Montag, 28. Februar 2022

Magische Stille – Jan Vermeers „Junge Briefleserin am offenen Fenster“


Jan Vermeer: Junge Briefleserin am offenen Fenster (um 1657-59); Dresden,
Gemäldegalerie Alte Meister (für die Großansicht einfach anklicken)
Ein junges Mädchen, in strengem Profil wiedergegeben, steht vor einem geöffneten Fenster und ist in einen Brief vertieft. Wir blicken in den hinteren Teil eines hohen, fast schachtartigen Raumes, der durch einen Vorhang auf der rechten Seite zu etwa einem Drittel verdeckt wird. Die Szene strahlt eine poetische, geradezu magische Ruhe aus. Die stille Lektüre bildet ohne Frage den inhaltlichen Mittelpunkt dieses Gemäldes von Jan Vermeer (1632–1675). Die Gesichtszüge des Mädchens, die sich in der Fensterscheibe spiegeln, ihre leicht geöffneten Lippen und ihre Körperhaltung machen deutlich, wie sehr sie auf die Zeilen in ihren Händen konzentriert ist. Im Vordergrund bilden der Tisch mit dem aufgeworfenen Teppich und der nach rechts geschobene Vorhang eine kompositorische Barriere, die es dem Betrachter erschwert, visuell in diesen umschlossenen Raum einzutreten.
Gedämpftes Sonnenlicht fällt von links durch das weit geöffnete Fenster auf Gesicht und Oberkörper des Mädchens sowie den Brief, den sie in beiden Händen hält. Dieses Licht erzeugt auf den Faltenhügeln des Teppichs wie auf der Oberfläche der Früchte in der chinesischen Porzellanschale ein intensives Farbenspiel. Vermeer erzielt es, indem er einzelne leuchtende, helle Farbflecken in pointillistischer Manier aneinandersetzt. Ähnlich pastos gemalte Lichtpunkte finden sich auch auf dem mit schwarzen Streifen abgesetzten Satinärmel und im Haar des Mädchens, im leicht geknitterten Papier des Briefes sowie auf den Kreuzungspunkten der Fensterstege. 
Kräftiges Licht, das offensichtlich einer außerhalb des Bildraumes befindlichen Quelle entspringt, fällt zudem auf den illusionistisch gemalten Vorhang und lässt ihn in einem hellen Gelb-Grün aufleuchten. Seine leicht gebauschten, voluminösen Faltenbahnen, die unten mit einer Fransenborte abschließen, entfalten dabei eine haptische Wirkung. Der Effekt einer Augentäuschung stellt sich sofort ein: Der Vorhang gehört einer außerbildlichen, dem Betrachterraum zuzurechnenden Ebene an. Für einen Moment nur scheint er nach rechts gezogen worden zu sein, um uns den Blick auf die intime Szene zu ermöglichen. Der spanische Stuhl mit seinen geschnitzten Löwenköpfen wird ebenfalls vom Licht gestreift und wirft einen Schatten auf die Wand. „Diese subtile Lichtbehandlung verleiht der dargestellten Figur ebenso wie den Objekten eine beinahe tastbare Körperlichkeit“ (Neidhart 2010, S. 68). Sie ist ein Beleg für Vermeers außergewöhnliche Fähigkeit, Licht in Malerei umzusetzen.
Der quer zur Bildfläche liegende Teppich, der den Zutritt zum dargestellten Innenraum mehr oder weniger verstellt, gehört zu den konstanten Merkmalen von Vermeers Gemälden. Das Bild wird so zu einem Ort der Zurückgezogenheit, an dem die menschliche Figur präsent, ja nah ist, jedoch geschützt vor jeder unmittelbaren Begegnung, jeder direkten Kommunikation. Von Vermeers 26 erhalten gebliebenen Interieurs lassen nur drei den Raum frei, der den Betrachter von dem Modell trennt, das der Maler abbildet.
Vermeer hat das Mädchen, dessen Kopf sich exakt in der Bildmitte befindet, direkt vor dem zweiteiligen Fenster positioniert, über das effektvoll ein roter Vorhang geschlagen ist. Das geöffnete Fenster erlaubt keinen Blick ins Freie, es signalisiert lediglich das Außen, woher der Brief kommt“ (Hammer-Tugendhat 2009, S. 280/281). Der Vorhang rechts gehört nicht zu dem vergleichsweise engen Zimmer der Briefleserin, sondern eindeutig zu einer anderen, dem Betrachter wesentlich näheren Bildebene. Er ist mittels zwölf kleiner Ringe an einer Messingstange aufgehängt. Scheinbar soeben zur Seite gezogen, gibt dieser Vorhang – das einzige Trompe-l’œil in Vermeers erhaltenem Werk – nun dem Betrachter den Blick auf eine Szene frei, die ihm sonst verborgen ist. Die in sich abgeschlossene Szene mit der bewegungslos verharrenden, in sich gekehrten jungen Frau wirkt wie ein erlesenes Stillleben, dessen Kostbarkeit durch diesen Trompe-l’œil-Vorhang noch gesteigert wird.
Die Spiegelung der jungen Frau in der Fensterscheibe ermöglicht dem Betrachter einen indirekten Blick auf ihr ansonsten nur im Profil sichtbares Antlitz. Doch weder Haltung und Kopfneigung des Mädchens noch Haartracht und Halsausschnitt stimmen mit dem Spiegelbild genau überein. Strahlendiagnostische Untersuchungen haben gezeigt, dass Vermeer die Figur der Briefleserin in einer ersten Fassung ein wenig kleiner und weiter in Rückenansicht gedreht angelegt hatte. Als er die Position des Mädchens nachträglich veränderte, hat er offensichtlich darauf verzichtet, das Spieglbild im Fensterglas ebenfalls zu korrigieren. 
Jan Vermeer: Stehende Virginalspielerin (um 1670-72); London, National Gallery
