sich bereits Agonie ab, während sich der hell beleuchtete Körper noch einmal aufbäumt „wie bei einem enthaupteten Huhn, das kopflos weiterläuft“ (Tauber 2017). Holofernes Position im Bild, mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken liegend, erinnert dabei an das Gemälde von Elsheimer. Auf Caravaggio wiederum verweist besonders die Armhaltung der Judith und ihre Stirnfalte sowie der Abschluss des Bildes durch einen nicht näher bestimmten braunen Hintergrund. Während bei Caravaggio der linke Arm Judiths am Haarschopf des Holofernes zieht, drückt er bei Artemisia den Kopf auf das Bett; in beiden Bildern beugt bzw. streckt sich Judith von Holofernes weg, doch bei Aertemisia tut sie dies, um mit größerer Kraft den Hals durchtrennen zu können. Caravaggios Judith steht neben dem Bett; auf Artemisias Gemälde stützt Judith ein Knie auf das Bett – sie rückt Holofernes um einiges näher zu Leibe.
Artemisia Gentileschi: Judith und Holofernes (1620; Florenz, Uffizien
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Die intensive Beschäftigung Artemisias mit dem Judith-Thema – 1620 entstand eine zweite Fassung des Gemäldes (Florenz, Uffizien) – wird oft mit einer traumatischen biografischen Erfahrung in Verbindung gebracht: Sie wurde 1611 von ihrem Zeichenlehrer Agostino Tassi vergewaltigt, einem Maler-Kollegen ihres Vaters Orazio Gentileschi. Der Täter kam vor Gericht, doch das Urteil fiel ziemlich milde aus: Tassi wurde für einen Zeitraum von vier Jahren aus Rom verbannt – eine Strafe, die er aber offenbar nie hat antreten müssen. Dass Artemisia unmittelbar nach dem Prozess mit einem solch drastischen Gemälde den Hass auf ihren Vergewaltiger künstlerisch verarbeitet hat, sozusagen gemalte Rache übt, scheint eine naheliegende Deutung. Allerdings bietet das Bild keinerlei Hinweis auf diesen biografischen Hintergrund. Die Künstlerin hat jedenfalls danach, abgesehen von der Replik dieser Enthauptung, keine annähernd so brutale Szene mehr gemalt. Dass deren schonungslose Drastik bis heute manchen Betrachter irritiert, „verdankt sich offenbar der Darstellung des weiblichen Mörders durch eine Künstlerin, einer zweifachen Rollenüberschreitung der weiblichen Natur: im dargestellten Motiv selbst und seiner realistischen Thematisierung durch eine Frau“ (Gorsen 1980, S. 76).  
Auf der Version von 1620, allem Anschein nach für die Kunstsammlungen Cosimo II. de’ Medicis entstanden, fügt Artemisia noch heftige Blutfontänen hinzu, die aus der Halswunde sprudeln. Das Blut spritzt auf Judiths nackte Arme, ihr nunmehr goldfarbenes Kleid und auf ihren Busen. „Durch diese wenn auch noch recht geringe Besudelung mit dem Blut des Opfers wird ein wichtiges Berührungstabu gebrochen“ (Lang 2001, S. 92). Zugleich ist es gegenüber Caravaggios Bild sehr viel realitätsnäher, dass Judith sich bei diesem grässlichen Mord beschmutzen muss. Artemisia erweitert in dieser zweiten Fassung außerdem noch Bildraum über den Figuren. Eine leichte Korrektur der Position und Form des Schwertes, das hier zudem länger und mächtiger ist, lässt die Waffe stärker als in der ersten Version zu einer Verlängerung der Hand Abras werden. Die Form erinnert nun deutlich an ein lateinisches Kreuz, das in der Bildmitte platziert ist. „Mit dieser Reminiszenz wird von Gentileschi nicht die um 1600 so prominente Verknüpfung von Judith und Maria, sondern die typologische Parallele des Erlösungswerks Christi und der Tat Judiths aufgerufen“ (Uppenkamp 2004, S. 167).
