Dienstag, 15. Juni 2021

Stolz und spöttisch – Andrea del Verrocchios „David“

Andrea del Verrocchio: David (um 1475); Florenz; Museo Nazionale del Bargello
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Andrea del Verrocchio (1435–1488) gilt als bedeutendster italienischer Bildhauer zwischen Donatello (1386–1466) und Michelangelo (1475–1569). Er gehörte zu den bevorzugten Künstlern der Medici-Familie, in deren Auftrag er fast ausschließlich arbeitete. Nicht zu unterschätzen ist auch Verrocchios Einfluss als Lehrer so berühmter Renaissance-Maler wie Leonardo da Vinci, Sandro Botticelli, Domenico Ghirlandaio und Pietro Perugino.
Wie Donatello (siehe meinen Post Androgyne Sinnlichkeit“) hat auch Verrocchio einen Bronze-David für die Medici geschaffen (um 1475). 1476 verkauften Giuliano und Lorenzo de Medici die Statue allerdings an die Stadtregierung von Florenz, die sie im Palazzo Vecchio aufstellen ließ. Heute steht die 126 cm hohe Skulptur auf einem Sockel aus Marmor und Porphyr im Museo Nazionale del Bargello und ist dort eine der Hauptattraktionen. 
Stolz, aufrecht, mit geradezu spöttischem Blick und einem überlegenen, triumphierenden Lächeln auf den Lippen steht der Hirtenjunge auf seinem Podest – Norbert Schneider spricht von jugendlichem „Imponiergehabe“ (Schneider 2017, S. 73). Wirkt Donatellos Bronze-David in Gedanken versunken und geradezu melancholisch, so scheint sich Verrocchios Jüngling selbstsicher seines Publikums bewusst zu sein und dessen Applaus zu genießen. Sein David hält nicht mehr die Steinschleuder, sondern ein kurzes Schwert in der rechten Hand, die andere hat er lässig an die Hüfte gelegt, dabei den Ellenbogen kantig und spitz ausstellend. Zu Davids Füßen liegt das soeben abgeschlagene Haupt Goliaths mit langen Locken und einer klaffenden Wunde auf der Stirn.

Donatello: David (um 1440); Florenz; Museo Nazionale del Bargello
Wie bei Donatellos Bronze-David belegt die Harmonie von Stand- und Spielbein Verrocchios intensives Antikenstudium. Der jugendliche Held trägt ein dünnes, von antiker Militärkleidung inspiriertes Lederwams, durch das sich Brustkorb und Bauch abzeichnen. Es liegt dem Leib wie eine zweite Haut an und bringt die Körperformen fast noch deutlicher zur Geltung als bei Donatellos Aktfigur: Ohne Textilfalten zeichnen sich die Rippen und der Bauchnabel ab sowie auf der Rückseite die tiefe Einbuchtung des Rückgrats. Der kurze Rock darunter ist mit Bordüren und Fransen gesäumt. Verrocchio täuscht ornamentierte Lederriemen vor – einen V-förmigen Gürtel, der den Rock hält, und ein um Schulter, Brust und Achsel geführtes Band mit einem Anhänger in Höhe des Rippenbogens. Ersichtlich hat der Bildhauer den schmächtigen, aber durchaus muskulösen Knabenkörper wie Donatellos Figur erotisieren wollen, wie sich etwa an den Rosetten über den Brustwarzen zeigt.
Bei einer Restaurierung der Statue im Jahr 2003 wurde entdeckt, dass Davids Haar ursprünglich komplett vergoldet war. Auch die fast verschwundene Vergoldung an Davids Gewandsäumen und an den Stiefeln trat nach der Oberflächenreinigung wieder ans Tageslicht. Die Ornamente an diesen Bändern ahmen arabische Schriftzeichen nach – sie dienen dazu, den Jüngling und das dargestellte Ereignis im Orient zu verorten.