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Seit 1979 weiß man, dass an der Wand hinter der Briefleserin ursprünglich auch ein großformatiges Gemälde hing, das einen stehenden Cupido zeigt. Damals wurde vermutet, Vermeer habe den Liebesgott in einem späteren Arbeitsschritt selbst wieder übermalt, weil er ihn als störend empfand. Doch heute steht fest, dass der Cupido erst nach 1700 aus der Komposition getilgt wurde: Bei den 2017 begonnenen gründlichen Restaurierungsmaßnahmen zeigte sich, dass unter der später aufgebrachten Deckschicht, die den durchs offene Fenster einfallenden Lichtschein auf der kahlen Wand simuliert, der originale Firnis Vermeers erhalten ist. Den trug der Meister nur auf fertige Gemälde auf. Unter der Firnis aber reckt sich der Cupido empor ... Damit werden die obere und die untere Bildhälfte jeweils von einer der beiden Figuren dominiert, denn die nackte, dralle Gestalt des Liebesgottes erreicht beinahe die Größe der hinter dem Tisch sichtbaren Dreiviertelfigur des Mädchens.
Das restaurierte Gemälde mit wiederentdecktem Bild im Bild
Ein solches Bild im Bild findet sich insgesamt dreimal in den stillen Interieurs des Künstlers, so z. B. in der Stehenden Virginalspielerin aus der Londoner National Gallery. Das Bild im Bild ist ein seit den 1630er Jahren in der holländischen Genremalerei verbreitetes „sprechendes“ Motiv, um in verhüllter Form die eigentliche Aussage des Gemäldes zu transportieren. Ohne Zweifel bezog sich dieser ursprüngliche Cupido auf den Brief in den Händen der jungen Frau, der dadurch als Liebesbotschaft erkennbar wurde.
Jan Vermeer: Christus bei Maria und Martha (1654/55); Edinburgh, National Gallery of Scotland
Vermeer hat in den ersten Jahren seines Schaffens eine Reihe mehrfiguriger Szenen gemalt, so z. B. Bei der Kupplerin oder Christus bei Maria und Martha. Dann aber wendete er sich der Darstellung einer einzelnen Mädchenfigur in ihrer häuslichen Umgebung zu. In diesen Bildern wird auf jegliche Interaktion verzichtet; die Szenen sind „geprägt von völliger Vereinzelung, Verinnerlichung und Stille“ (Neidhardt 2010, S. 71). Die Briefleserin in Dresden gehört zu Vermeers frühen Interieurbildern aus den Jahren 1657 bis 1659, in denen er sich darauf konzentriert, einen konkreten Innenraum wiederzugeben. So taucht das charakteristische Fenster mit der Bleiverglasung und dem gekehlten oberen Gewände sowohl in dem Gemälde Soldat und lachendes Mädchen als auch im Milchmädchen auf.
Jan Vermeer: Das Milchmädchen (um 1657-58); Amsterdam, Rijksmuseum
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Vermeer zeigt eine junge Frau beim Lesen eines Briefes – eine Beschäftigung von großer Privatheit. Die eigentliche Handlung im Bild ist allerdings für den Betrachter nicht sichtbar, sie vollzieht sich im Inneren der Briefleserin. Wir werden Augenzeuge eines intimen, konzentrierten Geschehens, zu dem uns der Zugang verwehrt ist. Und Vermeer gibt uns auch keine Möglichkeit, den Inhalt der Zeilen durch Gestik oder Mimik des Mädchens zu erahnen – wir wissen nicht, ob der Brief gute oder schlechte Nachrichten enthält. Dass es dennoch um Liebe geht, verrät, wie ich meine, die Aufmerksamkeit, mit der sich das Mädchen diesem Brief zuwendet. Dabei entspricht die junge Frau in ihrem zweiteiligen schwarz-gelben Kleid und mit ihrer raffinierten Frisur, ihrer offensichtlichen  Bildung und feinen Zurückhaltung äußerlich ganz dem Frauenideal, „das in den besseren Kreisen der holländischen Gesellschaft seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Maßstab galt“ (Neidhardt 2021, S. 180). In exakt dem gleichen Kleid und zur selben Zeit malte Vermeer eine weitere junge Frau, die er in eine vergleichbare Zimmerecke, aber in einen ganz anderen inhaltlichen Zusammenhang setzte: Das kopftuchtragende Mädchen mit dem Weinglas in dem Bild Soldat und lachendes Mädchen ist in seiner offenen Körpersprache direkt auf sein männliches Gegenüber bezogen – eine Situation, die derjenigen der brieflesenden Frau im Dresdner Gemälde unverkennbar entgegengesetzt ist.
Jan Vermeer: Soldat und lachendes Mädchen (um 1657/60); New York, The Frick Collection
Das Thema des Brieflesens, -schreibens und -empfangens hat Vermeer in sechs seiner insgesamt 37 erhaltenen Gemälde aufgegriffen. „Er folgte damit einer seit Mitte der 1650er Jahre in der holländischen Genremalerei verbreiteten Mode, die wiederum auf eine neue Kultur des Briefschreibens in weiten Kreisen des europäischen Bürgertums reagierte“ (Neidhardt 2010, S. 71). Dem Dresdner Bild steht dabei die etwa sechs Jahre später gemalte Briefleserin in Blau aus Amsterdam besonders nahe. Vermeer zeigt jeweils eine junge Frau in einem Moment des völligen Versunkenseins in den Inhalt eines Briefes, den sie vor sich hält. Ihr Gesichtsausdruck, die niedergeschlagenen Augen und die leicht geöffneten Lippen, die ein leises Buchstabieren ahnen lasssen, sind sich sehr ähnlich. In beiden Werken sorgte Vermeer durch einen Wandschmuck für einen abgedunkelten Hintergrund, vor dem sich die weichen Profillinien ihrer Köpfe absetzen. Während jedoch die Lesende im Dresdner Frühwerk hinter einer zweifachen Barriere optisch abgeschirmt ist, meint man, in den Privatbereich der Briefleserin in Blau unmittelbar eintreten zu können.

