Sonntag, 25. November 2018

Christus auf dem Thron der Weisheit – die Paderborner Imad-Madonna


Imad-Madonna (zwischen 1051 und 1058), Paderborn, Erzbischöfliches Dom- und Diözesanmuseum
Mittelalterliche Marienskulpturen gehören zu den frühesten nachweisbaren Bildwerken der mobilen Kirchenausstattung. Einen Sondertyp solcher plastischen Mariendarstellungen will ich hier vorstellen: die thronende Maria mit dem Jesuskind auf ihrem Schoß. Die Anerkennung der Mutter Jesu als „Gottesgebärerin“ war ein Akt der frühen Kirche – sie wurde mit den Beschlüssen des Konzils von Ephesus im Jahr 431 dogmatisch verankert. Die offizielle Verleihung des Titels „Theotókos“ begründete seit dem 5. Jahrhundert die besondere Verehrung Mariens in ihrer Eigenschaft als Gottesmutter, um ihre Teilhabe am göttlichen Heilswirken zu betonen. Die Darstellung als thronende Königin und damit als eindeutig Herrschende war aber auch bedeutsam vor dem Hintergrund immer wieder aufflammender häretischer Bewegungen, die die Gottesmutterschaft Mariens in Zweifel zogen.
Die thronende Gottesmutter wurde als Sitz der göttlichen Weisheit (Sedes Sapientiae) verstanden, auf dem das Christuskind als menschgewordener Logos (Johannes 1,14) Platz genommen hat. Die Bezeichnung Sedes Sapientiae geht auf den im Alten Testament beschriebenen kostbaren Thron König Salomos zurück (1. Könige 10, 18-23), der auf Maria bezogen wurde. Der christologische Aspekt dominiert in der Frühzeit – bis in das 12. Jahrhundert hinein – diesen Darstellungstypus. Zunächst ist er auf Elfenbeinreliefs, auf Buch- oder Wandmalereien anzutreffen (meist im szenischen Zusammenhang einer Magierhuldigung); spätestens ab der ottonischen Zeit erscheint die Sedes Sapientiae auch als autonomes, vollplastisches Marienbild, meist aus Holz gefertigt, mit Metallblech verkleidet oder farbig gefasst.
Als Beispiel sei hier etwas näher auf die 112 cm hohe, aus Lindenholz geschnitzte Paderborner Imad-Madonna eingegangen. Sie gilt als ein Hauptwerk ottonischer Kunst. Streng frontal auf den Betrachter ausgerichtet, sitzt die Gottesmutter aufrecht auf einem mit einem flachen Kissen bedeckten und mit niedriger Rückenlehne versehenen Thronsessel. Die Seiten des Throns sind nicht erhalten. Mit ihrer rechten Hand vollführt die Madonna eine segnende Geste, während sie mit ihrer Linken das seitlich auf ihrem linken Oberschenkel sitzende Jesuskind stützt. Der im Profil erscheinende Christus führt in aufrecht thronender Haltung ebendiesen Segnungsgestus mit seiner Rechten aus, während er mit der linken Hand ein Buch in seinem Schoß festhält. Der Knabe trägt eine knöchellange Tunika; sein in der Mitte gescheiteltes Haar fällt hinter den Ohren in sanftem Schwung bis auf den Rücken herab. 
Die Palla der Paderborner Madonna lässt ihre Ohren unverhüllt und geht direkt in ihren Mantel über – in der originalen Fassung dürften die beiden Textilien farblich unterschieden worden sein. Das Gewand der Gottesmutter legt sich in langen Falten über ihren Körper und fällt zu beiden Seiten der Füße auf den Boden. Die Unterschenkel werden dabei von den Stoffbahnen umspielt und bleiben als solche erkennbar. Wie der Körper ist auch der (im Verhältnis zum Körper zu kleine) Kopf der Imad-Madonna in einer reduzierten Formensprache gestaltet. Die Kontur ihres Vorder- und Hinterkopfes verlaufen in ihren Grundlinien parallel; das Gesicht der Marienfigur wird von einem Schleier eingerahmt, Nasenspitze, Füße und Finger fehlen. Der Kopf des Christuskindes gleicht dem von Maria; das Gesicht ist fast identisch, wenn auch weniger präzise ausgeführt. „Die Haare übernehmen die gleiche konturierende Funktion wie die über den Kopf gezogene Palla. (...) Die Ohren werden auf die gleiche Weise, die Konturierung akzentuierend, vor die Haare gesetzt wie die Ohren Mariae vor die Palla“ (Büchsel 1993, S. 39).
Stifter der thronenden Madonna dürfte der Paderborner Bischof Imad (1051-1076) gewesen sein, der sie nach seinem Amtsantritt 1051 in Auftrag gab. Der überlieferte Dombrand von 1058 gilt dabei als terminus ante quem, denn damals trug die Madonna offensichtlich einen so großen Schaden davon, dass Imad die ursprünglich farbig gefasste Figur renovieren ließ: Sie erhielt einen Überzug aus vergoldetem Kupferblech und wurde mit zahlreichen Gemmen verziert. „Reste von Nägeln, die durch die ältere Fassung eingeschlagen sind, sowie der erhaltene Rest des Metallüberzugs an dem ornamentierten Deckelbeschlag des Buches, das der Christusknabe hält, weisen auf die Zweitfassung kurz nach seiner Entstehung hin“ (Beer 2010, S. 116). Die Metallverkleidung wurde 1762 wieder abgenommen – sie diente zur Bezahlung einer Kriegskontribution am Ende des Siebenjährigen Krieges. Nach ihrer grundlegenden Restaurierung (1968 bis 1970) ist die Skulptur heute unbemalt und wird im Erzbischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Paderborn ausgestellt.
Goldene Madonna (zwischen 973 und 1011); Essen, Münster
Goldene Madonna (um 1022); Hildesheim, Dommuseum
Sedes Sapientiae (um 1080); Frankfurt, Liebieghaus
Weitere wichtige ottonische Bespiele für die thronende Madonna sind die Skulpturen in Essen, Hildesheim und Frankfurt. Sie waren als mobile Kultbilder gedacht und kamen daher besonders in Prozessionen zum Einsatz.