Valentin de Boulogne: Judith enthauptet Holofernes (um 1626); La Valletta, Museo Nazionale
Jusepe de Ribera: Apoll schindet Marsyas (1637); Nepael, Museo Nazionale di San Martino
Der in Rom lebende französische Maler Valentin de Boulogne (1591–1632) hat um 1626 eines der letzten bekannten Gemälde geschaffen, das die eigentliche Enthauptung des Holofernes zeigt. Dabei sind die mehr oder weniger kraftlos den Hals ihres Opfers durchschneidende Heroine und die ihr zur Seite stehende Dienerin wie insgesamt das Helldunkel Caravaggio verpflichtet. Der in die Bildflucht weisende Körper des Holofernes mit dem hintenüber gekippten, schreienden Haupt erinnert dagegen an die Lösungen von Elsheimer, Rubens und Artemisia Gentileschi. Darüber hinaus ist der schmerzhaft nach oben gestreckte Arm mit den gespreizten Fingern für Matthias Oberli eine deutliche Anleihe an die Schindung des Marsyas durch Apoll – ein Bildmotiv, das sich im fortgeschrittenen 17. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. „Dabei ist unverkennbar, dass die barocken Marsyas-Darstellungen ihrerseits auf Kompositionen der Holofernes-Enthauptung beruhen. Der Blickkontakt zum Betrachter, der weit geöffnete Mund und der angespannte Körper des leidenden Sartyrs sind ebenso von den Sterbeszenen des assyrischen Feldherrn inspiriert wie in einigen Fassungen vor allem die Drehung des Opfers in die Bildflucht und die Positionierung seines Kopfes in der vorderen Bildebene“ (Oberli 2001, S. 162).
Caravaggio: Judith und Holofernes (Datierung unsicher); Privatbesitz
Kehren wir noch einmal kurz zu Caravaggios Judith und Holofernes zurück: 2014 wurde auf einem Dachboden in Toulouse eine Variation seines Gemäldes entdeckt – und von namhaften Kunsthistorikern Caravaggio zugeschrieben. Im Juli 2019 hat ein privater Käufer, ein amerikanischer Milliardär, das Bild erworben – es bleibt abzuwarten, ob und wann es wieder für die Öffentlichkeit zugänglich sein wird.
 
Literaturhinweise
Calvesi, Maurizio: Le realtà del Caravaggio. Einaudi, Turin 1990;   
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;  
Ebert-Schifferer, Sybille: Alt, aber nicht trunken. Zur Rezeption der Trunkenen Alten bei Caravaggio. In: Maren Heun u.a. (Hrsg.), Kosmos Antike. Zur Rezeption und Transformation antiker Ideen in der Kunst. VDG, Weimar 2015, S. 41-50;  
Gorsen, Peter: Venus oder Judith? Zur Heroisierung des Weiblichkeitsbildes bei Lucas Cranach und Artemisia Gentileschi. In: artibus & historiae 1 (1980), S. 69-81;  
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);  
Kermani, Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 112-117;
Kobelt-Groch, Marion: Judith macht Geschichte. Zur Rezeption einer mythischen Gestalt vom 16. bis 19. Jahrhundert. Wilhelm Fink Verlag, München 2005;  
Lang, Walther K.: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei von Caravaggio bis Giordano. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001;   
Oberli, Matthias: Caravaggios »Judit und Holofernes« – Voraussetzungen und Wirkung von Enthauptungsszenen in der barocken Kunst. In: Georges-Bloch-Jahrbuch 8 (2001), S. 147-169;  
Petermeier, Astrid: Artemisia Gentileschi & Michelangelo Merisi da Caravaggio: Judith enthauptet Holofernes. In: Gerlinde Volland (Hrsg.), Einsprüche. Multidisziplinäre Beiträge zur Frauenforschung. Projekt Verlag, Dortmund 1992, S. 5-29;  
Tauber, Christine: Judith, mach deinen Abschnitt. Racheakt des Opfers? Rationale Tat der Heldin – und der Malerin: Das vermeintliche Trauma der Artemisia Gentileschi als Exempel feministischer Fehldeutung. In: F.A.Z. , 23.08.2017, Nr. 195, S. N3;
Uppenkamp, Bettina: Judith und Holofernes in der italienischen Malerei des Barock. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2004, S. 55-72;
= Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 19. März 2023)

Mittwoch, 14. Juli 2021

Um unsrer Sünden willen zerschlagen – das Passionskreuz in St. Maria im Kapitol (Köln)


Passionskruzifix, unbekannter Meister (um 1300); Köln, St. Maria im Kapitol
In St. Maria im Kapitol, der schönsten unter den zwölf romanischen Kirchen in Köln, findet sich eines der bewegendsten gotischen Kruzifixe, die ich kenne. Es handelt sich um ein Crucifixus dolorosus, ein Passions- bzw. Gabelkruzifix aus Nussbaumholz vom Beginn des 14. Jahrhunderts. Die von einem unbekannten Bildhauer modellierte Figur Christi kann als einer der drastischsten mittelalterlichen Darstellungen des Gekreuzigten gelten.