Jan Vermeer: Briefleserin in Blau (um 1662/1663); Amsterdam, Rijksmuseum
Literaturhinweise
Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. DuMont Buchverlag, Köln 1985, S. 321-343;
Arasse, Daniel: Vermeers Ambition. Verlag der Kunst, Basel/Dresden/Berlin 1996, S. 126-133;
Büttner, Nils: Vermeer. Verlag C.H. Beck, München 2010, S. 43-51;
Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2009;
Neidhardt, Uta: „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“. Ein begabter junger Maler orientiert sich. In: Uta Neidhardt (Hrsg.), Der frühe Vermeer. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010, S. 66-81;
Neidhardt, Uta: Zusammenspiel von Kunst und Leben.Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster in neuer Gestalt. In Stephan Koja u.a. (Hrsg.), Johannes Vermeer. Vom Innehalten. Sandstein Verlag. Dresden 2021, S. 165- 200;
Vergara, Lisa: Women, Letters, Artistic Beauty: Vermeers Theme and Variations. In: Peter C. Sutton u.a. (Hrsg.), Love Letters. Dutch Genre Paintings in the Age of Vermeer. Bruce Museum/National Gallery of Ireland 2003, S. 50-62.

(zuletzt bearbeitet am 28. Februar 2022)

Donnerstag, 24. Februar 2022

Im Reich der Kokotten – Ernst Ludwig Kirchners „Potsdamer Platz“


Ernst Ludwig Kirchner: Potsdamer Platz (1914); Berlin, Nationalgalerie
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Mit dem Umzug nach Berlin im Herbst 1911 brach für die 1905 gegründete Künstlergemeinschaft Brücke eine neue wichtige Phase an. In Dresden hatten Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff mit intensiv leuchtenden Farbflächen, großzügig geschwungener Linienführung und auf das Wesentliche reduzierten Formen Bilder ihrer jugendlichen Lebensfreude geschaffen und damit einen neuen Stil kreiert. Die Begegnung mit dem pulsierenden Rhythmus der Großstadt, mit einer sich immer stärker ausbildenden Massengesellschaft, mit der Dynamik urbaner Menschen- und Verkehrsströme, mit Technisierung und nächtlichem Vergnügungshunger löste nun einen erneuten künstlerischen Entwicklungsschub aus. Sie führte auch zu einer zunehmenden Individualisierung der einzelnen Gruppenmitglieder, die sich in der Metropole stilistisch wie persönlich in verschiedene Richtungen entfalteten.
Innerhalb eines halben Jahrhunderts war Berlin zur neuen Weltstadt Europas herangewachsen, die mit London, Wien und Paris konkurrieren konnte. Diese Veränderung hatte sich mit enormer Geschwindigkeit vollzogen; sie setzte ein mit dem Einzug der Großindustrie, der rasch expandierenden Maschinenfabriken. Durch eine anhaltende Hochkonjunktur und erweiterte Absatzmärkte nahm die Zahl der Arbeiter und Beschäftigen stark zu, und immer mehr Menschen strömten nach Berlin. Viele der Betriebe und Produktionsanlagen waren um 1900 so groß geworden, dass sie in die Vorstädte verlegt werden mussten. Die wirtschaftliche Macht Berlins produzierte Armut und Reichtum, Ausgebeutete und Emporgekommene. Berlin war die größte Mietskasernenstadt Europas mit katastrophalen Lebensumständen für die breite Masse; und es war eine Stadt mit modernsten Verkehrsmitteln – 1902 wurde die erste Strecke der Hochbahn eröffnet –, mit neuen großen Bahnhöfen, mit elektrischer Straßenbeleuchtung, großen Kaufhäusern, prachtvollen Geschäfts- und Einkaufsstraßen, luxuriösen Hotels, Opernhäusern, Theatern und allen sonstigen Unterhaltungsmöglichkeiten.
Ernst Ludwig Kirchner: Berliner Straßenszene (1914); Zeichnung
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Das Thema der Großstadt hat vor allem Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) in besonderem Maß beschäftigt; diese Werkgruppe, zu der elf Gemälde, zahlreiche Pastelle, Zeichnungen und Druckgrafiken gehören, wird als eine der wichtigsten in seinem Schaffen betrachtet. Kirchner war begeistert von der modernen, temporeichen und dicht bevölkerten Lebenswelt Berlins. „Stets hatte er sein Skizzenbuch zur Hand, um mit fliegendem Stift und hastiger Schnelle das Gesehene, Erlebte zu notieren“ (Dahlmanns 2005, S. 198). Kirchner zeichnete in Bars und Musikcafés, in den Varietétheatern und immer wieder das Treiben auf den Straßen und nächtlichen Boulevards, auf denen es so anders zuging als im beschaulichen Dresden. Dabei erreichte sein Zeichenstil einen kaum zu übertreffenden Grad an Spontaneität. „Nicht mehr die einzelne Linie, sondern der übergreifende Zusammenhang der Striche läßt das eingefangene Motiv deutlich werden“ (Moeller 1993, S. 29). Kirchner kürzt die Einzelformen abbreviativ ab, um den unmittelbaren Eindruck möglichst unverfälscht zu erfassen.
Ernst Ludwig Kirchner: Berliner Straßenszene (1914); Zeichnung
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1914 war für Kirchner das Jahr der „Straßenszenen“. Der überwiegende Teil dieser Werkgruppe ist in diesen Monaten entstanden, vermutlich verstärkt in der ersten Jahreshälfte, vor seinem Aufenthalt auf der Ostseeinsel Fehmarn; die meisten setzen sich mit dem Motiv der Kokotte, wie die Berliner Prostituierten genannt wurden, auseinander. Kirchners größtes Straßenbild der Berliner Jahre (200 x 150 cm) zeigt den Potsdamer Platz bei Nacht, damals der verkehrsreichste Ort Europas, der wichtige Straßen sternförmig zusammenführte. Mit dem Bahnhof und den umliegenden Cafés, den Geschäften und flanierenden Prostituierten war er zum Synonym für die deutsche Metropole geworden. Begonnen wurde das Bild vermutlich im Februar 1914, vollendet aber wohl erst im Herbst 1914 nach Kirchners Rückkehr von Fehmarn. In der Mitte des Hintergrunds ist der Potsdamer Bahnhof zu erkennen, reduziert um ein Geschoss auf eine Arkadenloggia. Die Bahnhofsuhr zeigt Mitternacht. Links davon schließt sich das 1913 von Kempinski eröffnete „Café Piccadilly“ an, nach Kriegsausbruch in „Haus Vaterland“ umbenannt. Rechts sehen wir das angeschnittene, um mehrere Stockwerke reduzierte Bierhaus Siechen (später Pschorr-Haus). „Durch differenzierte Schrägstellung dynamisiert Kirchner die Architektur und rafft sie optisch zusammen“ (Moeller 1993, S. 29). Ein großes spitzwinkliges Element, das vom Bahnhof ausgehende Trottoir, strebt von hinten nach vorn und bildet einen formalen Kontrast zu dem Rund der Verkehrsinsel im Vordergrund.
Die Südseite des Potsdamer Platzes um 1912 mit (von links) Café Piccadilly, Potsdamer Bahnhof und Bierhaus Siechen – die Hintergrundbühne für Kirchner „Potsdamer  Platz
Einerseits sind die Architekturzitate, die spitzwinkligen Trottoir- und Straßenführungen und die gesichtslosen Staffagefiguren, die sich auf ihnen bewegen, in einer extremen Aufsicht und Entfernung wiedergegeben. Die beiden Kokotten hingegen, die als Hauptdarstellerinnern des Bildes auf der Bühne einer Verkehrsinsel stehen, werden in frontaler Nahsicht gezeigt. Ihre am unteren Bildrand angeschnittene Plattform suggeriert eine gemeinsame Standfläche mit dem Betrachter. Genau so – nämlich in Bodenhöhe – wollte Kirchner sein Bild auch aufgehängt sehen. Die Trennung von Kokotten und Stadtkulisse wird durch die Verkehrsinsel verstärkt: „Wie eine Rotationsscheibe, die in die Fläche gekippt ist, scheint sie über den grünbeleuchteten Straßen zu schweben, die einer der Staffagemänner vom spitzwinkligen, zementfarbenen Bürgersteig aus zu überschreiten versucht, als träte er über einen Abgrund“ (Sykora 1996, S. 40).
