Samstag, 30. Juni 2012

Rainer Maria Rilke: Sankt Georg

Peter Paul Rubens: Der Hl. Georg kämpft mit dem Drachen (1607); Madrid, Prado
(für die Großansicht einfach anklicken)

Sankt Georg

Und sie hatte ihn die ganze Nacht
angerufen, hingekniet, die schwache
wache Jungfrau: Siehe, dieser Drache,
und ich weiß es nicht, warum er wacht.

Und da brach er aus dem Morgengraun
auf dem Falben, strahlend Helm und Haubert,
und er sah sie, traurig und verzaubert
aus dem Knieen aufwärtsschaun

zu dem Glanze, der er war.
Und er sprengte glänzend längs der Länder
abwärts mit erhobnem Doppelhänder
in die offene Gefahr,

viel zu furchtbar, aber doch erfleht.
Und sie kniete knieender, die Hände
fester faltend, daß er sie bestände;
denn sie wußte nicht, daß der besteht,

den ihr Herz, ihr reines und bereites,
aus dem Licht des göttlichen Geleites
niederreißt. Zuseiten seines Streites
stand, wie Türme stehen, ihr Gebet.

Rainer Maria Rilke

Samstag, 23. Juni 2012

Ein äußerst kopfloser Heerführer – Donatellos „Judith“

Donatello: Judith und Holofernes (um 1453-1457); Florenz, Palazzo Vecchio © Lee Sandstead
Seiner frühen, allansichtigen Bronzestatue des David (um 1440; siehe meinen Post Androgyne Sinnlichkeit) hat Donatello (1386–1466) mit der Judith und Holofernes-Gruppe ein spätes Meisterwerk vergleichbaren Ranges an die Seite gestellt. Vermutlich von Cosimo de’ Medici (1389–1464) erhielt der italienische Bildhauer den Auftrag zu einer Brunnenfigur, die im Garten des Medici-Palastes aufgestellt werden sollte. Entstanden ist sie wahrscheinlich zwischen 1453 und 1457.
Der Bankier Cosimo de’ Medici bestimmte über mehr als drei Jahrzehnte maßgeblich die Geschicke seiner Heimatstadt. Zwar war Florenz während des 15. Jahrhunderts dem Namen nach eine Republik, aber de facto lag die Macht in den Händen einer kleinen Riege einflussreicher Persönlichkeiten, an deren Spitze sich spätestens ab 1434 Cosimo etablierte. Bis zu seinem Tod verstand er es geschickt, die Republik politisch zu dominieren und dennoch bei den Florentinern den Eindruck allzu offensichtlicher Machtausübung zu vermeiden.
Donatello: David (Um 1449); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Zurück zur biblischen Judith: Diese junge und schöne Witwe rettet, so berichtet eine apokryphe alttestamentliche Erzählung, ihre Heimatstadt Bethulia vor der drohenden Vernichtung durch das vor den Toren lagernde Heer Nebukadnezars. Sie begibt sich, nur von einer Magd begleitet, in das Feldlager des Feindes und weckt dort die Begierde des Heerführers Holofernes. In der Nacht vor dem Angriff sucht Judith sein Zelt auf und schlägt dem betrunkenen Feldherrn mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab. Die nunmehr führerlosen assyrischen Truppen ergreifen daraufhin die Flucht.
Die Geschichte von Judith und Holofernes war seit dem Mittelalter ein überaus beliebtes Thema künstlerischer Darstellungen. Wie in der David-und-Goliath-Erzählung besiegt eine vermeintlich deutlich unterlegene Figur einen übermachtig wirkenden Gegner. In beiden Fällen behalten Mut, List und Gottvertrauen die Oberhand über Körperkraft und Hochmut. Dem von Donatello in beinahe völliger Nacktheit gestalteten assyrischen Feldherrn steht die hochgeschlossene Gewandung der eher zarten Judith gegenüber. Kein Haar zeigt sich unter ihrem Umhang, während man bei Holofernes durchaus von einer wilden Mähne sprechen kann. Auf diese Weise kontrastiert Donatello Judiths Demut und Tugend mit der Selbstüberschätzung und Zügellosigkeit des Holofernes. Die Statue lässt sich also zum einen als Sieg der Keuschheit über das Laster lesen, denn Judith steht mit ihrem rechten Fuß, deutlich sichtbar, genau auf dem Geschlecht des Holofernes. 
Eines der drei Reliefs aus der Sockelzone
Zum anderen ist Judith aber auch ein Exempel der Demut, weil sie sich zu keinem Zeitpunkt auf ihre eigene Kraft verlässt, sondern wiederholt um Gottes Beistand bittet. Sie ist nur Gottes Erfüllungsgehilfin, sein williges Werkzeug. Das Medaillon, das auf Holofernes’ Rücken zu sehen ist, könnte entsprechend auf den Hochmut des Feldherrn anspielen und auf Psalm 73,6 hinweisen, wo über die Stolzen gesagt wird: „Ihren Hochmut tragen sie zur Schau wie einen kostbaren Halsschmuck, und ihre Grausamkeit umgibt sie wie ein kostbares Kleid“ (LUT). Zudem zeigt das Medaillon ein sich aufbäumendes Pferd, das emblematisch zu verstehen ist: Es versinnbildlicht Holofernes ungezügelte Libido
Die Inschrift, die auf der Säule der Statue angebracht war, deutet Judiths Demut allerdings nicht mehr theologisch, sondern politisch: „Regna cadunt luxu, surgunt virtutibus urbes: / Caesa vides humili colla superba manu.“ (Königreiche fallen durch Ausschweifung; Städte steigen durch Tugend. / Siehe die stolzen Hälse, gefällt durch die Hand der Demut.) Die Tugend, speziell die Demut, wird zu einer Eigenart der Städte, während luxuria, die Ausschweifung, und superbia, der Hochmut, den Königreichen zugeschrieben werden, erläutert Matthias Krüger. „Damit wird das christliche Paradigma vom Sieg der Demut über den Hochmut auf den Freiheitskampf der italienischen Stadtstaaten bezogen, die sich ständig den Expansionsbestrebungen größerer Mächte zu erwehren hatten. Die Inschrift appelliert also an die Bürger, tugendhaft die Freiheit der Republik zu verteidigen“ (Krüger 2008, S. 485).