Der ausgezehrte Körper Jesu, etwas unterlebensgroß, zeigt deutlich die Spuren, die Geißelung und Dornenkrone hinterlassen haben. Er hängt mit weit zurückgespannten Armen an einem Gabelkreuz; die Nagelwunden sind grausam aufgerissen, unter der dünnen Haut zeichnen sich die Knochen ab. Der Bauch ist tief eingesunken, der Brustkorb, in dem sich alles gestaut hat, wölbt sich stark geweitet hervor, ebenso die in grausamer Reihung zählbaren Rippen. Wir sehen Christus in dem Augenblick, in dem der Tod eintritt. Das Haupt ist so tief auf die rechte Brusthälfte gesunken, dass man nur ganz von unten her in das blutüberströmte, schmerzverzerrte Antlitz blicken kann. Die Arme sind nach oben und gleichzeitig etwas nach hinten gedreht, sodass die Schulter- und Ellbogengelenke weit hervortreten. Außerdem wurden die Hände in Richtung des Kreuzstammes gebogen, sodass sie fast senkrecht nach oben weisen.
Die Marter ist beendet
Die Todesqualen sind im Gesicht genau herausgearbeitet. Der Mund steht leicht offen, sodass die Zahnreihen oben und unten sichtbar werden. Neben der Nasenwurzel gibt es an beiden Seiten markante Hautfalten, durch die das Antlitz wie zerfurcht erscheint. Das Barthaar ist ornamental angeordnet und strahlt inmitten der Leidensmerkmale eine gewisse Vornehmheit aus. Das Haupthaar wiederum ist von Schweiß und Blut durchtränkt und deshalb zu dicken Strähnen verklebt, die bis auf die Brust herabfallen. „Sie sind teilweise angesetzt und noch alle erhalten, was bei Crucifixi dolorosi selten der Fall ist, weil solch filigrane Teile schnell abbrechen“ (Hoffmann 2006, S. 21). Die Dornenkrone ist aus Tau zu einem dichten Flechtband gedreht; zahlreiche hölzerne Dorne ragen aus ihr heraus und verletzen den Schädel.
Die Nagelwunden in den Händen zeigen drastisch, was es bedeutet, mit dem ganzen Gewicht des eigenen Körpers an einem solchen Kreuz zu hängen. Die Haut ist weit aufgerissen, darunter werden die Knochen und Sehnen sichtbar. Aus den Nagelwunden fließen dicke Bluttropfen die Handgelenke und Unterarme herab. Um die Blutläufe deutlich sichtbar zu machen, sind sie mit dicker Grundierung plastisch aufgetragen worden. Ebenfalls mit Grundierung aufgetragen (auf ein Stück Leinwand) ist der breite Blutstrom, der unterhalb der Seitenwunde hinabfließt. Mit zusätzlichen Materialien sind auch die Adern und Sehnen aufgebracht: Sie bestehen aus Bindfäden, die dem Holz aufgelegt und mit Grundierungsmasse in die Figur eingebunden sind. Der ganze Körper ist mit Bluttropfen übersät.
Auch wenn sich die Nagelwunden durch einen krassen Realismus auszeichnen – historisch korrekt sind sie nicht. Denn bei einer Nagelung durch die Handflächen und die Füße würde tatsächlich die Haut reißen und der Körper nach kurzer Zeit vom Kreuz stürzen. Deswegen sind die von der römischen Justiz zum Tode Verurteilten durch die Gelenke an Kreuze genagelt worden, oder sie wurden mit Stricken an den Querbalken gebunden. So war es möglich, dass der Körper stundenlang am Kreuz hängen blieb, bis der Tod auf qualvolle Weise durch Ersticken und Erschöpfung eintrat – manchmal erst nach sieben Tagen. Der Tod Christi ist demgegenüber überraschend schnell eingetreten, wie die Evangelien übereinstimmend berichten (Markus 15,21-41). Die Kreuznägel sowie die Seitenwunde werden allerdings nur im Johannes-Evangelium erwähnt (19,34; 20,25).