Sphingen auf dem Präsentierteller
Die beiden annähernd lebensgroßen, alles überragenden Kokotten sind in der linken Bildhälfte platziert. Kirchner erfasst sie ebenso statisch, unbeweglich und starr wie die fünf Kokotten in seiner ersten gemalten Straßenszene von 1913. Deren geradezu marionettenhafte Typisierung verweist auf ihre käufliche Verfügbarkeit. Auf Kirchners Potsdamer Platz stellen sich die beiden Frauen stolz gereckt, sphinxhaft und routiniert wie auf einem Präsentierteller zur Schau. Die linke Prostituierte im schwarzen Trauerkostüm hat sich mit einem Witwenschleier getarnt – „ganz die vergitterte Unnahbarkeit, mit einem Raubvogelgesicht unter brennnendem Haar, die Hutfedern zu schneidenden Messern ausgefahren“ (März 2001, S. 35). Die Jüngere von beiden wächst, in Preußischblau gekleidet, immer schlanker werdend nach oben. Sie ist dem Betrachter frontal zugewandt, während die „Witwe“ sich im Profil nach links wendet und ihren Schritt in die Diagonale setzt. Das Kalkweiß der Plattform, auf der beide wie Statuen auf einem Podest postiert sind, ist sternförmig gestrichelt. „Die Schraffuren setzen sich bis in die grüne Straßenfarbe fort, so daß die beiden Figuren und ihre Umgebung gleichzeitig in eine Rotation gebracht scheinen. Der paradoxe Eindruck eines in eine zentrifugale Bewegung versetzten Tableaus entsteht“ (Sykora 1996, S. 41). Hinter den beiden Frauen nähern sich mit gespreizten Beinen die Freier in Schwarz. Doch keiner von ihnen die vermag die Distanz zu den Objekten ihrer Begierde zu überwinden. Zwischen den Geschlechtern herrscht eine unausgetragene Spannung. Kirchners Thema ist die Isolation. In der Großstadt mit ihren unausgesetzten erotischen Verlockungen bietet der käufliche Sex letztlich keine Erfüllung. Die Berliner Straßenbilder Kirchners enthüllen in der Unifomität ihres Personals „die seelenlose Grausamkeit des erotischen Warenmarktes, die Kunden und Anbieter wiederum eng verbindet“ (Schuster 1990, S. 246)
Ernst Ludwig Kirchner: Fünf Frauen auf der Straße (1913); Köln,
Wallraf-Richartz-Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Kirchners Potsdamer Platz ist aber nicht nur Schauplatz der Geschlechterverstrickung, sondern lässt sich auch sozialgeschichtlich lesen. Die Prostitution in Berlin hatte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stark zugenommen; die Prostituierten, die meist aus den zugewanderten Arbeiterfamilien stammten, gehörten zum alltäglichen Erscheinungsbild der extrem rasch gewachsenen Metropole. Vor allem auf der Friedrichstraße und der Leipziger Straße mit ihren Querstraßen, wo sich die meisten Bars, Cafés und Nachtlokale befanden, auf dem Potsdamer Platz – hier vor allem vor dem Café Josty – und auch im „Neuen Westen“, also auf der Tauentzienstraße, waren sie in großer Zahl anzutreffen. Da in Berlin seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts Bordelle verboten waren, sahen sich die Prostituierten gezwungen, auf der Straße nach Freiern zu suchen. Die Polizei war befugt, diese Frauen zu kontrollieren, da man offiziell auch die Straßenprostitution untersagt hatte. In seiner Untersuchung „Die Prostitution in Deutschland“ (1910 erschienen) schreibt Robert Hessen über die Berliner Polizei: Sie „beabsichtigte, eine Prostitution spazieren zu lassen, die sich ebenso manierlich benahm wie anständige Frauen. Darum durften die als käuflich bekannten Weiber in der Friedrichstraße (...) unter keinen Umständen zurückblicken, oder an ein Schaufenster treten, oder mit einem Herrn stehen bleiben, oder gar einen anreden. Sie sollten ›ladylike‹ dahinschweben und wandelten wie von Bajonetten umgeben. Denn bei der geringsten Übertretung war und ist heute noch, wie aus dem Boden gewachsen, bald irgendein Detektiv der Sittenpolizei zur Stelle, schreibt die Betroffene auf, und sie kommt ins Gefängnis“ (Hessen 1910, S. 116/117).
Um auf sich aufmerksam zu machen, trugen viele Kokotten auffällige Kleidung: große, eindrucksvolle Federhüte und mit Federkragen geschmückte Mäntel oder Jacken. Tagsüber und natürlich vor allem bei Nacht waren unzählige Prostituierte unterwegs und flanierten durch die Straßen. Sie gehörten zu den Attraktionen des Berliner Nachtlebens. Entsprechend der polizeilichen Vorschriften gibt es aber auf Kirchners Straßenszenen keinen Blickkontakt von seiten der Kokotten zu den männlichen Passanten. Kirchners Modelle für die beiden Frauen waren Erna Schilling – seit 1912 seine Lebensgefährtin – und ihre Schwester Gerda. Gerda, die Schönere, die ihr Gesicht dem Betrachter zuwendet, verschwand wenig später für immer unauffindbar in der Berliner Unterwelt. Der Kriegsfreiwillige Kirchner notierte 1916: „Wie die Kokotten, die man einst malte, so ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg“ (Briefwechsel 1990, S. 83). Dennoch sind Kirchners Prostituierte kein Symbol für das großstädtische Elend, kein Beispiel für gesellschaftliche Randgruppen, kein Motiv sozialer Anklage. Es geht Kirchner nicht um moralische Entrüstung – und dennoch zeigt er uns „die raubtierhafte Versammlung von Gleichgesinnten als Sinnbild großstädtischer Entfremdung“ (Schuster 1990, S. 246) und auf welche Weise diese Menschen eben diese Entfremdung kompensieren. Kirchner erfasst mit seinen Berliner Straßenszenen das Erlebnis der modernen, von wogenden Menschenmengen, hektischem Verkehr und grellem nächtlichen Amüsierbetrieb gekennzeichneten Metropole, und ohne Zweifel hat ihn diese großstädtische Vitalität mit ihrer vibrierenden Bewegung sehr fasziniert.
El Greco: Die Öffnung des fünften Siegels (1608-1614); New York, The Metropolitan Museum of Art
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Gegenüber den Bildern der Dresdener Zeit sind die Körper auf Kirchners Berliner Straßenszenen stark in die Länge gezogen, Gesichter und Gliedmaßen spitz erfasst – Resultat einer damals sehr intensiven Auseinandersetzung mit der gerade wiederentdeckten Gotik wie auch mit der Malerei El Grecos. Die Sonderbund-Ausstellung 1912 in Köln, die Kirchner gesehen hatte und die eine Übersicht über die Entwicklung der expressionistischen Kunst bot, zeigte ein Hauptwerk El Grecos als besondere Attraktion. Gegenüber seiner früheren Malweise sind Kirchners Berliner Bilder durch gesteigerte Verzerrungen, Verkürzungen und irritierende Perspektiven gekennzeichnet. „Die Pinselstriche werden härter, sind schärfer gesetzt und treffen oftmals spitzwinklig zusammen; dichte Schraffuren treten auf, die zu einer nervösen, stark erregten Mal- und Zeichenweise führen“ (Moeller 1993, S. 20). Seismografisch notiert Kirchner das Hektisch-Bewegte der damaligen Zeit, aber auch die eigene fiebrige Anspannung. 1930 schreibt Kirchner rückblickend, daß ihn „besonders die Beobachtung der Bewegung zum Schaffen anregt. Aus ihr kommt mir das gesteigerte Lebensgefühl, das der Ursprung des künstlerischen Werks ist“ (Schad 1999, S. 10).
Ernst Ludwig Kirchner: Potsdamer Platz (1914); Holzschnitt
Kirchner hat von seinem Gemälde 1914 auch einen Holzschnitt angefertigt: Er zeigt annähernd die gleiche Sitation wie die Leinwand, allerdings gespiegelt, da der Abzug von der Holztafel die Komposition spiegelverkehrt wiedergibt.