Die drei Reliefs der Sockelzone erinnern mit den Darstellungen bacchantischer Szenen an die vorangegangene Nacht und die in der Bibel beschriebene Trunkenheit des Holofernes. Dessen mächtiger Körper scheint aller Kraft beraubt und müsste in sich zusammensacken, hielte ihn Judith nicht am Schopf gepackt. Mit dem linken Fuß tritt sie auf das verdrehte rechte Handgelenk des Holofernes. „Der große Zeh drückt auf den Puls, um den Lebensnerv und das Kraftzentrum des Besiegten zu treffen“ (Bredekamp 1995, S. 23/24). Ruhig und entschlossen wirkt Judith, als walte sie eines priesterlichen Amtes. Abweichend von den gängigen Darstellungen des blutigen Ereignisses, hat Judith den Feind aber noch nicht enthauptet. Donatello vergegenwärtigt damit den im biblischen Text beschriebenen kurzen Augenblick innerer Besinnung: „Sie ging ganz nahe zu seinem Lager hin, ergriff sein Haar und sagte: Mach mich stark, Herr, du Gott Israels, am heutigen Tag! Und sie schlug zweimal mit ihrer ganzen Kraft auf seinen Nacken und hieb ihm den Kopf ab“ (Judit 13,7-8; EÜ). Die klaffende Wunde am Hals des Holofernes lässt vermuten, dass der Moment der Zwiesprache mit Gott zwischen dem ersten und dem zweiten Schwerthieb dargestellt ist. 
Zwiesprache mit Gott oder Zaudern anegsichts der blutigen Tat?
Horst Bredekamp deutet Judiths Blick wie auch den erhobenen, wie erstarrt wirkenden Richterarm allerdings als Ausdruck eines Zauderns, eines inneren Zwiespalts: „Ihr in einem inneren Konflikt blockiertes Antlitz spricht weniger vom Triumph über die Befreiung als vielmehr vom Schrecken über die im Namen der Freiheit zu vollziehende Tat“ (Bredekamp 1995, S. 21). Er entdeckt noch eine weitere Ambivalenz in Donatellos Judith: In der Vorderansicht steigt sie über die Schulter des Holofernes, um dessen Oberkörper zwischen ihren Beinen fixieren zu können. Diese Stellung erwecke den Eindruck, als würde sie den Kopf des Holofernes an ihr Geschlecht ziehen: „Judith erfüllt Holofernes im Moment seiner Hinrichtung jenen Wunsch nach körperlicher Vereinigung, die ihm zu Verhängnis geworden ist“ (Bredekamp 1995, S. 25). Donatello nähre damit den Verdacht, dass Judith auch ein geheimes Verlangen in sich trage und ihre Keuschheit aufgegeben habe, „sei es als Faktum, sei es als Wunsch“ (Bredekamp 1995, S. 26).
Ohne Zweifel ist Donatellos vollrunde Figurengruppe für eine Betrachtung von allen Seiten konzipiert: Nur wenn die Skulptur umschritten wird, lässt sich die Verschränkung der beiden, in verschiedenen Richtungen angeordneten Gestalten vollständig erfassen. Der befriedigenste Betrachterstandpunkt dürfte dabei ein Wechsel aus der Frontalansicht um 45 Grad sein, sodass der Blick in gleichem Winkel auf zwei angrenzende Reliefs fällt und sich das Gesicht des Holofernes von vorn und Judiths Kopf annähernd im Profil zeigen.
Als die Judith 1495 aus dem Garten des Palazzo Medici auf die Piazza della Signoria gebracht wurde, um dort unmittelbar vor dem Hauptportal aufgestellt zu werden, war Cosimo de’ Medici bereits seit rund dreißig Jahren tot. In der Zwischenzeit hatte sich das politische Gefüge in Florenz deutlich verschoben: 1494 waren die Medici aus der Stadt vertrieben worden, und nur wenige Tage darauf marschierte der französische König Karl VIII. in die Stadt am Arno ein, wo man ihn begeistert empfing. Dass die Judith, die als biblische Heldin ihr Volk durch die Tötung Holofernes’ aus den Klauen eines Tyrannen befreit hatte, nur wenige Monate später aus der privateren Umgebung des Medici-Palastes auf eine rundum öffentliche, überaus exponierte Bühne versetzt wurde, steht zweifellos in Zusammenhang mit diesen Veränderungen der politischen Konstellation. Die aus Florenz geflohenen Medici avancierten nun selbst zum Paradebeispiel gestürzten Hochmuts. 
Michelangelo: David (1501-1504); Marmorkopie am Palazzo Vecchio, Florenz
Am neuen Aufstellungsort blieb Donatellos Plastik allerdings nur achteinhalb Jahre, denn schon 1504 musste sie einem übermächtigen Nachfolger weichen: Michelangelos David (1501-1504), wiederum eine Symbolfigur der florentinischen Republik. Donatellos Judith fand nun zwar nur einige Meter entfernt, aber an einer weitaus weniger herausgehobenen Stelle ihren Platz: unter der westlichen Arkade der Loggia dei Lanzi. 
Giambologna: Raub der Sabinerinnen (1574-1582); Florenz, Loggia dei Lanzi
Dort stand sie wiederum nur bis 1582, dann musste sie abermals ihren Standort räumen, und zwar für Giambolognas Statue Raub der Sabinerin (1574-1582; siehe meinen Post Von allen Seiten schön). Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde Donatellos Judith erneut vor dem Palazzo Vecchio aufgestellt – allerdings nicht mehr an der alten Position, sondern einige Meter seitlich davon, reichlich verloren vor dem gewaltig aufragenden Mauerwerk des Palastes und neben dem immerhin um zweieinhalb Meter größeren David Michelangelos. 1988 wurde das Original dann durch eine Kopie ersetzt und in die Sala dei Gigli des Palazzo Vecchio gebracht.
Baccio Bandinelli: Hercules und Cacus (1534); Florenz; Piazza della Signoria
Benvenuto Cellin: Perseus (1545-1554), Florenz, Piazza della Signoria
Leone Leoni: Karl V. triumphiert über den Furor (1549-1553); Madrid, Prado
Donatellos Zwei-Figuren-Gruppe ist zwar heute regelrecht aus dem Blick gerückt – künstlerisch war sie aber besonders für das 16. Jahrhundert in Italien eine fruchtbare Anregung: Werke wie Baccio Bandinellis Hercules und Cacus, Benvenuto Cellinis Perseus und Leone Leonis Karl V. triumphiert über den Furor zeugen von einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Judith.
 