Glossar
Mit Fassung ist die Bemalung einer Skulptur gemeint.
Die Ottonen waren eine deutsche Herrscherdynastie. Sie regierten im ostfränkisch-deutschen Reich von 919 bis 1024. Die Bezeichnung Ottonen geht auf die drei ihrer Kaiser zurück: Otto I. Otto II. und Otto III. 
Eine Palla (lat. palla) ist ein langes, bis über die Füße herabgehendes, viereckig zugeschnittenes Gewand, das in der Antike von römischen Frauen beim Ausgehen über den anderen Kleidern getragen wurde.
Der terminus ante quem benennt den Zeitpunkt, vor dem das gesuchte Ereignis passiert sein muss.

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Orte und Wege. Überlegungen zur Aufstellung und Verwendung frühmittelalterlicher Marienfiguren. In: Andrea Hülsen-Esch/Dagmar Taube (Hrsg.): „Luft unter den Flügeln …“. Beiträge zu mittelalterlichen Kunst. Festschrift für Hiltrud Westermann-Angerhausen. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010, S. 99-121;
Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwickung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beucker u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersburg 2006, S. 129-152;
Büchsel, Martin: Ottonische Madonnen. Liebieghaus, Frankfurt am Main 1993;
Pawlik, Anna: Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2013. S. 290-296;
Stiegemann, Christoph (Hrsg.): Diözesanmuseum Paderborn. Werke in Auswahl. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 28-36.

(zuletzt bearbeitet am 23. Dezember 2022)