Literaturhinweise
Brandmüller, Nicole: Der Expressionist in Berlin. In: Ernst Ludwig Kirchner. Retrospektive. Städel Museum, Frankfurt am Main 2010, S. 99-105;
Dahlmanns, Janina: Faszination, Dämonie und Melancholie der Großstadt. In: Anita Beloubek-Hammer u.a. (Hrsg.), Brücke und Berlin. 100 Jahre Expressionismus. Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 2005, S. 198-199;
Hessen, Robert: Die Prostitution in Deutschland. Verlag Albert Langen, München 1910;
Kirchner, Ernst Ludwig/Schiefler, Gustav: Briefwechsel 1910–1935/38. Belser Verlag, Stuttgart/Zürich 1990;
März, Roland: Am Abgrund: Kirchners Potsdamer Platz. In: Katharina Henkel/Roland März (Hrsg.), Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens. Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 2001, S. 33-37;
Moeller, Magdalena M.: Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913–1915. Hirmer Verlag, München 1993;
Moeller, Magdalena M. (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner in Berlin. Hirmer Verlag, München 2008;
Schad, Bernd (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner. Leben ist Bewegung. Katalog zur Ausstellung, Galerie der Stadt Aschaffenburg, Aschaffenburg 1999, S. 10;
Schuster, Peter-Klaus: Kalkulierter Expressionismus. Versuch über Ernst Ludwig Kirchners »Dame mit Hut«. In: Bazon Brock/Achim Preiß (Hrsg.), Ikonographia. Anleitung zum Lesen von Bildern. Klinkhardt & Birmann, München 1900, S. 228-248;
Simmons, Sherwin: Ernst Kirchners Streetwalkers: Art, Luxury, and Immorality in Berlin, 1913-16. In: The Art Bulletin 82 (2000), S. 117-158;
Sykora, Katharina: Weiblichkeit, Großstadt, Moderne. Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszenen 1913–1915. Museumspädagogischer Dienst Berlin, Berlin 1996.

(zuletzt bearbeitet am 10. August 2023)

