Mittwoch, 30. September 2020

Ikonische Hoheit – Sandro Botticellis „Hl. Sebastian“ in Berlin

Sandro Botticelli: Hl. Sebastian (1474);
Berlin, Gemäldegalerie

Der römische Offizier Sebastian gehört zu den bekanntesten christlichen Märtyrern und meistverehrten katholischen Heiligen. Kaiser Diokletian ließ ihn, so die Legenda aurea, wegen seines christlichen Glaubens an einen Baum binden und durch numidische Bogenschützen hinrichten – was der Soldat jedoch durch ein Wunder Gottes überlebte. Irene, eine junge Witwe, wollte den Toten bestatten, fand ihn aber lebend vor und pflegte ihn gesund. Als Sebastian den Kaiser öffentlich der Christenverfolgung beschuldigte, befahl dieser schließlich, ihn zu Tode peitschen und in die „Cloaca Maxima“ werfen, den größten Abwasserkanal Roms.

Der italienische Renaissance-Maler Sandro Botticelli (1445–1510) hat den Märtyrer 1474 lebensgroß auf einer schmalen, hochformatigen Tafel (195 cm) für die Florentiner Kirche Santa Maria Maggiore dargestellt. Nah an den Vordergrund des Bildes gerückt, ist Sebastian mit den Händen hinter dem Rücken an einen schlanken Baumstamm gefesselt, der die Bildfläche als Mittelachse von unten bis oben durchmisst. Der bartlose Jüngling steht auf zwei gekappten Ästen, der eine waagerecht, der andere schräg, „so daß sie dem kontrapostisch ponderierten Körper eine ideale Standfläche bieten“ (Dombrowski 2010, S. 76). Sebastian ist nackt bis auf ein grau-weißes, von zwei gold-roten Ornamentbändern durchzogenes Lendentuch. Trotz der sechs Pfeile, die sein Fleisch durchbohren, erscheint der Märtyrer ohne Frage lebendig, wirkt sein Körper unversehrt und makellos. Der Winkel, in dem die Pfeile eingedrungen sind, legen einen erheblich niedrigeren Standpunkt der Schützen nahe.

Sebastian hat die linke Schulter angehoben und den Kopf nach rechts geneigt. Insgesamt durchschwingt den in seinen Proportionen gelängten Körper eine leichte S-Kurve. Der Märtyrer zeigt keinerlei Anzeichen von körperlichem Schmerz, im Gegenteil: Die Gesamterscheinung der Figur ist ruhig, wenn auch nicht unbewegt. Sebastian reagiert nicht auf seine Wunden, er scheint in tiefem Nachdenken begriffen. Das schwarze Haar legt sich als Dreiviertelkreis um das jugendliche Gesicht, mit dem Rund der Lünette korrespondierend; ein durchscheinend zarter Nimbus rahmt den oberen Teil des Kopfes. Darüber erscheint ein weißer Streifen von Cirruswolken, der ein gutes Dutzend kleiner Strahlenbündel entlässt, so als senkte sich ein hauchzarter Vorhang von göttlichem Licht auf den Märtyrer herab. Übergroß im Verhältnis zu den übrigen Körperteilen wirken allerdings die beiden Füße, wobei Botticelli den rechten stark verkürzt wiedergibt.

Im Hintergrund führt eine bräunlich-grüne, von einem Weg durchzogene Ebene in die Tiefe. Winzige Figuren beleben die Landschaft: ein wassserschöpfender Jüngling auf der rechten Seite, links eine Gruppe aus bewaffneten Reitern und Fußvolk; zwei Bogenschützen erlegen gerade einen der drei Reiher hoch über ihren Köpfen. Bei diesen Männern, von denen einer schlafend am Wegesrand zurückgeblieben ist, handelt es sich ohne Frage um die Peiniger, die kurz zuvor den jungen römischen Offizier mit ihren Pfeilen durchbohrt haben. Die miniaturhafte Staffage ist nicht nur ein narratives Element, sondern betont auch durch die extremen Größenunterschiede die Monumentalität des vor uns stehenden Sebastian. Weitere Soldaten verschwinden gerade hinter einem Hügel; ihr Ziel ist anscheinend der befestigte Hafen am Ende der Bucht, in die von rechts ein von Pappeln bestandener Fluss mündet. Sich im Dunst auflösende Bergketten und der Horizont des Meeres zwischen ihnen bilden den hinteren Abschluss der Landschaft. „Darüber liegt ein Streifen seidigen Himmels, der auf der Höhe von Sebastians Oberschenkel von einem wenig dunkleren Blauton abgelöst wird, der beim Übergang in das Lünettenfeld nochmals eindunkelt“ (Dombrowski 2010, S. 76).