Mittwoch, 7. November 2018

Gerettet, nicht geopfert – Der Gute Hirte in der frühchristlichen Kunst


Der Gute Hirte (4. Jh.), Rom, Vatikanische Museen
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Zu den zentralen Themen altchristlicher Kunst gehört das Motiv des Guten Hirten, das auf ein Gleichnis im Johannes-Evangelium zurückgeht: Christus wird hier als der Retter gesehen, der sich um das Heil seiner Schafe, d. h. der Gläubigen, sorgt – anders als der „Mietling“, der auf die ihm anvertrauten Schafe nicht achtet und sie der Gefahr aussetzt, von den Wölfen angefallen zu werden (Johannes 10,1-16). Der ein Schaf tragende oder von Schafen flankierte Gute Hirte wird vor allem in der frühchristlichen römischen Katakombenmalerei immer wieder dargestellt; er findet sich aber auch an spätantiken Sarkophagen und in Form von Statuen. Es handelt sich um eines der wichtigsten figürlichen Sinnbilder, die auf Christus hinweisen und als Bekenntnis zu ihm zu verstehen sind (Hebräer 13,20).
In Verbindung mit weidenden Schafen ist die Darstellung des Guten Hirten eine eindeutige Paradiesverheißung. In Begräbnisstätten und auf Grabdenkmälern soll dieses Motiv den Betrachter daran erinnern, dass Christus als der Gute Hirte die Verstorbenen, die an ihn glauben, sicher in sein Reich geleitet. Sie gehören zu den „geretteten Schafen“ (Lukas 15,3-7), für die er sein Leben gegeben hat (Johannes 10,11) und denen er Erlösung und ewiges Leben bringt. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist ein Mosaik im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna (5. Jh.). Auch in frühchristlichen Taufräumen sind Bilder des Guten Hirten anzutreffen: Er soll die Neugetauften mit seiner Herde vereinen, sie vor Wölfen bewahren und an seiner Quelle tränken.
Der Gute Hirte (5. Jh.); Ravenna, Mausoleum der Galla Placidia (für die Großansicht einfach anklicken)
In solchen Darstellungen werden bereits vorhandene antik-pagane Bildformen mit biblisch-christlichen Inhalten besetzt. So sind Hirtenszenen aus der römischen Malerei als künstlerische Inspirationsquellen anzusehen, insbesondere das Motiv des Gottes Hermes als Hirte, der einen Widder auf den Schultern trägt. Ganz ähnlich und im gleichen Begräbniskontext symbolisiert dieser „Hermes Kriophoros“ auf heidnischen Sarkophagen mit mythologischen Szenen das selige Leben im Jenseits (2. und 3. Jh.). Solche Anleihen aus der damaligen griechisch-römischen Bildwelt sollten die Akzeptanz des neuen Glaubens erleichtern. Wenn das Christentum altvertraute Bilder und Symbole aufgriff, wurden auf diese Weise traditionelle, ihres Gehaltes oft entleerte Formen mit neuem Glaubensinhalt gefüllt.
Als Beispiel für solche Übernahmen soll hier nochmals etwas eingehender die Statuette des Guten Hirten aus den Vatikanischen Museen in Rom besprochen werden. In dem weichen Antlitz, der üppigen Lockenpracht und dem lässigen Kontrapost kann man Nachklänge an die Porträtstatuen des schönen Jünglings Antinoos erkennen, dem der römische Kaiser Hadrian als seinem Liebling und Begleiter nach dessen Tod mehrere Tempel und Altäre errichten ließ. Dieses antike Schönheitsideal findet sich auch deshalb beim Guten Hirten, weil das Attribut bonus (= gut) in der griechischen Septuaginta mit kalós (= schön) wiedergegeben wird.
Antinoos-Relief (um 130-138 n.Chr.);
Rom, Palazzo Massimo alle Terme
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Andrea del Verrocchio: David (um 1475); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
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Der Gute Hirte aus den Vatikanischen Museen wendet den Kopf nach links und blickt sehnsuchtsvoll in die Ferne. Er hat das Lamm geschultert und hält es schützend an seinen Füßen fest. Von diesem Typus des Guten Hirten – kurze gegürtete Tunika, Sandalen mit bis unter die Knie geschnürten Fußlappen sowie über der Hüfte hängende Tasche – haben sich aus dieser Zeit zahlreiche Varianten erhalten. Abgewandelt wird er später im Quattrocento in der Figur des jungen David, der den Riesen Goliath besiegt, wieder aufgegriffen, etwa bei Andrea del Verrocchio (1435–1488; siehe meinen Post „Stolz und spöttisch). Das Motiv des geschulterten Jungtieres knüpft ebenfalls an einen antiken Statuentyp an, der bereits in der archaischen Epoche ausgebildet war, und zwar in der Gestalt des Kalbträgers (um 570 v.Chr., Athen, Akropolis-Museum). Diese Figur meint allerdings nicht einen Hirten, vielmehr verkörpert sie den Stifter, der das Kalb als Opfertier der Athena darbringt. Die Botschaft des christlichen Guten Hirten ist dem aber diametral entgegengesetzt: nicht um Opferung geht es, sondern um Errettung und Erlösung.
Kalbträger (um 570 v.Chr.); Athen, Akropolis-Museum
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Der sanfte Charakter des Guten Hirten verdankt sich nicht zuletzt auch der Verquickung dieses Sujets mit der antiken Hirtendichtung, wie sie von Theokrit (gest. 260 v.Chr.) und Vergil (70–19 v.Chr.) geschaffen worden war. In der frühchristlichen Literatur wurde diese pagane Bukolik adaptiert (so etwa um 400 von Servus Sanctus Endelechius) und mit christlichen Bezügen ausgestattet.
Josef August Untersberger: Der Gute Hirte (um 1920); Chromolithografie
In der Kunst des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit appelliert die Symbolgestalt des Guten Hirten an die Bußfertigkeit des „verlorenen Schafes“. Im Barock zieren Darstellungen des „Pastor bonus“ zahllose Kanzeln, weil die Verkündigung als zentrale Aufgabe des Hirtenamtes verstanden wird. Im 19. Jahrhundert, als sich der sanftmütig-weltentrückte Christustypus der Nazarener ausbreitet, findet das Motiv nochmals großen Anklang: Immer wieder wird ein sensibler, duldsamer Jesus als gütiger Hirte inmitten seiner Schafe variiert. Es handelt sich um einen kitschig-süßlichen Christus, der schließlich als dekorative Chromolithografie die Wohn- und Schlafzimmer der Bürger erobert. Die Kunstindustrie mit ihrer Massenproduktion begünstigte eine Trivialisierung überkommener christlicher Ikonografie.

Literaturhinweise
Braunfels, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 2. Rom u.a. 1970, Sp. 289-299;
Hinz, Paulus: Deus Homo. Das Christusbild von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart. Bd. 1.: Das erste Jahrtausend. Berlin 1973, S. 55-67;
Sachs, Hannelore u.a.: Wörterbuch der christlichen Ikonographie. Schnell & Steiner, Regensburg 92005, S. 163-164;
Schneider, Norbert: Geschichte der mittelalterlichen Plastik. Von der frühchristlichen Antike bis zur Spätgotik. Deubner Verlag, Köln 2004, S. 84/85.

(zuletzt bearbeitet am 28. Oktober 2020)