Mittwoch, 23. Februar 2022

Hinfälliges Fleisch – Albrecht Dürers „Vier nackte Frauen“

Albrecht Dürer: Vier nackte Frauen (1497); Kupferstich
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Albrecht Dürers erster datierter Kupferstich (auf der Kugel: 1497) ist bis heute einer seiner rätselhaftesten geblieben. Vier nackte Frauen haben sich in einem engen, dunklen Raum mit mehrfach gestuftem Steinboden zusammengefunden – ohne erkennbare Handlung, nur durch Blicke verbunden. Es bleibt verborgen, was sie zusammengeführt hat, was die ausgestreckten Hände zur Mitte hin drängt. Durch den Gesichtsausdruck, die Kopfbedeckung und die Körperansicht sind die Frauen deutlich unterschieden: Die matronenhafte Linke, halb vom Rücken her gesehen, ist durch ihre modisch aufgetürmte Haube mit Schleier als verheiratete Frau gekennzeichnet. Sie neigt ihr Gesicht nachdenklich ins Profil, ihrer breithüftigen jungen Nachbarin zu, die, ganz vom Rücken gesehen, die Mittelachse des Bildes einnimmt. Ihr geknotetes Haar ist mit einem Blattkranz geschmückt. Während die Locken bewegt zur Seite flattern, fällt ein dünnes Schnürband des Kranzes leicht geringelt über ihren Rücken. Eine Stufe niedriger posiert rechts, ganz en face, eine antikisch ausbalancierte Gestalt, die ihre Scham mit einem Tuch bedeckt und ihren Kopf den anderen zuwendet. Verdeckt blickt hinter ihr eine vierte junge Frau in die Runde; sie und ihre Nachbarin tragen Kopftücher. Gänzlich geheimnisvoll wird die Darstellung durch das Feuer mit der Teufelsfratze, das aus dem Türspalt links aufflammt; durch den Totenschädel und den Knochen, die zu Füßen der Frauen liegen; durch die Kugel über ihren Köpfen mit den rätselhaften Buchstaben „·O·G·H·“.
Interpretationsansätze hat es in der Forschung zuhauf gegeben: Bordellszene, Hexenversammlung, Liebeszauber, Parisurteil, Venus und die Grazien, Proserpina und die Erynien, Discordia und die drei Parzen, die Horen, die Jahreszeiten, die Lebensalter, die Temperamente, Allegorie der Eitelkeit, der Vergänglichkeit oder gar der Mäßigkeit? 
Venus Medici, 1618 in der Villa des römischen Kaisers Hadrian aufgefunden; sie befindet sich heute
in der Galleria degli Uffizi in Florenz
Die „Drei Grazien“ aus dem Dom von Siena (4. Jahrhundert): 1460 in Rom aufgefunden,
Nachbildung eines griechischen Originals aus hellenistischer Zeit
Zur Polarisierung der Meinungen trugen die verschiedenartigen Bildelemente bei: Einerseits verraten die vier weiblichen Aktfiguren die Kenntnis antiker Statuen, z. B. der Venus Medici und der Drei Grazien im Dom von Siena, was eine mythologische Deutung nahelegt. Andererseits wird die freizügige Sinnlichkeit der Frauengestalten mit Todessymbolen und einem höllischen Dämon verknüpft und damit negativ besetzt – für Dürer vielleicht ein Mittel, um die anstößige Darstellung des weiblichen Aktes zu rechtfertigen. Für Rainer Schoch jedenfalls handelt Dürers Stich „von weiblicher Nacktheit, Sexualität, Sünde und Tod, einem Themenkreis, der die Kunst des 15. Jahrhunderts vielfach beschäftigt hat“ (Schoch 2001, S. 63).
Die Vier nackten Frauen können auch als Versuch gesehen werden, den weiblichen Akt in verschiedenen Ansichten wiederzugeben, gewissermaßen dreidimensional. Dürers Kupferstich wäre damit ein Beitrag zur „Paragone“-Diskussion der Renaissance, der den Wettstreit mit der Skulptur aufnimmt. Dabei ist die Körperlichkeit der dargestellten Frauen weniger ein Ergebnis des Antikenstudiums, sondern „der Natur abgeschaut“, fern von klassischen Schönheitsidealen. Im Professoren-Sprech heißt das: „Statt des hermetisch modellierten Modus der Skulptur macht sich weibliche Physis in freiem Wuchse breit“ (Hinz 1993, S. 213). Vor allem der Rückenakt war wegen seiner vitalen Sinnlichkeit vielen Künstlern im 16. Jahrhundert Vor- und Leitbild: „Der hier erstmals vor die Augen der Öffentlichkeit gelangte Anblick einer nackten Frau von hinten bescherte dieser Perspektive einen anhaltenden künstlerischen Boom“ (Hinz 1993, S. 217). Mit Fug und Recht kann man daher Dürer die Erfindung des neuzeitlichen Rückenaktes zuerkennen.
Zuletzt hat sich Thomas Renkl nochmals sehr nachdrücklich dafür ausgesprochen, Dürers Frauenakte als die Vier Lebensalter zu betrachten: Der Künstler habe jede einzelne seiner Figuren mit Blick auf Körpersprache und Kopfbedeckung so fein ausdifferenziert, dass es sich bei der Gruppe als Ganzes nicht um eine der vorgeschlagenen Drei- bzw. Vierheiten aus der griechischen Mythologie handeln könne. „Diese waren schon in der Dreizahl unter sich jeweils gleichaltrig, während Dürer sichtbar vier verschiedene Abschnitte im Leben einer Frau wiedergibt: die Unschuld und die Unbekümmertheit in der Phase der Kindheit und Jugend, das Aufbgehren und die Verlockung durch sinnliche Reize in der Phase des Erwachsenwerdens, den Ernst und das Benehmen der gereiften Frau, den Wandel weiblicher Formen und das Schwinden der Kräfte im Alter“ (Renkl 2015, S. 394). Das Hauptaugenmerk in Dürers Kupferstich liege, so Renkl, auf dem unaufhaltsamen Älterwerden und damit letztendlich auf der Vergänglichkeit des irdischen Daseins. Auch mit dem Totenschädel und dem vereinzelt am Boden liegenden menschlichen Knochen verweise Dürer auf das Vergehen, auf die Hinfälligkeit alles Fleischlichen.
Dürer demonstriert aber mit seinen vier weiblichen Figuren, erläutert Renkl weiter, nicht einfach den Alterungsprozess und körperlichen Verfall der Frauen – gemeint ist vielmehr das gesamte dem Gesetz der Sterblichkeit ausgelieferte Menschengeschlecht. Als Beleg dient ihm die Inschrift „·O·G·H·“ auf der Kugel über den Köpfen der vier Akte: Es handele sich um die Abkürzung von „omne genus hominem“, ein Vulgata-Zitat aus der  Apostelgeschichte: „Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen“ (17,26; LUT).
Welche Bedeutung hat nun aber die Teufelsgestalt links im Hintergrund? Sie reißt nicht nur ihren Rachen auf und zeigt ihre Zähne, sondern hält auch einen Kloben in der rechten Klaue. Dabei handelt es sich um eine zeitgenössische Vorrichtung für den Vogelfang: Auf einen gespaltenen Stock, dessen Enden ein Keil auseinanderhält, wurde ein Lockvogel gesetzt. Sobald sich ein Vogel zu ihm gesellte, zog der Vogelsteller den Keil über eine Schnur aus dem Kloben, und die Falle schnappte zu. Bis in die jüngere Vergangenheit hinein war der Kloben als Bild für teuflische Versuchungen auch in deutschen Bibelübersetzungen gegenwärtig. So heißt es in Jeremia 5,26-27: „Man findet unter meinem Volk Gottlose, die den Leuten nachstellen und Fallen zurichten, um sie zu fangen, wies die Vogelfänger tun. Ihre Häuser sind voller Tücke, wie ein Vogelbauer voller Lockvögel ist“ (LUT). In der von Anton Koberger 1483 in Nürnberg gedruckten deutschsprachigen Bibel wird für Fallen das Wort kloben benutzt. Vor diesem Hintergrund könnte Dürers Kloben als Hinweis gesehen werden, dass hinter dem Reiz weiblicher Nacktheit stets die Gefahr lauert, den Verlockungen des Teufels zu erliegen“ (Renkl 2015, S. 399).
Albrecht Dürer: Der Traum des Doktors (1497/98), Kupferstich
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Sehr wahrscheinlich waren Dürers Kupferstiche mit so komplexen Bildthemen wie Vier nackte Frauen oder Der Traum des Doktors für einen gebildeten Kreis von Humanisten bestimmt, dem der Künstler zugleich Anregungen für seine Bildinhalte verdankt haben dürfte.