Gottes Sohn, qualvoll als Mensch gestorben
Äußerst charakteristisch für sie mittelalterlichen Passionskreuze sind die Geißelmale auf dem Körper Christi; das Crucifixus dolorosus aus St. Maria im Kapitol zeigt sie vor allem auf dem Brustkorb, an Armen und Beinen dagegen fehlen sie. Die Geißelmale sind rund, innen flach und haben einen plastischen Rand. Stets laufen nach unten ein, zwei oder drei Bluttropfen heraus. Technisch bestehen die Geißelmale aus schmalen Leinwandstreifen, die zu einem Kreis geformt und mit Grundierung aufgebracht wurden. Überdeutlich verweisen die Crucifixi dolorosi auf die Worte des Propheten Jesaja, die die Exegeten schon immer auf den leidenden Christus bezogen haben: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jesaja 53,2-5; LUT).
Das Lendentuch Christi ist von bemerkenswerter Eleganz. Der Stoff fällt mit breiten, scharfkantigen waagrechten Faltenumbrüchen über den linken Oberschenkel und das Knie Jesu, während sein rechtes Knie frei bleibt. Vor dem Bauch ist das Tuch zu einer breiten waagrechten Bahn mit feinen Falten umgeschlagen, die um die ganze Hüfte herumreicht. Blutmalerei in den Faltentiefen weist auf die Qualen der Kreuzigung hin. Ein markantes Detail ist die Falte vor dem vorderen Oberschenkel, die oberhalb des Knies zusammensinkt: Es handelt sich dabei um ein Motiv, das aus der Romanik stammt. Als bekanntes Beispiel sei hier auf das Gerokreuz aus dem späten 10. Jahrhundert im Kölner Dom verwiesen (siehe meinen Post Vom Christus victor zum Christus patiens“).
Gerokreuz (spätes 10. Jh.); Kön, Dom;
der Strahlenkranz wurde erst 1683 gefertigt
Der Korpus des Kruzifixes ist vom Hals bis zu den Füßen aus einem Stamm herausgearbeitet. Der Brustraum wurde ausgehöhlt und mit einem Holzbrett verschlossen. Der aus mehreren Teilen bestehende Kopf ist separat aufgesetzt und mittels eines Keiles im Nacken in seine stark geneigte Position gebracht worden. Verloren und nachgeschnitzt sind lediglich einige Zehen. Eine fast zehnjährige Restaurierung hat Erstaunliches zutage gebracht: Im ausgehöhlten Brustraum der Skulptur wurden mit Hilfe einer Endoskopie über 50 in Seide gehüllte Reliquien nachgewiesen.
Welchen Zwecken die Crucifixi dolorosi im religiösen Leben des Mittelalters dienten, ist nicht genau bekannt. Manche wurden bei Prozessionen mitgeführt, andere zeugen vom Brauch der Grablegung am Karfreitag, wenn sie über bewegliche Arme verfügen, die zu diesem Anlaß an den Körper geklappt werden konnten. Das Kapitolskruzifix wiederum ist bis in die Details so minutiös ausgearbeitet, dass es sicherlich auch für eine nahsichtige Betrachtung gedacht war. Es eignete sich bestens, so Godehard Hoffmann, für die seit dem 12. Jahrhundert bekannte Gebetspraxis des „Abtastens mit dem Blick“. Der Beter sollte dabei nacheinander das Haupt, die Brust und die Wundmale betrachten. Anschließend sollte er Christus in die Augen blicken, um ihm sein Anliegen vorzutragen. Dafür war er bei den spätmittelalterlichen Passionskruzifixen wegen des weit vorgeneigten Kopfes gezwungen, sich in eine Position tief unterhalb der Figur zu begeben, um von dort steil nach oben zu sehen. Christus wurde dabei als „im Bildwerk präsent, die Skulptur als lebendig verstanden“ (Bienert 2019, S. 97).