Literaturhinweise
Bredekamp, Horst: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem. Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 1995;
Crum, Roger J.: Severing the Neck of Pride: Donatello’s Judith and Holofernes and the Recollection of Albizzi Shame in Medicean Florence. In: artibus et historiae 44 (2001), S. 23-29;
Even, Yael: The Loggia dei Lanzi: A Showcase of Female Subjugation. In: Woman’s Art Journal 12 (1991), S. 10-14;
Herzner, Volker: Die »Judith« der Medici. In. Zeitschrift für Kunstgeschichte  43 (1980), S. 139-180;
Krüger, Matthias: Wie man Fürsten empfing. Donatellos Judith und Michelangelos David im Staatszeremoniell der Florentiner Republik. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 71 (2008), S. 481-496;
McHam, Sarah Blake: Donatello’s David and Judith as Metaphors of Medici Rule in Florence. In: The Art Bulletin 83 (2001), S. 32-47;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 1: Donatello und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1990;
Pope-Hennessy, John: Donatello: Sculptor. Abbeville Press, New York 1993, S. 280-288;
Terry, Allie: Donatello’s decapitations and the rhetoric of beheading in Medicean Florence. In: Renaissance Studies 23 (2009), S. 609-638;
Tönnesmann, Andreas: Gab es eine späthumanistische Kultur? Zur Skulpturenausstattung der Piazza della Signoria in Florenz. In: Notker Hammerstein/Gerrit Walther, Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Wallstein Verlag, Göttingen 2000, S. 263-286.
= Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 24. November 2021)