Literaturhinweise
Anzelewsky, Fedja: Vier nackte Frauen. In: Fedja Anzelewsky, Dürer-Studien. Untersuchungen zu den ikonographischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen seiner Werke zwischen den beiden Italienreisen. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1983, S. 29-44;
Hinz, Berthold: Nackt/Akt – Dürer und der „Prozess der Zivilisation“. In: Städel-Jahrbuch NF 14 (1993), S. 199-230;
Schoch, Rainer: Vier nackte Frauen. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 61-64;
Renkl, Thomas: Vier nackte Frauen? Zum Sichtbaren und zum Nichtsichtbaren in Dürers Kupferstich mit den Zeichen »O·G·H« und »1497«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 78 (2015), S. 387-411;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 52-53;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz  Verlag, Ostfildern 2003, S. 240;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 54;
Sonnabend, Martin: Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst. Deutsche und niederländische Kupferstiche des 15. Jahrhunderts aus der Graphischen Sammlung des Städel Museums. Sandstein Verlag, Dresden 2022, S. 281-283;
Stumpel, Jeroen: The foul fowler found out: on a key motif in Dürers Four witches. In: Simiolus 30 (2003), S. 143-160;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 11. März 2023)

Samstag, 12. Februar 2022

In Stein gemeißelte Theologie – Michelangelos „Brügger Madonna“


Michelangelo: Madonna mit Kind (um 1504/05); Brügge, Liebfrauenkirche
Ende Juni 1496 verließ Michelangelo (1475–1564) Florenz und traf zum ersten Mal in Rom ein. Er blieb bis zum März 1501; in dieser Zeit entstanden so herausragende Skulpturen wie der Bacchus (siehe meinen Post „Michelangelos schwankender Bacchus“) und die Pietà (siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?). Danach kehrte er nach Florenz zurück – und Michelangelos endgültiger künstlerischer Durchbruch setzte ein: Bis zum Beginn seines zweiten Rom-Aufenthaltes im März 1505 zog er eine wahre Flut von Aufträgen an sich.
Im April 1503 zum Beispiel, also noch während der Arbeiten am Marmor-David, schloss er mit der Wollhändlerzunft und der Bauhütte an Santa Maria del Fiore einen Vertrag ab über zwölf überlebensgroße Apostelfiguren. Ungefähr zur selben Zeit verpflichtete sich der Künstler, für den großen Ratssaal des Palazzo della Signoria ein monumentales Wandgelmälde mit der Schlacht von Cascina zu schaffen, an dem er bis zum März 1505 arbeitete – dann rief ihn Papst Julius II. nach Rom. Im Zeitraum von vier Jahren hatte Michelangelo Aufträge für 37 Einzelwerke übernommen, darunter 31 Skulpturen oder Reliefs in Marmor, von denen wiederum 13 über zwei Meter groß sein sollten. Hinzu kam der Auftrag für eine kleinere Bronzefigur, obwohl er keinerlei Erfahrungen im Bronzeguss hatte. Eine Malerei in vergleichbarer Größe wie die Cascina-Schlacht konnte er bis dahin ebenfalls nicht vorweisen.
Michelangelo: Tondo Doni (1503/04); Florenz, Uffizien
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Von den genannten 37 Werken stellte Michelangelo lediglich den David, die Brügger Madonna, den verschollenen Bronze-David und den Tondo Doni fertig. Die anderen Projekte oder Einzelwerke blieben im Anfangsstadium stecken. Von den zwölf Aposteln nahm er lediglich den Matthäus in Angriff, von 15 Figuren für einen Altar im Dom von Siena vollendete er nur vier. Für das Wandbild schuf Michelangelo lediglich den Entwurfskarton, und die beiden Marmorreliefs, genannt Tondo Taddei und Tondo Pitti, wurden auch nicht vollständig ausgeführt. „Bereits hier zeichnet sich die Neigung Michelangelos ab, mehr Aufträge zu übernehmen, als er in einem überschaubaren Zeitraum hätte vollenden können“ (Zöllner 2009, S. 50/51).
Die Brügger Madonna, der ich mich jetzt zuwenden will, war gegen Ende des Jahres 1503 von dem flandrischen Tuchhändler Jean-Alexandre Mouscron bestellt worden, und zwar für seine Familienkapelle in der Brügger Liebfrauenkirche. Im August 1505 wurde die Madonna für den Transport verpackt und nach Brügge verschifft, wo sie auch wohlbehalten ankam. Dort ziert sie bis heute die von der Familie Mouscron gestiftete Kapelle. Die erste Nachricht über ihre Aufstellung in Brügge stammt übrigens von Albrecht Dürer, der sie im Tagebuch seiner niederländischen Reise am 21. April 1521 ausdrücklich als Werk Michelangelos erwähnt. Die Brügger Madonna zählte zu Michelangelos Zeit zu seinen weniger bekannten Werken. Sein Biograf Ascanio Condivi, der die Skulptur nie gesehen hatte, behauptete 1553 in seiner Vita di Michelagnolo Buonarroti, sie sei aus Bronze; ein Irrtum den Giorgio Vasari in seiner Lebensbeschreibung Michelangelos von 1568 übernahm.
Maria, völlig in sich selbst versunken
Die Brügger Madonna ist mit 128 cm annähernd lebensgroß, aber etwa einen halben Meter kleiner als Michelangelos 1499 vollendete Maria im Petersdom. Während sich die römische Pietà in die Breite entfaltet, ist die Gottesmutter in Brügge vertikal ausgerichtet. Dabei sind sich die Gesichtszüge der beiden Marien und ihre melancholische Grundstimmung verblüffend ähnlich.
Gefasster Schmerz: Michelangelos Gottesmutter aus St. Peter