Das ungewöhnliche Hochformat der Tafel, die heute in der Berliner Gemäldegalerie aufbewahrt wird, erklärt sich durch den ursprünglichen Aufstellungsort: Die Florentiner Kirchen des Quattrocento enthielten zahllose Bilder, die keinem Altar zugeordnet waren; es handelte sich um besondere Stiftungen aus persönlicher Verehrung heraus oder als Votivgabe, die meist als Hochformate an den Wänden und Pfeilern der sakralen Innenräume angebracht wurden. Dies dürfte auch bei Botticellis Hl. Sebastian der Fall gewesen sein. Als sich die Sebastianstafel noch an ihrem Pfeiler befand, musste der Betrachter den Kopf in den Nacken legen – das Bild ist deutlich auf Untersicht hin angelegt.

Antonio und Piero del Pollaiuolo: Das Martyrium des hl. Sebastian
(um 1475), London, National Gallery

Etwa zeitgleich mit Botticellis Darstellung haben Antonio (1429–1498) und Piero del Pollaiuolo (1443–1496) ebenfalls eine Sebastianstafel angefertigt, in der sich eine ganze Reihe von Botticellis Bildelementen wiederfinden. Auch hier markiert der gefesselte und entkleidete Märtyrer die Mitte des Bildes, doch wird es von ihm bei weitem nicht so sehr dominiert wie bei Botticelli. Der Sebastian der Pollaiuolos ist im Verhältnis zur Bildfläche wesentlich kleiner wiedergegeben, vor allem aber ist er nicht allein: Ihn umgeben sechs Bogenschützen, deren Anordnung und Haltungen die besonderen anatomischen und perspektivischen Kenntnisse der beiden Künstler demonstrieren. Die Darstellung ist betont erzählerisch angelegt, während Botticelli seine isolierte Gestalt nach der eigentlichen Handlung der andächtigen Betrachtung darbietet. Botticellis Sebastian ist „weniger der geschichtliche Märtyrer als der überzeitliche Glaubensheld“ (Dombrowski 2010, S. 79), der uns in ikonischer Hoheit präsentiert wird.

Warum zeigt und Botticelli aber nicht nur einen nackten, sondern auch einen sehr schönen Körper? Das ist gerechtfertigt, so Damian Dombrowski, weil „mit der Hingabe des jungen Lebens für den Glauben die Weltverachtung des Märtyrers besonders überzeugend vermittelt werden konnte“ (Dombrowski 2010, S. 84). Hinzu kommt, dass Sebastian als Pestheiliger verehrt und angerufen wurde, weil die Pfeile seines Martyriums als Symbole für diese Seuche galten. Wie viele andere Sebastian-Darstellungen des Quattrocento muss auch Botticellis Märtyrer in diesem Kontext gesehen werden: Durch die Makellosigkeit seines Leibes ist er ein Gegenbild zu dem von der Pest befallenen Körper. Sebastian, der das Pfeilmartyrium durch ein Wunder Gottes überlebt hat, wird „zu einem Versprechen, dass die Gläubigen, selbst wenn sie am schwarzen Tod sterben müssen, einen zeitlosen, überirdischen, makellosen Körper bekommen“ (Bohde 2004, S. 92). Und drittens ist die christoformitas Sebastians zu beachten: Sein erstes Martyrium und die Rückkehr zu den Lebenden wurde seit frühester Zeit mit Christi Tod und Auferstehung parallelisiert. Auch in seiner Funktion als Pestheiliger wird seine Christusähnlichkeit betont: Wie der Sohn Gottes die Sünden der Menschheit auf sich genommen hat, so nimmt der opferbereite Sebastian zum Schutz der Gläubigen Gottes strafende Pestpfeile auf sich. Botticelli rückt seinen Sebastian durch die erhobene Position am Baumstamm an die Passion Christi heran – die Nähe zur Ikonografie von Schmerzensmann und Gekreuzigtem ist überdeutlich.

Andrea del Verrocchio: Taufe Christi (um 1473); Florenz, Uffizien
Botticelli war wie wie Leonardo da Vinci (1452–1519) Schüler von Andrea del Verrochio (1435–1488), und beide Künstler dürften vermutlich an dessen Taufe Christi (um 1475) mitgearbeitet haben. Es spricht viel dafür, so Hans Körner, dass Botticelli durch Verrocchios Christusfigur die entscheidende Anregung für seine Gestalt des Sebastian und damit seinen ersten männlichen Akt erhielt.