Mittwoch, 20. Juni 2012

William Turner, der – Historienmaler

William Turner: Die fünfte Plage Ägyptens (1800); London, Tate Britain
Der englische Maler William Turner (1775–1851) ist bekannt für seine Landschaftsbilder, in denen das Gegenständliche zugunsten der Atmosphäre – dem Zusammenspiel von Licht und Luft, Wolken und Wind – fast aufgehoben zu sein scheint. Doch Turner hat seine Karriere als Historienmaler begonnen. Zu seinen frühen Bildern gehört auch Die fünfte Plage Ägyptens (siehe 2. Mose 9,1-7) aus dem Jahr 1800, bei dem ganz das dramatische Aufeinandertreffen der Naturelemente im Vordergrund steht. Allerdings ist entgegen der Betitelung die siebte Plage dargestellt: Hagel und Feuersturm. Anrollende, formlose Wolken, aus denen Asche und Hagel regnen, nehmen große Teile des Bildes ein. Sie zeigen die verheerende Gewalt des Unwetters, dem Mensch und Tier ausgesetzt sind. Schon hier wird deutlich, was die späteren Landschaften des britischen Künstlers kennzeichnet: Hauptdarsteller sind nicht die Figuren, sondern Himmel und Wetter. Turner will nicht die menschliche Tragödie, sondern die Naturkatastrophe mit ihren aufregenden Momenten in den Mittelpunkt rücken. Man hat seine Bilder deswegen als „Augenblickslandschaften“ bezeichnet, bei denen die Stimmung wichtiger ist als der historische Inhalt. Dabei gelingt es Turner nicht nur, Naturphänomene atmosphärisch überzeugend darzustellen, sondern sie auch symbolisch einzusetzen, Himmel und Wetter mit Bedeutung aufzuladen. So kann z. B. ein Blitz wie in The Field of Waterloo die Zerstörungskraft einer Schlacht anzeigen.
William Turner: The Field of Waterloo (1818); London, Tate Britain
Bei einer ganzen Reihe von Gemälden, die in diesem Blog vorgestellt werden, handelt es sich um „Historienbilder“. Was genau ist damit gemeint? Die einfachste Begriffserklärung für „Historienbild“ ist: „Bilder mit Geschichten“. Aber nicht alle „Bilder mit Geschichte“ sind Historienbilder. Im Historienbild werden außergewöhnliche, nicht-alltägliche Ereignisse dargestellt: Szenen aus dem Alten und Neuen Testament und aus den Heiligenlegenden, Episoden aus berühmten und weitverbreiteten Werken der Weltliteratur (z. B. Dantes Göttliche Komödie oder Goethes Faust) und bedeutsame Begebenheiten aus der Geschichte der Völker sowie aus dem umfangreichen Sagen- und Mythenschatz. Gemälde hingegen, die ein alltägliches Geschehen schildern, nennt man „Genrebilder“. Sie unterscheiden sich vom Historienbild durch ihren anekdotischen Charakter.
Für das Verständnis von Historienbildern ist es wichtig, immer auch nach dem Auftraggeber solch eines Gemäldes zu fragen. Denn sehr oft diente es dazu, dessen Person und seine Taten zu glorifizieren. Dabei wurde häufig auf weit zurückliegende Ereignisse Bezug genommen, die als Parallelen zu zeitgenössischen Geschehnissen erscheinen sollten. Das Historienbild galt bis in das 19. Jahrhundert hinein als die wichtigste Bildgattung, dem die Landschaft, das Genrebild, das Porträt und das Stillleben in der Rangfolge nachgeordnet waren. Dementsprechend wurden für das Historienbild auch die größten Bildformate verwendet – man denke z. B. an das berühmte Floß der Medusa von Théodore Géricault (1819) im Louvre, das 716 x 491 cm misst! 
Théodore Géricault: Das Floß der Medusa (1819); Paris, Louvre

Literaturhinweise
Költzsch, Georg-W. (Hrsg.): William Turner – Licht und Farbe. Museum Folkwang, Essen 2001;
Richter-Musso, Inés: Feuer, Wasser, Luft und Erde. William Turner als Maler der Elemente. In: Ortrud Westheider/Michael Philipp (Hrsg.), William Turner. Maler der Elemente. Hirmer Verlag, München 2011, S. 41-51;
Wagner, Monika: William Turner. Verlag C.H. Beck, München 2011.

(zuletzt bearbeitet am 22. März 2020)