Michelangelo hat die Brügger Madonna in der Frontalansicht voll ausgearbeitet und poliert, die Rückseite der Skulptur wurde jedoch nur grob behauen, und auch die hinteren Schrägansichten sind vernachlässigt – sie war also von vornherein für die Aufstellung in einer Nische konzipiert. Maria trägt einen über die linke Schulter gehängten Mantel, ein schlichtes Kopftuch und ein langärmeliges Untergewand, das am Halsausschnitt von einer breiten Brosche gerafft wird. In ihre Stirn hat Michelangelo eine feine Linie geritzt, um so einen Schleier eher anzudeuten, als tatsächlich als dem Stein zu meißeln. Maria sitzt auf einer zweistufigen Felsformation, wobei sich ihr linker Fuß auf die niedrigere Stufe stützt. 
Michelangelo orientiert sich mit seiner Madonna, so Franz-Joachim Verspohl, an Donatellos kurz vor 1450 für den Hochaltar von San Antonio in Padua geschaffener Muttergottes, mildert aber deren feierlich-ernste Haltung. Das Kind ist eng zwischen Marias Beine gestellt, umgeben vom reichen Faltenwurf des Stoffs; mit seiner rechten Hand fasst es die linke der Mutter, mit der linken Hand stützt es sich seitlich an ihrem Knie ab. Irving Lavin wiederum verweist auf ein anderes Werk von Donatello als Anregung für die Brügger Madonna, und zwar auf die aus Holz gearbeitete Madonna della Mela (um 1420/22 entstanden).
Donatello: Thronende Muttergottes mit Kind (um 1450);
Padua, 
Sant’ Antonio
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Donatello: Madonna della Mela (um 1420/22); Florenz, Museo Bardini
Auffällig ist der breite und in seinen Proportionen etwas zu groß geratene Kopf des Knaben – was sich jedoch aus der Untersicht wieder verliert. Seine breiten, pausbäckigen Züge kontrastieren mit dem schmalen, konzentrierten Gesicht Marias. Das Kind sitzt nicht, wie sonst üblich, auf dem Schoß der Mutter, sondern hat sich von dort gelöst und ist im Begriff, vom Felsen herabzusteigen. Prüfend blickt der Knabe nach unten, um für den vorgesetzten rechten Fuß die geeignete Trittfläche zu finden; dabei hält er sich mit der Linken an Marias Bein und mit der Rechten an ihrer Hand fest. Noch steht er auf dem Mantel seiner Mutter, doch Jesus schickt sich an, seinen irdischen Weg anzutreten, der schließlich in die Passion münden wird. Noch lehnt sich der Knabe mit dem Brustkorb zurück in den mütterlichen Schoß und dessen Geborgenheit – doch er wird diesen schützenden Bereich verlassen.
Im Kontrast zu dem bewegten, labil stehenden Kind wirkt Maria besonders hoheitsvoll und streng, „ein unbewegliches Gegenstück“ (Wallace 1999, S. 68). Sie versucht nicht, ihren Sohn zurückzuhalten; Maria wirkt selbstvergessen und ganz in Gedanken versunken – weil sie Jesu Berufung erkennt. Denn auf ihrem rechten Bein hat die Gottesmutter das Alte Testament abgelegt; mit der Abwärtsbewegung ihres Kindes beginnen sich die dort aufgezeichneten und mit ihm verbundenen Leidens- und Heilsprophezeiungen zu erfüllen: Als Retter wird er am Kreuz sterben und damit die Sünden aller Menschen auf sich nehmen, um ihnen das ewige Leben zu ermöglichen.
Jesus beginnt seinen irdischen Weg
Michelangelo hat in den Jahren zwischen 1525 und 1531 erneut eine marmorne Gottesmutter mit Kind skulpiert, und zwar für die Medici-Kapelle in der Florentiner Kirche San Lorenzo. Als Madonna lactans, die milchspendende Maria, stützt sie das auf ihrem übergeschlagenen linken Bein sitzende Jesuskind, das sich, zur Brust greifend, zurückwendet. Die Staffelung von Mutter und Kind erinnert an den Aufbau der Brügger Madonna, „doch im Vergleich erscheint die ältere Skulptur statuarischer, strenger, und die Drehbewegung, die beide Gestalten der Medici-Kapelle erfasst hat und sie zum Umraum hin öffnet, geht über das vorsichtige Tasten des Brügger Knaben hinaus“ (Bredekamp 2021, S. 378). 
Michelangelo: Medici-Madonna (1525/31);
Florenz, San Lorenzo/Medici-Kapelle
In der Seitenansicht wird deutlich, dass sich die Gottesmutter mit der Hand des eng an den Körper gepressten rechten Arms auf ihre Sitzbank aufstützt, um dem leicht nach vorn geneigten Oberkörper Halt zu geben.
„Durch dieses Zurücksetzen des Armes kann sich über den gesamten Körper ein wahres Theater der Stoffbewegungen entfalten: von der Schulter über die rechte Brust, die Gürtel und die Aufstauchungen über dem rechten Bein bis zu den herabfallenden Gewandschwüngen und -säumen“ (Bredekamp 2021, S. 379). Vergleicht man die Gesichter der beiden Madonnen, dann zeigt die Medici-Skulptur durch ihre nicht polierte Hautoberfläche deutlicher den Schmerz der Mutter, die das Schicksal ihres Sohnes vorausahnt.

Literaturhinweise
Bredekamp, Horst: Michelangelo. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, S. 150-155 und 376-379;
Goffen, Rona: Mary’s Motherhood According to Leonardo and Michelangelo. In: artibus et historiae 40 (1999), S. 35-69;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 80-81;
Schwedes, Kerstin: Historia in statua. Zur Eloquenz plastischer Bildwerke Michelangelos im Umfeld des Christus von Santa Maria sopra Minerva zu Rom. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 95-108;
Söding, Ulrich: Importierte Skulpturen. Transalpine Wechselbeziehungen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. In: Wolfgang Augustyn/Ulrich Söding (Hrsg.), Dialog – Transfer – Konflikt. Künstlerische Wechselbeziehungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Dietmar Klinger Vrlag, Passau 2014, S. 189-256;
Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Florenz zwischen 1501 und 1505. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, S. 93-99;
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.

(zuletzt bearbeitet am 12. Februar 2022)