Das Erscheinungsbild des Kapitolskruzifixes ist stark durch die nach 1400 datierte Zweitfassung geprägt, bei der die Anzahl der Wundmale offenbar vermehrt und die Blutläufe durch die bereits erwähnten Applikationen plastisch aufgetragen wurden. Demgegenüber war die mittelalterliche Erstfassung weniger dramatisch gestaltet. Angebracht ist das Kölner Gabelkruzifix heute an der Ostwand der nördlichen Eckkapelle des Dreikonchenchores von St. Maria im Kapitol.
Bockhorster Triumphkreuz (um 1200); Münster,
LWL-Museum für Kunst und Kultur
Die der Gotik vorausgehende Romanik kannte vor allem den über den Tod triumphierenden Christus. Der Gekreuzigte ist in dieser Epoche meist in einer fast stehenden Haltung am Kreuz befestigt; die Füße stehen nebeneinander. Mimik und Körperhaltung zeigen keinerlei Spuren von Folter oder Schmerz, das Haupt ist in gerader Haltung aufgerichtet, die Augen sind offen, das Antlitz ist das eines Lebenden. Die Romanik sieht Christus auch am Kreuz als den, der lebt und siegt und gebietet. Dennoch war dieser Zeit auch der tote Gottessohn am Kreuz nicht unbekannt, wie das bereits erwähnte Gerokreuz in Köln zeigt. Aber das Mitleiden mit dem am Kreuz gestorbenen Messias begegnet uns erst im Hochmittelalter. Vor allem der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux (1091–1153) hat mit seiner Wortgewalt zur Vermenschlichung des mittelalterlichen Christusbildes beigetragen: Seine Mystik war besonders auf die Versenkung in das Leiden und Sterben Jesu ausgerichtet.
In der Kunst wirkte sich diese emotionale Annäherung an den Gekreuzigten allerdings erst mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen aus. Die stark auf ihren Ordensgründer Franz von Assisi (1181–1226) ausgerichtete Kreuzverehrung der Franziskaner förderte schließlich den detailintensiven Blick auf das Passionsgeschehen. Um 1200 wird das Leiden Christi am Kreuz immer deutlicher herausgestellt, der „Dreinageltypus“ erscheint. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird weitgehend nur noch der von Schmerzen gequälte Gottessohn am Kreuz dargestellt, zugleich verschwindet spätestens um 1300 das Triumphkreuz der Romanik. „Die Beziehung zwischen Betrachter und Kruzifix war intimer geworden und das hoch im Kirchenraum angebrachte Triumphkreuz eignete sich nicht für die nahsichtige Betrachtung“ (Hoffmann 2006, S. 141).
Passionskruzifix (um 1315); Bocholt, St. Georg
Zu den Gabelkreuzen, die sich eng an das Kölner Passionskruzifix anlehnen, zählt das wohl um 1315 entstandene Exemplar in der Bocholter Pfarrkirche St. Georg: Die Fassung des Corpus mit seinen zahlreichen Geißelwunden ist nahezu identisch. Der aus Nussbaumholz geschnitzte Bocholter Corpus ist allerdings gegenüber dem Vorbild aus Köln vergleichsweise klein – er misst nur 102 cm, der Gekreuzigte aus St. Maria im Kapitol dagegen 175 cm (siehe meinen Post Passion mit Ausstrahlung).
Passionskruzifix (um 1320); Andernach, Liebfrauenkirche
In der romanischen Liebfrauenkirche in Andernach findet sich ein weiteres Crucifixus dolorosus, das dem Kapitolskruzifix sehr nahe kommt: Zu den wesentlichen Merkmalen, die es mit dem diesem und dem Bocholter Werk zu einer
kölnischen Gruppe zusammenschließen, gehören die Haltung des Gekreuzigten mit vorgestrecktem rechten Knie, die ornamental aufgefassten Rippen, der weit vorgeneigte Kopf sowie die aufgerissenen Nagelwunden an den Füßen. Der Gekreuzigte zeigt auch die vom Kapitolskruzifix bekannten, auffälligen Falten neben dem Nasenbein. Es gibt aber auch Unterschiede: Das Andernacher Kruzifix besitzt nicht die differenzierte körperliche Plastizität  des Kapitolskruzifixes, und der gequälte Körpus krümmt sich nicht in gleicher Weise. Das qualitätvolle Lendentuch ist kleinteiliger gefaltet und liegt dem Körper enger an. Die offensichtlichen Zusammenhänge sowie die Unterscheide zwischen dem Kapitolskruzifix und dem Andernacher Crucifixus dolorosus bedeuten aber keinen Werkstattzusammenhang, sondern eine Kenntnis des Kölner Werkes seitens des Andernacher Schnitzers (Hoffmann 2006, S. 64).
