Sonntag, 14. Dezember 2014

Schwermütig im Paradies – „Johannes der Täufer in der Einöde“ von Geertgen tot Sint Jans


Geertgen tot Sint Jans: Johannes der Täufer in der Einöde (um 1484);
Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Wir sehen Johannes den Täufer in einer sanften, moosigen Waldlandschaft, die alles andere als eine „Wüste“ ist (Markus 1,4) und sich so sicherlich nicht im Heiligen Land finden lässt. Er hat sich auf einer grasbewachsenen Felsenbank niedergelassen und stützt den Kopf schwermütig in die rechte Hand, den Blick sinnend ins Unbestimmte bzw. nach innen gerichtet. Johannes trägt ein dunkelbraunes Gewand aus Kamelhaar, das in den Evangelien erwähnt wird (Matthäus 3,4); über seine Schultern fällt ein langer blauer Mantel herab. Goldene Strahlen umgeben sein Haupt, seine Füße sind nackt.
Die Melancholie, die aus der Haltung des Täufers spricht, steht in eigentümlichem Kontrast zur grünenden Landschaft, die ihn umgibt und die er in ihrer Schönheit gar nicht wahrnimmt: Es ist Sommer, alles blüht und sprießt, am Himmel ziehen Mauersegler ihre Bahn, Kaninchen knabbern an den frischen Blättern, ein Hase springt übermütig umher, während eine Elster durch das Gras hüpft, Fasane aus den Büschen auffliegen, Hirsche unter Schatten spendenden Bäumen äsen und ein Reiher am Ufer eines sumpfigen Teiches nach Nahrung sucht. Das Auf und Ab des hügeligen Geländes, die Windungen des kleinen Bachlaufs und die perspektivische Anordnung von Bäumen und Buschwerk führen das Auge Schritt für Schritt in einen allmählich dichter werdenden Wald, der sich immer weiter in die Ferne erstreckt, wo schließlich die Stadt Jerusalem erkennbar wird. Wahrscheinlich hat der niederländischer Maler Geertgen tot Sint Jans hier eine der ersten perspektivisch durchgestalteten Freilandschaften geschaffen.
Von der Idylle um ihn her nimmt Johannes nichts wahr
„Das leise geschäftige Treiben der kleinen Tiere um den Täufer herum macht durch den Kontrast die Regungslosigkeit des Einsiedlers um so spürbarer“ (Pächt 1994, S. 224). Er bemerkt nichts von dem, was um ihn vorgeht, nicht einmal das Lamm dicht neben ihm, auch nicht die Anwesenheit des Betrachters. Das weiße Tier, von dessen Kopf goldene Strahlen ausgehen, ist ein Symbol für Christus; Johannes selbst sagt über Jesus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Johannes 1,29; LUT). Johannes ist die Außenwelt „völlig abhanden gekommen“ (Pächt 1994, S. 226): in sich versunken, meditiert er in innerer Vorausschau über den Leidensweg Jesu, denn das geopferte Lamm ist Sinnbild für das Passion Christi, durch die der Sohn Gottes Erlösung für die Menschheit erwirkt. Auch die übereinander geschobenen, durch ihre Größe hervorgehobenen Füße des Täufers erinnern an die Kreuzigung Jesu; die Vorderhufe des Lammes an seiner Seite sind ebenfalls gekreuzt. Vor allem aber verweist der Gestus des sitzenden Täufers mit der in den Kopf gestützten Hand auf den Bildtypus des spätgotischen „Christus in der Rast“ bzw. „Christus im Elend“ und betont so die innere Verbindung zwischen dem letzten Propheten des Alten Testaments und dem Erlöser.
Hans Leinberger: Christus im Elend (um 1525); Berlin, Bode-Musuem
Wohl sind die Schwermut, die tiefe Trauer und die Weltabgewandtheit des Johannes durch den inneren Blick auf den Kreuzestod Christi bedingt; aber der Betrachter nimmt wahr, dass die „Einöde“, in der er sich aufhält, sich längst in ein sorgloses, friedvolles Paradies verwandelt hat. Es ist ein durch den Baumbestand abgeschirmter hortus conclusus, eine stille, idyllische Landschaft ohne gefährliche wilde Tiere, denn das Lamm versöhnt durch sein Opfer Gott und Mensch und steht sinnbildlich für ewiges Leben und paradiesisches Glück in einer himmlischen Welt.
Albrecht Dürer: Heilige Familie (Zeichnung, 1493/94); Berlin, Kupferstichkabinett
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Albrecht Dürer war von dem Geertgens-Gemälde sichtlich beeindruckt. In einer frühen Zeichnung, einer Heiligen Familie im Berliner Kupferstichkabinett, hat er Geertgens liebliche Landschaft übernommen. Auch in seinem 1514 entstandenen Kupferstich Melencolia scheint er sich an den Täufer des niederländischen Künstlers erinnert zu haben. „Auch wenn die Haltung des ruhenden Denkers – einen Ellbogen aufs Knie und das Kinn in die Hand gestützt – beinahe so alt wie die westliche Kunst selbst ist, so kommen doch keine anderen Beispiele dieses weitverbreiteten Bildtyps einander näher als Geertgens und Dürers Figuren“ (Panofsky 2001, S. 334). Sie entsprechen einander nicht nur in Form und Umriss, sondern auch im Ausdruck einer fast körperlichen Niedergeschlagenheit: Hier wie dort sinkt der Körper in sich zusammen, die Knie weichen auseinander, die freie Hand liegt kraftlos im Schoß.
Albrecht Dürer: Melencolia (1514); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Einige Jahre Jahre zuvor hatte Hans Memling (um 1435–1494) ebenfalls einen Johannes in eine felsige Wiesenlandschaft versetzt, zwar ohne Melancholie-Gestus, aber mit versonnen-trauriger Miene. Der für den Täufer charakteristische Zeige-Gestus seines ausgestreckten Fingers weist auf das rechts von ihm lagernde Lamm. Memlings heute in München aufbewahrte Darstellung bildete den linken Teil eines Diptychons, das ehemals rechts die hl. Veronika mit dem Schweißtuch zeigte und sich heute in Washington befindet.
Hans Memling: Johnnes der Täufer (um 1480); München, Alte Pinakothek

Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 266;
Krönig, Wolfgang: Geertgens Bild Johannes’ des Täufers. In: Das Münster 3 (1950), S. 193-206;
Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel Verlag, München 1994, S. 222-226;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953), S. 334-335;
Salomon, Nanette: Geertgen tot Sint Jans and the Paradigmatic Personal; or the Moment before the Moment of Self-Portraiture. In: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 59 (2009), S. 44-69;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 31. Januar 2022)

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Ein letztes Abschiednehmen – Rogier van der Weydens „Beweinung vor dem offenen Grab“

Rogier van der Weyden: Grablegung Christi (1450); Florenz, Uffizien
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Rogier van der Weydens Grablegung Christi ist eines der Gemälde, die wahrscheinlich 1450 während seiner Pilgerreise nach Italien entstanden sind. Es wurde für ein Mitglied der Medici-Familie geschaffen und befindet sich noch heute in Florenz (Uffizien). Offensichtlich ist, dass sich sein Bild auf das Predella-Täfelchen von Fra Angelico aus dem Dominikanerkloster San Marco in Florenz bezieht (heute in der Alten Pinakothek in München). Obwohl es keinen stilistischen Zusammenhang gibt, ist das Gemälde überdeutlich motivisch auf dieses Vorbild ausgerichtet – und das bis in Details wie die rechteckige Graböffnung mit ihrer gemauerten Einfassung oder die Art, in der Johannes sich über die Wunde in der Hand Christi beugt. 