Ein echter Goldjunge
Die Figur des David und der Kopf Goliaths wurden von Verrocchio separat gegossen. Röntgenaufnahmen belegen, dass David im Inneren einen Eisenkern in der Form eines umgekehrten V aufweist. Um dieses große Gerüst hat der Künstler mit Ton die Figur geformt und anschließend mit Wachs ummantelt, um die Feinheiten zu modellieren. Beim Guss nimmt die flüssige Bronze den Platz des durch Rinnen abschmelzenden Wachses ein. Deshalb spricht man auch vom Verfahren der verlorenen Form.
So kennt man Verrocchios David:
mit Goliaths Haupt zwischen den Füßen
Wie bei Donatellos David kennt man auch Verrocchios Skulptur mit Goliaths Kopf zwischen Davids Füßen, was der Figur einen fest verankerten, säulenartigen Charakter verleiht. Die Restaurierung hat ergeben, dass die Locken des Riesen jedoch teilweise abgesägt oder abgefeilt worden sind, um den Kopf nachträglich der Position zwischen Davids Füßen anzupassen. Möglicherweise musste die Grundfläche der Statue verkleinert werden, als sie 1495 einen neuen Standort im Palazzo Vecchio erhielt. Nachweislich bekam die Figur zu diesem Zeitpunkt einen neuen Sockel. Kunsthistoriker vermuten, dass der Kopf ursprünglich hinter oder neben Davids Füßen lag. Gary M. Radke begründet diese Theorie: Wenn Verrocchio sich schon die Mühe mache, eine freistehende Figur zu schaffen, deren linker Fuß nur mit dem Ballen den Boden berührt und daher sehr anmutig wirkt, dann sei es unlogisch, diesen Anblick durch einen separat gegossenen Gegenstand zu verdecken und so die vollbrachte Leistung zu verschleiern.
Wenn der Kopf nicht als Hindernis zwischen seinen Füßen liegt, wirkt David, als sei er im Gehen begriffen (siehe Foto oben). Das Standmotiv kann zur Schrittstellung umgedeutet werden – eine beträchtliche Neuerung für eine große Bronzestatue in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Nicht mehr der Jäger mit seiner Trophäe ist dargestellt oder der Triumph der Tugend über das Laster, sondern ein jugendlicher Held, der nach seiner Tat siegesgewiss vorangeht, ohne grübelnd zu verharren. Auch andere Plastiken  von Verrocchio zeigen Figuren, die in Bewegung scheinen, so z. B. der ungläubige Thomas an der Kirche Orsanmichele in Florenz (1467-1483), der kurz davor ist, Jesus die Finger in die Seitenwunde zu legen (siehe meinen Post „,Reiche deinen Finger her!‘“).
Andrea del Verrocchio: Christus und Thomas (1467-1483); Florenz, Orsanmichele
Selbst wenn die Bronze tatsächlich bearbeitet wurde, kann durchaus Verrocchio selbst für die Veränderungen verantwortlich sein, denn die kalte Nachbearbeitung von Bronzewerken war damals gang und gäbe. In Florenz wird der David jedenfalls weiterhin in der altbekannten Stellung präsentiert werden. Verrocchio, der erst 1488 starb, hat diese Fassung schließlich seit 1476, als sie in den Palazzo Vecchio wechselte, akzeptiert.
Anzufügen wäre noch, dass Volker Herzner in einer umfangreichen Studie eine andere Chronologie der Ereignisse zu belegen versucht: Verrocchios David sei nicht um 1475 oder früher zu datieren, sondern um 1478. Bei der David-Skulptur, die 1476 an die Stadtregierung verkauft wurde, handelte es sich, so Herzner, um Donatellos Statue, nicht um die von Verrocchio – die sei vielmehr bis 1495 im Innenhof des Palazzo Medici verblieben. Es wäre wenig sinnvoll gewesen, einen weiteren David in Auftrag zu geben, wenn der des Donatello sich noch im Palast der Medici befunden hätte. Die Medici hätten die Skulptur von Donatello unfreiwillig herausgeben müssen und seien dafür finanziell entschädigt worden; Verrocchios Figur sei als „Ersatz für den Verlust“ entstanden (Herzner 1982, S. 137). Lorenzo de Medici war aus der berühmten Pazzi-Verschwörung vom April 1478 politisch gestärkt hervorgegangen; rasch und erbarmungslos hatte er seine innenpolitischen Feinde vernichten und die mediceische Herrschaft dauerhaft festigen können. „Lorenzo hat allem Anschein nach diesen großen Erfolg mit dem Auftrag an Verrocchio für eine neue David-Statue gekrönt“ (Herzner 1982, S. 138).

Literaturhinweise
Butterfield, Andrew: The Sculptures of Andrea del Verrocchio. Yale University Press, New Haven 1997, S. 18-31; 
Herzner, Volker: David Florentinus. In: Jahrbuch der Berliner Museen 24 (1982), S. 63-142;
Hubert, Hans W.: Gestaltungen des Heroischen in den Florentiner David-Plastiken. In: Achim Aurnhammer/Manfred Pfister (Hrsg.), Heroen und Heroisierungen in der Renaissance. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2013, S. 181-218; 
Mack, Rosamond E./Zakariya, Mohamed: The Pseudo-Arabic on Andrea del Verrocchio’s David. In: artibus et historiae 60 (2009), S. 157-172;
Passavant, Günter: Verrocchio. Skulpturen – Gemälde – Zeichnungen. Phaidon Press, London 1969, S. 16-19;
Radke, Gary M.: Verrocchio’s David Restored. A Renaissance Bronze from the National Museum of the Bargello, Florence. High Museum of Art, Atlanta 2003;
Schneider, Norbert: Kunst der Frührenaissance in Italien. Exemplarische Interpretationen. Band 1: Skulptur. LIT Verlag, Karlsruhe 2017, S. 70-73;
Shearman, John: Only Connect … Art and the Spectator in the Italian Renaissance. Princeton University Press, Princeton 1992, S. 27-28.

(zuletzt bearbeitet am 4. April 2022)

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