Mittwoch, 13. Juni 2012

„Das bessere Bild zeigen seine Schriften“ – Erasmus von Rotterdam im Porträt

Albrecht Dürer: Erasmus von Rotterdam (1526); Kupferstich
Erasmus von Rotterdam (um 1467–1536), der berühmteste humanistische Gelehrte Europas, und Albrecht Dürer (1471–1528), der damals bedeutendste Künstler nördlich der Alpen, sind sich 1520/21 mehrfach begegnet. Erasmus wollte von Dürer porträtiert werden – warum allerdings zwischen dessen Bildniszeichnung von 1520 und dem vollendeten Kupferstich sechs Jahre lagen, ist bis heute nicht geklärt.
Dürers Bildnisstudie von Erasmus (1520); Paris, Louvre
Dürer zeigt Erasmus an einem Tisch stehend, auf dem sein Schreibpult ruht. Er trägt den Talar des Gelehrten mit weiten, bei der Schreibarbeit eher hinderlichen Ärmeln und einen Doktorhut. Der Oberkörper ist leicht zum Betrachter hin gewandt, das bartlose Gesicht erscheint im Halbprofil. Konzentriert blickt Erasmus nach unten auf einen Bogen Papier, den er mit einer Rohrfeder beschreibt, während die linke Hand das geöffnete Tintenfass hält. Auf dem Tisch steht eine Henkelvase mit Blumen, außerdem sind neben dem Schreibpult zwei Briefe abgelegt, der obere wie gerade geöffnet, der untere noch verschlossen. Im Vordergrund liegen auf einer Ablage ein aufgeschlagenes Buch und vier weitere, mit Schließen versehene Bände. Der Text des aufgeschlagenen Folianten scheint lesbar, ist es aber nicht.
Eine gerahmte, streng frontale und formatparallele weiße Tafel füllt mehr als das linke obere Viertel des Blattes. Auf ihr sind eine lateinische und eine griechische Inschrift angebracht, die gemeinsam gelesen werden müssen. Sie lauten: „Bildnis des Erasmus von Rotterdam, von Albrecht Dürer nach dem Leben gezeichnet. Das bessere Bild von ihm zeigen seine Schriften“. Das Porträt spricht hier unmittelbar zum Betrachter, um ihn über sich hinaus vom Bild auf die Bücher und Briefe als eigentliches Ebenbild des Erasmus zu verweisen. 
Es fällt nämlich auf, dass zwar Bücher in den Vordergrund gelegt sind, Erasmus aber beim Abfassen eines Briefes gezeigt wird – vielleicht als Antwort auf einen der beiden abgebildeten Briefe. Oskar Bätschmann und Pascal Griener halten dieses Detail für sehr wichtig, weil für die Humanisten die Briefe mehr als jedes andere literarische Erzeugnis die Rede des Abwesenden an den Abwesenden –  ›sermo absentis ad absente‹ – leisten und als Selbstdarstellung die bildlichen Porträts an Treue, Lebendigkeit und Wirkung übertreffen können“ (Bätschmann/Griener 1997, S. 30). Über die Kunst des Briefschreibens verfassten Erasmus und andere Humanisten wie Conrad Celtis oder Christoph Hegendorf auch Traktate. „Die bildlichen Porträts, nachgeordnete Ergänzungen der brieflichen Bildnisse, werden wie Briefe übersandt  (Bätschmann/Griener 1997, S. 30). Der Humanist und Reformator Philipp Melanchthon z. B. betont 1521 in seiner Vorrede zur Ausgabe des Römerbriefes, Christus sei von Paulus besser gezeichnet, als es Apelles, der berühmteste Maler der Antike, vermocht hätte.
In seinem Kupferstich-Porträt hat der selbstbewusste Dürer unter die zweisprachige Inschrift gleichgewichtig sein bekanntes Monogramm gesetzt – Gelehrter und Künstler werden in einem Atemzug genannt, beide partizipieren dabei vom Ruhm des anderen.
Quentin Massys: Erasmus von Rotterdam (1517); Rom, Galleria Nazionale d’Arte Antica;
Massys zeigt den Gelehrten bei der Arbeit an seiner Auslegung des Römerbriefs
Dürers Bildanordnung bezieht sich auf ein gemaltes Erasmus-Porträt von Quentin Massys (1466–1529) von 1517, das der Nürnberger Meister in Antwerpen gesehen haben muss. Es steht am Beginn aller gemalten Erasmus-Bildnisse, entstand in dessen Auftrag und zeigt, wie sich der Humanist sah und wie er der Nachwelt gegenübertreten wollte. Als Vorbild für den christlichen Gelehrten betrachtete Erasmus den Kirchenvater und Bibelübersetzer Hieronymus, in dessen Rolle er schlüpft: Seine eigenen Bildnisse, die allesamt die Würde des Lesens und Schreiben betonen, stellt er bewusst in die abendländisch-christliche Tradition der Hieronymus-Ikonografie. Die für Dürers Kupferstich von 1526 gefundene Form greift diese Selbstinterpretation auf und stellt Erasmus als neuen „Hieronymus im Gehäus“ dar, verknüpft mit dem Bildaufbau des Massys-Porträts von 1517: Aus dem Eremiten wird der Gelehrte in seiner Studierstube. Auf Dürers Kupferstich des Hieronymus im Gehäus von 1514 verweist auch das Bücherstillleben im Vordergrund.
Erasmus hatte den Briefwechsel des Hieronymus kritisch ediert; seiner Ausgabe fügte er eine Lebensbeschreibung des spätantiken Gelehrten bei, die als erste wissenschaftliche Kirchenvaterbiografie gelten darf. Dabei werden alle Legendenzüge stillschweigend übergangen oder als Unsinn bloßgestellt. 
Von Dürers Kupferstich-Porträt war Erasmus übrigens nicht gerade begeistert – es sehe ihm nicht mehr wirklich ähnlich, äußerte er, als er es 1526 erhalten hatte (so in einem Brief an seinen und Dürers gemeinsamen Freund Willibald Pirckheimer vom 30. Juli 1526). Peter G. Bietenholz vermutet, dass Erasmus gestört habe, zwar in der Studierzimmer-Tradition der Hieronymus-Bildnisse dargestellt worden zu sein, aber eben nur als Gelehrter und ohne jeden Hinweis auf seine Frömmigkeit.
Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514); Kupferstich
(für die großformatige Ansicht einfach anklicken – es lohnt sich)