Fra Angelico: Grablegung Christi (1438/40); München, Alte Pinakothek
Das gilt auch für den Pflanzenteppich vor der Grabhöhle oder eine besondere Baumart, deren Äste sich von einem Punkt aus fächerartig ausbreiten. „Dieser fremdländische Baum, der zweimal in Rogiers Uffizienbild vorkommt und mit keiner bekannten Spezies identifiziert werden kann, ist dem botanischen Vokaluar Rogiers und anderer Flamen so fremd, wie er für Fra Angelico typisch ist“ (Panofsky 2001, S. 267). Das Kloster San Marco wurde von Cosimo de’ Medici (1389–1464) patroniert – höchstwahrscheinlich ist die Tafel von ihm in Auftrag gegeben worden.
Rogier übernimmt von Fra Angelico das nördlich der Alpen damals noch unbekannte Motiv der „Beweinung vor dem offenen Grab“. Er behält die kreuzförmige Darbietung des toten Christus bei, ebenso die Rahmung durch seine blau gewandete Mutter und den rot gekleideten Jünger Johannes. Hinzu kommen allerdings zwei weitere Figuren, vor allem aber bereichert Rogier die Landschaft mit vielen Details. Der Leichnam wird vor der Graböffnung zur Schau gestellt und so – „gleich der Hostie in einer Monstranz oder beim Erheben während der Konsekration – zum Gegenstand mitfühlender Anschauung, Anbetung und Meditation“ (De Vos 1999, S. 330).
Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme (um 1435–1440); Madrid, Prado
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Der bereits in das Leichentuch gehüllte Körper Jesu wird bei Rogier neben Nikodemus zusätzlich von Joseph von Armithäa gestützt: Er ist die Greisenfigur mit roten Strümpfen, die der Maler immer wieder aus seiner Madrider Kreuzabnahme entnommen hat (siehe meinen Post „Die Schönheit der Trauer“). Nikodemus sieht den Betrachter eindringlich und schmerzvoll an, als fordere er uns dazu auf, den toten Christus gemeinsam mit ihm zu beweinen. Kunsthistoriker vermuten, dass die Figur des Nikodemus als Porträt des Auftraggebers Cosimo de’ Medici gestaltet ist. Michelangelo wird die Figur des Nikodemus in seiner um 1550 begonnnenen, aber unvollendet gebliebenen Pietà-Gruppe (heute im Dom-Museum von Florenz) als Rollenselbstporträt neu interpretieren.
Michelangelo: Pietà Bandini, unvollendet; Florenz, Dom-Museum
Die zweite zusätzliche Gestalt ist die Rückenansicht dargestellte Maria Magdalena. Sie ist als Identifikationsfigur für den Betrachter gemeint; kniend ahmt sie die Armhaltung des Gekreuzigten nach. Wie allen anderen Figuren rollen auch ihr die Tränen über das Gesicht. Auf der schräg gestellten Grabplatte ist Johannes herangetreten; auf ihr ruhen auch die Füße Jesu. Sie liegt mit der vorderen Ecke auf einem Stock, damit man sie leichter hochheben kann. Die grau geäderte Grabplatte spielt kompositorisch „eine wichtige Rolle als Element der Dynamisierung und der tiefenräumlichen Gestaltung des Gemäldes“ (Thürlemann 2006, S. 107); sie war ursprünglich nicht geplant und ist von Rogier erst im letzten Stadium eingefügt worden. Die Grabplatte wird manchmal als Stein der Salbung Christi interpretiert; das Gefäß direkt davor auf der rechten Seite könnte dies nahelegen. Auf der gleichen Höhe liegt links der Hut des Joseph von Arimathäa, „wodurch die Symmetrie des Bildes bis in die Ecken fortgesetzt wird“ (De Vos 1999, S. 330). Links im Hintergrund sind zwei Frauen auf einem Pfad zu sehen, der bis vor das Grab führt – sie werden es, so berichtet das Matthäus-Evangelium, nach der Auferstehung Jesu leer vorfinden (Matthäus 28,1).

Literaturhinweise
De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München1999, S. 330-334;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953), S. 266-268;
Suckale, Robert: Rogier van der Weyden und die Kunst Italiens. In: Städel-Jahrbuch 18 (2002), 37-58:
Thürlemann, Felix: Rogier van der Weyden. Leben und Werk. Verlag C.H. Beck. München 2006.

(zuletzt bearbeitet am 29. Juni 2022)