Der Andernacher Korpus ist 102 cm hoch und entspricht damit genau den Maßen des Bocholter Kruzifixes. Die Übereinstimmungen zeigen sich nicht nur in der Größe, sondern auch in der Gesamtgestaltung, zum Beispiel im Brustkorb mit deutlichem Brustbeinzapfen und klarer Abgrenzung zum Bauch. Untereinander sind die Kruzifixe in Andernach und Bocholt dennoch so verschieden, daß wir nicht zwangsläufig mit demselben Bildschnitzer zu rechnen haben (Hoffmann 2006, S. 64). 
Passionskruzifix (Mitte des 14. Jahrhunderts?); Köln, St. Severin
Passionskruzifix (Mitte des 14. Jahrhunderts?); Köln, St. Maria im Frieden
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Crucifixus dolorosus aus der Kölner Kirche St. Severin: Zweifellos hat der Schnitzer das Kreuz aus St. Maria im Kapitol gekannt, von diesem aber lediglich charkteristische Motive übernommen. Details wie etwa die verlängerte Brustbeinspitze, die gebogenen Falten neben der Nase und die aufgerissene Haut an den Nagelwunden sind unschwer wiederzuerkennen. Auf diese Weise wurde erreicht, dass man in diesem Kruzifix sogleich das Vorbild entdeckte.
Daraus kann wiederum geschlossen werden, welch hohe Wertschätzung dem Kapitolskruzifix im 14. Jahrhundert zukam (Hoffmann 2006, S. 49). Dem Kruzifix in St. Severin fehlen gänzlich, so Hoffmann, dessen filigrane Plastiztät und detaillierten Tiefendimensionen (Hoffmann 2006, S. 46). Er schließt daher aus, dass hier derselbe Schnitzer tätig war. Das Kreuz entstamme vielmehr einer Kölner Nachfolge, wobei die zeitliche Distanz mehrere Jahrzehnte zu betragen scheint. Auch das das Crucifixus dolorosus in der Kölner Karmelitinnen-Klosterkirche St. Maria im Frieden lässt den Einfluss des Kapitolskruzifixes erkennen, verarbeitet ihn aber in abgemilderter Form. Konkrete Anhaltspunkte für die Datierung gibt es auch hier nicht; es könnte vor oder um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschnitzt worden sein.
Passionskruzifix (1307), Perpignan, Cathedrale Saint-Jean-Baptiste
Passionskruzifix (um 1350); Warschau, Nationalmuseum
Hingewiesen sei noch auf zwei weitere, formal eng verwandte
Crucifixi dolorosi im europäischen Ausland: Als bedeutsam gilt zum einen ein nahezu zeitgleich entstandenes Werk im französischen Perpignan (datiert 1307), das keineswegs vom gleichen Künstler wie das Kapitolskruzifix stammt, im Gesamttypus ihm aber vergleichbar ist. Es soll an anderer Stelle nochmals eingehender vorgestellt werden. Bei dem im Warschauer Nationalmuseum aufbewahrten, ursprünglich aus der Breslauer Corpus-Christi-Kirche stammenden Cruxifixus dolorosus sind ebenfalls sehr ähnliche gestalterische Elemente zu beobachten. So verbindet beide Werke, dass die Wunden der Geißelung und die Adern ein geradezu symmetrisches Dekorationssystem bilden; außerdem wurden in beiden Fällen  Schnüre verwendet, um den Verlauf der Blutbahnen hervorzuheben. Im Gegensatz zum Kapitolskruzifix ist bei dem Warschauer Exemplar das geronnene Blut an der Seitenwunde und an den Nagelungsstellen auffallend als große weinartige Trauben gestaltet.