Literaturhinweise

Bohde, Daniela: Ein Heiliger der Sodomiten? Das erotische Bild des Hl. Sebastian im Cinquecento. In: Mechthild Fend/Marianne Koos (Hrsg.), Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln 2004, S. 79-98;

Dombrowski, Damian: Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. Malerei als pia philosophia. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010, S. 75-88;

Körner, Hans: Botticelli. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, S. 67-71;

Marshall, Louise: Manipulating the Sacred: Image and Plague in Renaissance Italy. In: Renaissance Quarterly 47 (1994), S. 485-532; 

Zöllner, Frank: Sandro Botticelli. Prestel Verlag, München 2005, S. 35-37.


Montag, 7. September 2020

Im Faltengewitter – der Apostel Andreas von Veit Stoß

Veit Stoß: Hl. Andreas (um 1500/1510); Nürnberg, St. Sebaldus
(für die Großansicht einfach anklicken)
Andreas, Bruder von Simon Petrus und wie dieser Fischer von Beruf, war der Erste, der von Jesus als Jünger berufen und zu einem seiner zwölf Apostel wurde (Johannes 1,35-40). In späteren Jahren bekehrte er der Legende nach im griechischen Patras Maximilla, die Frau des römischen Statthalters Ägeas, zum Christentum und taufte sie. Ägeas ließ ihn daraufhin geißeln und zu besonderer Pein und langsamem Tod an ein X-förmiges Kreuz binden. Doch Andreas predigte an seinem Marterwerkzeug noch zwei Tage lang dem herbeiströmenden Volk, das bald seine Freilassung forderte. Als der Statthalter schließlich den Befehl gab, Andreas loszubinden, wurden durch göttliches Eingreifen die Arme der Schergen gelähmt, hatte der Apostel Christus doch inständig gebeten, am Kreuz sterben zu dürfen. Danach, heißt es in der Legenda aurea, „kam ein überwältigender Glanz vom Himmel und umgab ihn eine halbe Stunde, so daß keiner ihn sehen konnte, und als das Licht verschwand, gab er zugleich seinen Geist auf“ (de Voragine 2014, S. 117).
Von dem polnischen Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) hat sich eine 197 cm hohe Andreas-Skulptur aus Lindenholz erhalten, die sich noch heute in der Nürnberger Kirche St. Sebaldus befindet, für die sie auch geschaffen wurde. Sie ist zwischen 1500 und 1510 entstanden und zeigt den Apostel mit dem Attribut, an dem er immer recht leicht zu erkennen ist: das nach ihm benannte Kreuz mit diagonalen Balken. Andreas steht aufrecht, das Haupt leicht zur Seite geneigt; seine rechte Hand hat er um den vorderen Kreuzbalken gelegt, mit der Linken hält er ein kleines aufgeschlagenes Gebetbuch, auf das der rechte Zeigefinger weist, über das sein Blick jedoch hinwegzugehen scheint. Fast parallel zu dem unter seinem Mantel sichtbaren Kreuzbalken hat der Apostel sein unbekleidetes linkes Bein nach vorne gestellt, als wollte er kräftig ausschreiten. „Doch verlagert sich das Gewicht des Körpers nicht entsprechend nach vorn, setzt sich diese Geste unter dem vor der Leibesmitte aufwirbelnden Mantel und in dem eher schmächtig gebildeten Oberkörper nicht fort“ (Kahsnitz 1983, S. 260). Der abgespreizte Fuß erinnert noch an die zierlich-spätgotische Schrittstellung der achtziger Jahres des 15. Jahrhunderts, wie sie z.B. auch die Figur Johannes des Täufers von Veit Stoß zeigt.
Auf Fernsicht hin gearbeitet (für die Nahsicht einfach anklicken)
Das würdevolle Haupt des Apostels wird dominiert von einer herabfließenden Haarpracht, deren Korkenzieherlocken an den Seiten bis auf die Schulter und in den Rücken reichen. Eine einzelne schneckenförmig gedrehte Locke fällt vom Scheitel in die Stirn. Das zerfurchte Gesicht zeigt greisenhaft eingefallene Wangen, tief herabgezogene Augenlider und zusammengezogene Augenbrauen; dabei sind die Augenwinkel links und rechts der Nase ungewöhnlich und auch unnaturalistisch tief eingeschnitten. Der üppige Bart fällt von Kinn und Wangen und darüber in einer zweiten Schicht von der Oberlippe in langen, sich rollenden Locken bis auf die Brust. Besonders veristisch wiedergegeben sind die Adern auf dem nackten Bein und das Geflecht der sich durchdringenden und kreuzenden Blutbahnen auf der rechten Hand, ebenso dort der lederartige Charakter der gealterten Haut.