Montag, 1. Dezember 2014

Grazie im Angesicht des Todes – Pontormos „Grabtragung Christi“


Jacopo da Pontormo: Grabtragung Christi (um 1528); Florenz, Santa Felicita
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Die Kirche Santa Felicita in Florenz liegt unweit des Ponte Vecchio etwas zurückgesetzt an einem kleinen Platz. Sie birgt ein Altarbild, eine Grabtragung Christi (313 x 192 cm), die als Höhepunkt manieristischer Malerei gilt und deswegen den Besuch unbedingt lohnt. 1526 erhielt Jacopo da Pontormo (1494–1557) von dem Florentiner Lodovici Capponi den Auftrag, eine kleine, von Filippo Brunelleschi entworfene Seitenkapelle von Santa Felicita mit einem Altargemälde sowie Wand- und Deckenfresken auszustatten. Sie sollte Capponi und seinen Nachkommen als Begräbniskapelle dienen.
Blick in die Cappella Capponi, gleich rechts vom Eingang gelegen
Pontormo hat die gesamte Bildfläche seiner Grabtragung Christi, die oben mit einem Rundbogen abschließt, mit einer elfköpfigen Figurengruppe gefüllt, die beinahe schwerelos in einer geheimnisvollen Helligkeit im Raum zu schweben scheint. Kühle, transparent wirkende Pastelltöne überwiegen – vor allem Rosa und Blau. Die Gestalten sind in einer strudelförmigen, lautlos wirkenden Bewegung begriffen; die Drehung der leicht überlängten Körper, die Gesten der Arme und Hände, der Faltenwurf der Gewänder – alles scheint um die Bildmitte zu kreisen. Nur eine kleine Wolke am Himmel und ein bräunlicher Erdboden deuten den Außenraum an. Dennoch „muss der Ort als steil hochragende Bodenerhebung identifiziert werden“, meint Norbert Schneider, denn nur so lasse sich die vertikale Staffelung der Figuren erklären, zumal die Position der im Zenit unterhalb des Bogens stehenden jungen Frau (Schneider 2012, S. 90).
Zwei Jünglinge tragen den Leichnam, Nikodemus und Joseph von Arimathäa sind
nicht dabei (für die Großansicht einfach anklicken)
Mitgefühl, Trauer und Verzweiflung sind an den Gestalten abzulesen. Maria in blauem Mantel gleitet in beginnender Ohnmacht unmerklich seitwärts; ihr Gesicht lässt einen „resignativen Gram“ (Schneider 2012, S. 92) erkennen, der sich nicht gegen das Schicksal ihres Sohnes auflehnt. Die Wunden des Gekreuzigten an Händen, Füßen und in der Seite sind nur angedeutet, die Dornenkrönung hat keine Spuren hinterlassen. Pontormo verzichtet auf jegliche Drastik. Stattdessen zeigt sich das Leiden Jesu in seinem Gesicht, dessen dunkel umschattete Augen und verfärbte Lippen von den erlittenen Qualen zeugen. Das ganze Bild ist von einer melancholischen Stimmung durchdrungen, zu der nicht nur die zurückgenommene Gestik der Figuren, sondern auch die irisierende Farbigkeit beitragen. Es handelt sich fast ausschließlich um changierende Mischfarben, die zu Lila, Pastellorange, grünlichem Ocker, Taubenblau und Olivtönen tendieren und überdies eine zarte Transparenz aufweisen, „ein ätherisches Leuchten, das von innen über die hauchfeinen Gewänder zu kommen scheint“ (Schneider 2012, S. 92).
Raffael: Grabtragung Christi (1507); Rom, Galleria Borghese
Immer wieder wurde die Szene als „Kreuzabnahme“ bezeichnet, vor allem wegen ihrer Vertikalausrichtung. Da aber das Kreuz selbst fehlt und ebenso eine Leiter, die bei solchen Darstellungen meist am Stamm lehnt, wird der Leichnam Jesu auf Pontormos Bild wohl von der Hinrichtungsstätte Golgatha zum Grab gebracht, ganz ähnlich wie auf Raffaels Grabtragung in der Galleria Borghese von 1507. Gegen eine Kreuzabnahme spricht auch, dass deren Hauptakteure, Nikodemus und Joseph von Arimathäa, nirgends zu sehen sind. Stattdessen haben zwei Jünglinge den Leichnam übernommen: einer, stehend, fasst Christus unter die Arme, während der andere, auf Zehenspitzen in die Knie gesunken, den Körper mit der linken Schulter auffängt. Beide blicken aus dem Bild heraus, wenden sich aber nicht wirklich dem Betrachter vor dem Altar zu. Während der halb kniende Jüngling vielleicht nach Hilfe Ausschau hält oder den zum Grab führenden Weg fixiert, spiegelt die Miene des hinteren verhaltene, nach innen gerichtete Trauer (wahrscheinlich handelt es sich um Johannes, den Lieblingsjünger Jesu, der mit Maria unter dem Kreuz stand). Als Identifikationsfigur für den Betrachter ist die in Rückenansicht wiedergegebene junge Frau gedacht, die tröstend auf Maria zueilt. Für Daniel Arasse ist die erhobene Hand Mariens eine Geste des Abschieds – Jesus ist von ihren Knien herabgeglitten und werde nun zu Grabe getragen, „das heißt zum Altar – denn diese Kreuzabnahme ist ein Altarbild, und der Altar ist die Metapher für das Grab Christi“ (Arasse 2006, S. 114).
Maria in ihrem mütterlichen Schmerz
Pontormo hat die Haltung Jesu mit dem herabgesunkenen Arm an den Typus der Pietà angenähert: Maria ist zwar etwas von ihrem toten Sohn entfernt, „doch sind ihre kaum merklich seitwärts sinkenden Beine im hellblauen Gewand so gestreckt und gewinkelt, dass es scheinen könnte, Christus habe zuvor auf ihrem Schoß geruht oder sei dort zu liegen bestimmt“ (Schneider 2012, S. 90). Jack Wasserman meint die Richtung bestimmen zu können, in der die beiden Jünglinge den Leichnam Christi tragen: Seiner Auffassung nach wenden sie nach rechts und folgen der Rückenfigur, die sich mit einem Tuch in der linken Hand Maria zuwendet. Sie bringen der Mutter also nach der Kreuzabnahme ihren toten Sohn, und das Tuch, auffällig in der Bildmitte platziert und auf gleicher Höhe wie das Haupt Christi, dient dazu, so Wasserman, eben dieses Haupt für die Grablegung zu bedecken.