Von Hans Holbein d.J. (1497–1543), einem der bedeutendsten Porträtmaler überhaupt, stammt ein weiteres wichtiges Erasmus-Bildnis. Es entstand 1523 in Basel, wo der Humanist seit 1521 lebte, und war für William Warham (1450–1532) bestimmt, den Erzbischof von Canterbury und großherzigen Förderer des Erasmus. Holbeins technische Brillanz „macht das Porträt zu einem Musterbeispiel perfekter Feinmalerei, bei der die Lasuren zu einer spiegelglatten Oberfläche vertrieben sind“ (Müller 1997, S. 179).
Hans Holbein d.J.: Erasmus von Rotterdam (1523); London, National Gallery
Der Gelehrte präsentiert sich als verlängerte Halbfigur in Dreiviertelansicht nach rechts gewandt. Er ist in einen kostbaren, pelzgefütterten und -besetzten Mantel gekleidet und trägt ein Barett. Das hell erleuchtete Gesicht kontrastiert mit der dunklen Kopfbedeckung und dem schwarzen Mantelkragen. Erasmus scheint weniger nach außen als nach innen zu blicken. Seine Hände ruhen auf einem in rotes Schweinsleder eingebundenen Buch, das auf einer Steinbrüstung liegt. Es trägt auf der vorderen Schnittkante die griechische Aufschrift „HPAKLEOI PONOI“, auf der seitlichen etwas kleiner in lateinischer Antiqua ERAS(M)I ROTERO(DAMI)“ – Die herkulischen Arbeiten des Erasmus von Rotterdam“. Mit der zweisprachigen Aufschrift verweist das Buch zum einen auf den Übersetzer Erasmus, der das Neue Testament aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen hat. Zum anderen wird auf diese Weise das Gesamtwerk des Erasmus mit den zwölf Taten des Herkules verglichen, die dem antiken Tugendhelden zu Vergöttlichung und ewigem Ruhm verhalfen. Erasmus betonte selbst in einer Schrift über die Taten des Herkules („Adagia“, 1508), herkulische Arbeit bestehe auch darin, alte und wahre Worte wieder ans Licht zu bringen – wie er es mit seinen Studien an griechischen und lateinischen Schriftquellen getan hatte. Dass wir es mit einem Vollblut-Gelehrten zu tun haben, zeigt ein kleines Detail des Porträts, das am besten direkt vor dem Original in der Londoner National Gallery zu sehen ist: Die Tinte hat die Fingernägel des Erasmus bei seiner unermüdlichen Schreibarbeit bleibend schwarz gefärbt.
Die Schlaufen des Folianten sind unverschnürt – Erasmus könnte ihn gerade geschlossen haben. Denkbar ist aber auch, dass er dem Betrachter bzw. Empfänger des Bildes dargeboten wird, eben dem Erzbischof von Canterbury, dem er im Widmungsbrief zur Ausgabe des griechischen Neuen Testaments ausdrücklich für seine Unterstützung dankt. Das Buch wäre somit „a gift within a gift“ (Heckscher 1967, S. 132).
Ein leicht zur Seite geschobener grüner Vorhang gibt den Blick in den anschließenden Raum frei, durch ein Bücherregal als Studierstube ausgewiesen. Auf der vom Bildrand beschnittenen Ablage sind eine Karaffe und mehrere Bücher zu erkennen; in einem der Bücher zeigt ein Lesezeichen an, wo der Gelehrte seine Lektüre unterbrochen hat. „Der Maler erlaubt sich sogar einen Spaß, denn am unteren Ende der Konsole, auf der das Brett aufliegt, sieht man – der schweren Bücherlast wegen – feine Risse in der verputzten Wand“ (Müller 1997, S. 181/182). Die Raumsituation in Holbeins Erasmus-Bildnis erinnert an das Hieronymus-Fresko von Domenico Ghirlandaio in Florenz (siehe meinen Post „Von der Gnade erleuchtet“): Beide Werke zeigen einen Innenraum, der jeweils links von einem Pilaster begrenzt wird; hier wie dort findet sich ein „Gelehrtenstillleben“. 
Domenico Ghirlandaio: Hieronymus (1480); Florenz, Chiesa Ognissanti
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der Renaissance-Pilaster am linken Bildrand des Erasmus-Porträts unterstreicht den Antikenverweis der Buchbeschriftungen. Sein gemaltes Kapitell zeigt ein geflügeltes weibliches Meerwesen – Jürgen Müller sieht ihn ihm eine Sirene, deren verführerischem Gesang auch der christliche Gelehrte Erasmus ausgesetzt gewesen sei. Ihr Lockruf stehe für die Gefahr, die „von der Schönheit der antiken Literatur und Philosophie ausgeht“ (Müller 1997, S. 198), weil sie dazu verleiten können, sich vom wahren Seelenheil zu entfernen. Und so wie Odysseus dem betörenden Sirenengesang nur dadurch entgehen kann, dass er den Gefährten die Ohren mit Wachs verstopfen lässt und sich selbst an den Mastbaum bindet, „so kann Erasmus dem verführerischen Gesang der Welt dadurch entgehen, daß er ans Kreuz und das heißt an Christus gebunden ist“ (Müller 1997, S. 206). Entsprechend ist der Blick des Gelehrten nicht auf irdische Schönheit, sondern nach innen gerichtet.
Direkt hinter dem Pilaster am linken Bildrand befindet sich ein weiterer, der leicht übersehen werden kann, da er im Schatten liegt. Matthias Winner deutet die beiden architektonischen Elemente als Anspielung auf die „Säulen des Herkules“, womit die griechische Inschrift auf dem Buchschnitt nochmals aufgegriffen und variiert wird. Der Sage nach hatte Herkules einst an der Meerenge von Gibraltar zwei Säulen errichtet, um das Ende der Welt zu markieren.
Auffallend ist, dass sich Erasmus auf keinem Bildnis mit unbedecktem Haupt darstellen ließ, sondern stets eine bemerkenswert große Kappe trägt. 1929 hat man dafür bei einer medizinischen Analyse seines Schädels eine Erklärung gefunden: Demnach war Erasmus „brachyzephal“ (kurzschädelig) und kaschierte die angeborene Deformation, indem er seinen erstaunlich schmächtigen Hinterkopf mit entsprechend großzügigen Kappen bedeckte, wie sie zu seinem Glück der damaligen Mode nicht widersprachen.


Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar /Griener, Pascal: Hans Holbein. DuMont Buchverlag, Köln 1997;
Bietenholz, Peter G.: Erasmus von Rotterdam und der Kult des Heiligen Hieronymus. In: Stephan Füssel/Joachim Knape (Hrsg.), Poesis et Pictura. Studien zum Verständnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag. Verlag Valentin Koerner, Baden-Baden 1989;
Gronert, Stefan: Bild-Individualität. Die „Erasmus“-Bildnisse von Hans Holbein dem Jüngeren. Schwabe & Co. AG, Basel 1996;
Hayum, Andrée: Dürers Portrait of Erasmus and the Ars Typographorum. In: Renaissance Quarterly 38 (1985), S. 650-687;
Heckscher, William S.: Reflections on Seeing Holbein’s Portrait of Erasmus at Longford Castle. In: Douglas Fraser u.a. (Hrsg.), Essays in the History of Art Presented to Rudolf Wittkower. Phaidon Press, London 1967, S. 128-148;
Matsche, Franz: Bildnislob und Bildniskritik. Rhetorische Topoi in Bildnisepigrammen des frühen 16. Jahrhunderts. In: Andreas Tacke/Stefan Hinz (Hrsg.), Menschenbilder. Beiträge zur Altdeutschen Kunst. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, S. 213-230;
Mende, Matthias: Erasmus von Rotterdam. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 243-246;
Müller, Jürgen: Von der Odyssee eines christlichen Gelehrten. Eine neue Interpretation von Hans Holbeins Erasmusbildnis in Longford Castle. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 179-211;
Preimesberger, Rudolf: Albrecht Dürer: Imago und effigies (1526). In: Rudolf Preimesberger u.a. (Hrsg.), Porträt. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 2. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1999, S. 228-238;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 92-93;
Winner, Matthias: Holbein’s Portrait of Erasmus with a Renaissance Pilaster. In: Mark W. Roskill/John Oliver Hand (Hrsg.), Hans Holbein. Paintings, Prints, and Reception. Yale University Press, New Haven/London 2001, S. 155-173.
 