Ludwig Gies: Holzkruzifix (1921),
ausgestellt 1937 in Entartete Kunst
Der deutsche Bildhauer Ludwig Gies (1887–1966) hat die Formensprache der mittelalterlichen Crucifixi dolorosi sieben Jahrhunderte später nochmals aufgegriffen, und zwar in einem 1921 entstandenen expressiven Holzkruzifix, das er zunächst für einen Wettbewerb um ein Krieger-Ehrenmal in der Lübecker Marienkirche anfertigte. Das grandiose Bildwerk löste einen Sturm der Entrüstung aus; während einer Probe-Aufstellung im Lübecker Dom wurde der überlebensgroßen Skulptur nächtens in einem Akt des Vandalismus der Kopf entfernt und dieser anschließend in einem Teich versenkt. Auch ihre Präsentation in der Münchner
Dombauhütte“ 1922 rief wütende Empörung und heftige Verunglimpfungen hervor – bis das Kruzifix  auch hier entfernt wurde. 1937 schließlich musste das Werk als eines der Beispiele degenerierter Kunst in der berüchtigten nationalsozialistischen Wanderausstellung Entartete Kunst herhalten: Es hing am Beginn der Schau im Treppenhaus der Münchner Hofgartenarkaden. Nach München gelangte das Kruzifix bei der Tournee der Entarteten Kunst in weitere deutsche Städte, so nach Berlin, Düsseldorf und Hamburg. Danach verliert sich seine Spur in Berliner Depots, als nicht devisenträchtig und deshalb unverwertbar eingestuft. Möglicherweise wurde es 1944 bei einem Bombenangriff zerstört. 
Johann Friedrich Overbeck: Der Ostermorgen (um 1818),
Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast
Dass weite Teile der deutschen Bevölkerung und insbesondere die damaligen Christen mit erbittertem Widerstand auf das Giessche Werk reagierten, hängt sicherlich damit zusammen, dass man überhaupt Probleme mit den veristischen Passionsdarstellungen der mittelalterlichen Crucifixi dolorosi hatte: Denn der um 1920 immer noch vorherrschende Christustypus war der nazarenische geprägte, von stiller Sanftmut und Duldsamkeit beseelte Gottesssohn, weltentrückt, süßlich-glatt, erhaben und edel – und letztlich völlig harmlos. Hinzu kommt: Das Kruzifix von Gies sollte als Ehrenmal auf die Schrecken und entsetzlichen Leiden des Krieges verweisen – doch diese Form der Erinnerung war wohl zu schmerzhaft und konnte nur durch vehemente Ablehnung bewältigt werden.

Literaturhinweise
Bienert, Vivien: „Crux sub odaeo mirculosa“. Leidenskruzifixe in Frauenkonventen: der Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol in Köln. In: Julia von Ditfurth/Adam Stead (Hrsg.), Bildwerke für Kanonissen? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2019, S. 63-103;
Engelhardt, Katrin: Ans Kreuz geschlagen. Die Verhöhnung des »Kruzifixus« von Ludwig Gies in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im »Dritten Reich«. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 29-48;
Ernsting, Bernd: Scandalum Crucis – der Lübecker Kruzifixus und sein Schicksal. In: Rolf Wedewer (Hrsg.), Ludwig Gies 1887–1966. Städtisches Museum Leverkusen/Schloss Morsbroich, Leverkusen 1990, S. 57-71;
Hoffmann, Godehard: Das Gabelkreuz in St. Maria im Kapitol zu Köln und das Phänomen der Crucifixi dolorosi in Europa. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2006;
Klein, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 3: Gotik. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, S. 362-363 und 383-384;
Mühlberg, Fried: Crucifixus Dolorosus. Über Bedeutung und Herkunft des gotischen Gabelkruzifixes. In. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 22 (1960), S. 69- 86;
Suckale, Robert: Der Kruzifix in St. Maria im Kapitol – Versuch einer Annäherung. In: Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Femmes, art et religion au Moyen Âge. Presses universitaires de Strasbourg-Musée d’Unterlinden, Straßburg/Colmar 2004, S. 87-101;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 22. Oktober 2021)