Am rechten Bildrand blickt ein Mann mit wirren Locken, Bart und grünem Hut neben der Mutter Jesu schwermütig in die Ferne – es ist Pontormo selbst, der sich hier porträtiert hat. Ganz ähnlich wird sich Rembrandt 1634 in seiner Kreuzabnahme aus der Münchner Pinakothek mit im Bild darstellen.
Irisierende Farben lassen die Szene irreal wirken
Anmut und Leichtigkeit in den Bewegungen aller Figuren, ja das geradezu Tänzerische „verkörpern in einem hohen Maße das, was man in der zeitgenössischen Kunstliteratur als »grazia« beschrieben hat, mit demselben Begriff also, der auch Gottes Gnade gegenüber den Menschen kennzeichnet“ (Krystof 1998, S. 95). So ist der Körpersprache der Figuren die Bedeutung von Christi Opfertod eingeschrieben, nämlich die Heilszusage des Evangeliums: Erlösung.
Michelangelo: Tondo Doni (um 1507); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Angesichts der ungewöhnlichen Farbzusammenstellung drängt sich der Vergleich der Grabtragung Christi mit Michelangelos berühmtem Tondo Doni auf (1503/04), der eine Heilige Familie und den Johannesknaben zeigt (siehe meinen PostNimm mir mal den Kurzen ab!“). Es ist eines der wenigen erhaltenen Tafelbilder Michelangelos und kann in den Uffizien bewundert werden. Die helle Farbigkeit sowie die kunstvoll verschränkten Bewegungen von Maria, Josef und Jesuskind dienten den frühen Florentiner Manieristen (zu denen auch Pontormo gehörte) als Vorbild. Auch bei der Darstellung von Christus und Maria hat Pontormo auf Michelangelo zurückgegriffen, und zwar auf dessen Pietà in St. Peter. 
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter (für die Großansicht einfach anklicken)
Albrecht Dürer: Beweinung Christi (1511); Holzschnitt
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (1495/96); Mailand, Museum Poldi-
Pezzoli (für die Großansicht einfach anklicken)
Zudem scheint er Anregungen aus der Druckgrafik Albrecht Dürers verarbeitet zu haben, vor allem der Beweinung Christi aus der Großen Passion, einem Holzschnitt-Zyklus von 1511. Dafür sprechen einige ähnliche Physiognomien und Übereinstimmungen in der Bildanlage: In beiden Werken gipfelt die Figurenkomposition in einer vergleichbaren, erhöhten Frauengestalt. Ein mögliches Vorbild für Pontormo könnte auch Sandro Botticellis Beweinung Christi von 1495/96 gewesen sein, das sich heute in Mailand befindet (siehe auch meinen Post „Trauer und Erhebung“). So umfasst bei Botticelli wie bei Pontormo eine der Frauen hinter dem Leichnam mit ihren Händen den Kopf Christi, um ihn dem Betrachter zu präsentieren.
Wie Raffael in seiner Grabtragung Christi betont auch Pontormo das Gewicht des Leichnams. Dabei orientiert er sich an einem antiken Meleager-Relief. Zweifellos geht seine Figur des unter der Last in die Knie gesunkenen Trägers auf eine ähnliche Gestalt auf vielen Meleager-Sarkophagen zurück, die ebenfalls die Beine des Toten geschultert hat. Bei dem im Hof des römischen Palazzo Mattei eingemauerten Exemplar weist die entsprechende Figur eine frappierende Ähnlichkeit mit der von Pontomo auf.
Jacopo da Pontormo: Verkündigung (um 1528); Florenz, Santa Felicita/Cappella Capponi
Erzengel Gabriel rauscht heran (für die Großansicht einfach anklicken)
Drei Jahre lang ließ Pontormo die Kapelle für Besucher sperren – nur sein Adoptivsohn Agnolo Bronzino, ebenfalls Maler, durfte zu ihm. Aus der Capponi-Kapelle wurde in dieser Zeit ein Gesamtkunstwerk: Auf die Wand rechts neben dem Altarbild, die durch ein Fenster und ein Stifter-Porträt zweigeteilt ist, malte er eine Verkündigung: Maria, die sich von ihrem Lesepult umwendet, nimmt die Botschaft des heranschwebenden Erzengels Gabriel auf, dessen stoffreiches Gewand sich durch die Flugbewegung aufgebauscht hat. Die Kuppel dekorierte Pontormo mit Fresken von Gottvater und vier Patriarchen; die vier Zwickel des Gewölbes schmücken Porträts der mit Schreibfedern ausgestatteten Evangelisten Johannes, Lukas, Markus und Matthäus – die beiden letzten stammen von Bronzino. Das Fresko der Deckenrotunde fiel 1565 dem Umbau der Kirche zur Hofkapelle der Medici zum Opfer: Ein Geheimgang, der den Palazzo Vecchio mit dem Palazzo Pitti auf dem rechten Arno-Ufer verbindet (der berühmte, noch heute existierende „Vasari-Korridor“), führt in Höhe des oberen Geschosses durch Santa Felicita, und deswegen musste die Kapellenkuppel abgeflacht werden. 
Mit einer starken Neigung nach vorne scheint sich der Evangelist Johannes geradezu aus dem Bild zu lehnen;
auf sein Attribut, den Adler, hat Pontormo verzichtet
Der Evangelist Lukas ist in starker Untersicht dargestellt;
rechts neben ihm ist der Kopf seines Symboltiers zu erkennen, ein Stier