(zuletzt bearbeitet am 8. April 2020)

Sonntag, 10. Juni 2012

Bileam, der blinde Prophet – Rembrandt verbessert seinen Lehrmeister

Pieter Lastman: Bileam und die Eselin (1622); Jerusalem, The Israel Museum Collection
Weil die Niederlande im 17. Jahrhundert in Handel, Wissenschaft und Kunst eine außergewöhnliche Blüte erlebten, wird diese Epoche ihrer Geschichte als das „Goldene Zeitalter“ bezeichnet. In diesem Zeitabschnitt entstand eine schier unüberschaubare Zahl von Bildern mit alttestamentlichen Motiven, die – anders als im Mittelalter und in der Renaissance – von den Malern meist auf Vorrat für den Kunstmarkt geschaffen wurden. Als Begründer der holländischen Historienmalerei gelten die sogenannten „Prärembrandtisten“. Ihr wichtigster Vertreter war Pieter Lastman (1583–1633), der viele alttestamentliche Themen zum ersten Mal in der niederländischen Malerei darstellte. 
Besondere Bedeutung hat Lastman aber auch als Lehrmeister Rembrandts (1606–1669) erlangt. Rembrandt verbrachte 1624/25 einige Monate in dessen Amsterdamer Atelier. Da seine eigentliche Lehrzeit zu diesem Zeitpunkt bereits beendet war und er wenig später (1625/26) eine eigene Werkstatt in Leiden eröffnete, „kann man davon ausgehen, dass er, gegen ein Aufgeld an den berühmten Künstler Lastman, nur mehr eine Art Schliff erfahren wollte, auch um seinen zunächst nur schrittweise erfolgten Einsteg in den Markt mit der Historienmalerei chancenreicher zu verfolgen. Diese Gattung war zu jener Zeit noch wesentlich vielversprechender als etwa die Porträtmalerei (Sitt 2006, S. 72). Rembrandt studierte die Werke seines Lehrers eingehend, kopierte deren Kompositionen und Bildinhalte – und entwickelte sie weiter. Wie Rembrandt dabei vorging, soll das Beispiel von Bileam und der Eselin verdeutlichen, einer Geschichte aus 4. Mose 22,21-35.
Der Moabiterkönig Balak lässt den Propheten Bileam zu sich rufen – er soll die Israeliten verfluchen, die durch sein Gebiet ziehen. Auf seinem Weg zum König tritt Bileam ein Engel mit einem Schwert entgegen. Bileams Eselin bleibt daraufhin stehen, der Prophet jedoch, der den Engel nicht sieht, schlägt das Tier, damit es sich weiterbewegt. Lastmans Breitformat-Gemälde von 1622 (40,3 x 60,6 cm) zeigt den Moment, in dem der Engel Bileam zum dritten Mal den Weg versperrt, die Eselin auf die Knie fällt und zu reden beginnt: „Was hab ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast? (4. Mose 22, 28). 
Der Engel schwebt rechts im Vordergrund auf einer Wolke heran. Durch die Lichtführung wird deutlich unterschieden zwischen Hauptpersonen und Begleitfiguren: Im verschatteten Mittelgrund sind zwei Knechte dargestellt, während im wiederum helleren Hintergrund die Moabiterfürsten erscheinen, die Bileam holen sollten.
Rembrandt: Bileam und die Eselin (1626); Paris, Musée Cognac-Jay
Rembrandts Version der Szene von 1626 (65 x 47 cm) lehnt sich offenkundig an Lastman an – und weist doch entscheidende Veränderungen auf. Rembrandt reduziert das Ambiente und konzentriert die Darstellung ganz auf die Hauptfiguren, indem er die Moabiterfürsten nahe heranrückt. Vor allem aber tauscht er das Quer- gegen das Hochformat. Das gibt Rembrandt die Möglichkeit, den Schwert schwingenden Engel in die Lüfte zu erheben und ihn hinter Bileam anzuordnen. Seine eindrucksvollen Flügel wirken wie die eines Raubvogels. Durch die optische Verbindung von angezogenem Zügel, erhobenem Stock und drohender Gebärde mit dem Schwert gewinnt Rembrandts Bild eine weit größere Dynamik und Dramatik als Lastmans Gemälde.
Und dann sind da noch Bileams Augen. Anders als Lastman hat Rembrandt die Augen des Propheten nämlich als dunkle Höhlen gemalt – nur nur um dessen rasende Wut auf die störrische Eselin anzuzeigen, sondern um so seine „geistige Blindheit“ auch optisch hervortreten zu lassen. Denn dies ist schließlich der Augenblick, bevor Gott Bileams Augen öffnet, sodass er den Engel des Herrn auf seinem Wege stehen sah mit einem bloßen Schwert in seiner Hand, und er neigte sich und fiel nieder auf sein Angesicht“ (4. Mose 22,31).
Das großblättrige Pflanzenarrangement auf Rembrandts Gemälde in der rechten vorderen Bildecke ist übrigens ebenfalls ein Lastman-Zitat – es findet sich u.a. auf dessen Gemälde Die Verstoßung der Hagar von 1612 (Hamburger Kunsthalle).
Pieter Lastman: Die Verstoßung der Hagar (1612); Hamburg, Kunsthalle
Rembrandt hat noch eine weitere biblische Historie von Lastman einer Revision unterworfen, und zwar Die Taufe des Kämmerers, die eine Begebenheit aus der Apostelgeschichte schildert (8,26-40). Rembrandts Fassung ist ebenfalls 1626 entstanden. Sie entlehnt von Lastmans Gemälde die Hauptgruppe, bestehend aus Philippus, dem knienden Kämmerer und dem hinter ihm stehenden Bedienten mit Buch. Wie schon bei seinem Bileam entscheidet Rembrandt sich auch hier für eine
dynamische, leicht spiralförmige Komposition, statt die Figuren wie Lastman friesartig anzuordnen. Erneut konzentriert sich Rembrandt viel stärker als Lastman auf das eigentliche Geschehen. Dazu rückt er die zentrale Gruppe nach vorne, drängt die Landschaft buchstäblich in den Hintergrund, beschränkt die Zahl der Nebenfiguren und platziert die Personen um die vertikale Mittelachse, die durch den Kämmerer betont wird.
Pieter Lastman: Die Taufe des Kämmerers (um 1612); Paris, Collection Frits Lugt
Rembrandt: Die Taufe des Kämmerers (1626); Utrecht, Catharijneconvent

Literaturhinweise 
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 236-238;
Sitt, Martina (Hrsg.): Pieter Lastman – In Rembrandts Schatten? Hirmer Verlag, München 2006;
Wetering, Ernst van de/Schnackenburg, Bernhard (Hrsg.): Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001. 

(zuletzt bearbeitet am 26. Juli 2023)