Der Mantel des Apostels, hinter dem sein flacher Körper in der Vorderansicht bis auf das vorgestellte Bein kaum zu erkennen ist, bietet einen mit seinem Faltenspiel beeindruckenden Formenreichtum. Andreas trägt ein kleidartig anliegendes Untergewand, das bis über die Höhe der Knie geschlitzt ist und in der Taille durch einen breiten Gürtel zusammengehalten wird, sodass sich vor dem Leib einige einfache vertikale Röhrenfalten bilden. Die engen Ärmel werden durch eine Reihe von Knöpfen am Unterarm geschlossen. Wie papierdünne Folien rahmen die Kanten des Untergewands das linke Bein der Figur.
Die Stoßsche Ohrmuschelfalte!
Der Mantel, mehr oder weniger ein  großes rechteckiges Stück Stoff, liegt auf der Schulter des Apostels auf und fällt an der Seite bis zum Boden herab. Mit seiner linken Hand, die das Buch hält, hat Andreas einen Zipfel hochgerafft – dieses vor dem Leib gehaltene Mantelende bildet mit heftiger Knitterung, plötzlichem Umschlagen und im Wechsel von kurvigen und hartbrechenden Formen das für die Skulpturen von Veit Stoß so charakteristische raumgreifende Faltenwerk. Die „Ohrmuschelfalte“ gilt sozusagen das Signet des spätgotischen Bildhauers. Das andere Ende des Mantels ist über den Rücken geführt, lässt jedoch Schulter und Arm frei und tritt erst über der Hüfte unterhalb des Gürtels wieder hervor. Vom Kreuz gegen den Leib gepresst und so gehalten, bedeckt das vordere Ende jedoch nicht den Körper, sondern wird wie von einem heftigen Windstoß zurück- und  gegen den unteren Kreuzbalken geweht, sodass es sich um das Kreuz legt.
Die Hauptansicht der Figur ist die Vorderseite; sie wurde ohne Frage auf Fernsicht hin konzipert, und zwar von einem wesentlich tiefer liegenden Standpunkt des Betrachter aus. Das Holz ist auf der Rückseite ausgehöhlt; darüber hinaus wurde das Kreuz überraschend geformt: Mit dem gerade abknickenden hinteren oberen Balken weist es auf eine geplante Aufstellung vor einer flachen Wand hin. Der Standort der Skulptur muss auch so gewählt worden sein, dass eine Ansicht von links nicht möglich war, da diese Seite weit weniger durchgearbeitet wurde; demgegenüber ist die Ansicht von rechts künstlerisch so behandelt, dass sie offenbar gesehen werden sollte. Es handelt sich bei der um eines der frühesten Werke von Veit Stoß, die nicht mehr farbig gefasst sind; die Oberfläche des Andreas „sollte ihre Belebung einzig aus dem Spiel von Licht und Schatten auf dem einheitlich braun getönten, glänzend polierten Holz ziehen“ (Kahsnitz 1983, S. 267).
Die Apostel-Figur ist Teil des Ausstattungsprogramms gewesen, mit dem die Nürnberger Patrizier den zwischen 1361 und 1379 errichteten Hallenchor der Kirche St. Sebaldus mit Glasgemälden, Fresken, Altären, Epitaphien, Skulpturen und Gemälden ausschmücken ließen. Dass die Skulptur von Veit Stoß anfänglich dort aufgestellt wurde, wo sie sich heute befindet – in einer Nische der Nordwand – bleibt fraglich, denn auffällig ist, dass zwischen Konsole und Standfläche der Figur ein rechteckiger Steinblock eingeschoben werden musste und die hölzerne Plinthe der Skulptur über die Konsole und den zur Erhöhung eingefügten Stein nach vorne vorsteht.
Veit Stoß: Hl. Rochus (nach 1510); Florenz, Santissima Annunziata
Verglichen wird die Andreas-Figur häufig mit der des Hl. Rochus von Veit Stoß, die sich in Florenz befindet (Santissima Annunziata) und nach der Nürnberger Skulptur entstanden sein dürfte: Auch hier findet sich das Motiv des nackten vorgestreckten Beines, allerdings ist es bei der Figur des Rochus durch das Vorzeigen der Pestwunde motiviert.

Literaturhinweise
de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Erster Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 101-125;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, Heiliger Andreas. In: Germanisches Nationalmuseum (Hrsg.), Veit Stoß in Nürnberg. Werke des Meisters und seiner Schule in Nürnberg und Umgebung. Deutscher Kunstverlag, München 1983, S. 259-269.