Literaturhinweise
Arasse, Daniel: Für eine kurze Geschichte des Manierismus. In: Daniel Arasse, Meine Begegnungen mit Leonardo, Raffael und Co. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, S. 11-118;
Brassat, Wolfgang: Rhetorische Merkmale und Verfahren in Darstellungen der Grablegung Christi von Mantegna, Raffael, Pontormo und Caravaggio. Zur Analogisierung und Ausdifferenzierung von Rhetorik und Malerei in der Frühen Neuzeit. In: Joachim Knape (Hrsg.), Bildrhetorik. Verlag Valentin Koerner, Baden-Baden 2007, S. 285-346; 
Braunschweig-Kühl, Ilka: Konzepte des Metaphysischen. Pontormos Altartafeln in Santa Felicità [sic] in Florenz, in San Michele in Carmignano und die SantAnna-Tafel im Louvre. Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 2006;
Krystof, Doris: Jacopo Carrucci, genannt Pontormo. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998; 
Maurer, Emil: Zum Kolorit von Pontormos „Deposizione. In: Emil Maurer, Manierismus. Figura serpentinata und andere Figurenideale. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 177-186; 
Nigro, Salvatore S.: Pontormo. Il Libro mio/Zeichungen/Fresken/Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1996;
Saalman, Howard: Form and meaning at the Barbadori-Capponi Chapel in S. Felicita. In: The Burlington Magazine 131 (1989), S. 532-539; 
Schneider, Norbert: Die antiklassische Kunst. Malerei des Manierismus in Italien. LIT Verlag, Berlin/Münster 2012, S. 89-94;
Shearman, John: Pontormos altarpiece in S. Felicita. University of Newcastle upon Tyne, 1971;
Shearman, John: Only Connect … Art and the Spectator in the Italian Renaissance. Princeton University Press, Princeton 1992, S. 87-94;
Waldman, Louis Alexander: New Light on the Capponi Chapel in S. Felicita. In: The Art Bulletin 84 (2002), S. 293-314;
Wasserman, Jack: Pontormo in the Capponi Chapel in Santa Felicita. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 53 (2009), S. 35-72. 

(zuletzt bearbeitet am 11. September 2022)