Donnerstag, 21. Dezember 2023

Auftakt der europäischen Renaissance: Claus Sluters „Mosesbrunnen“ in Dijon

Claus Sluter: Mosesbrunnen; in dieser Ansicht David, eine der sechs Prophetenfiguren

Der Niederländer Claus Sluter (1340–1406) war ab 1389 in Dijon als Hofbildhauer des Herzogs von Burgund, Philipps des Kühnen (1342–1404), tätig. Für das Kirchenportal der Kartause Champmol, die der Herzog 1383 als Grablege seines Hauses gegründet hatte, schuf Sluter zwischen 1388 und 1393 die überlebensgroßen Statuen der Madonna am Trumeau sowie Johannes des Täufers mit Herzog Philipp am linken Gewände und der Herzogin Margarethe mit der hl. Katharina am rechten Gewände. Bereits mit diesen Figuren ging Sluter weit über die Tradition gotischer Skulptur hinein, die insbesondere durch ihre Einbindung in den architektonischen Rahmen gekennzeichnet ist.

Claus Sluter: Portalfiguren der Kapelle von Champmol in Dijon

Als Sluters Hauptwerk gilt der sogenannte Mosesbrunnen, der sich ebenfalls auf dem Gelände der Kartause Champmol befindet. Die Brunnenanlage umfasst ein großes, sechseckiges Brunnenbecken und in dessen Mitte einen mächtigen, ebenfalls sechseckigen Pfeiler, der in der Höhe des Beckenrandes durch ein ausladendes Gesims untergliedert wird. Oberhalb des Simses sind die Seiten des Pfeilers zu Blendarkaturen ausgearbeitet, vor denen jeweils eine alttestamentliche Figur auf einer Konsole steht: Moses, König David und die Propheten Jeremias, Zacharias, Daniel sowie Jesaja. Die Ecken des Pfeilerhexagons sind durch Dienste betont, die in Blattkapitellen enden. Auf jedem Kapitell steht ein Engel unter ein zweites, vorkragendes Gesims gebeugt, dessen Last durch die ausgebreiteten Engelsflügel aufgehoben wird. Die unregelmäßig ausgeformte Oberfläche des Gesimses soll den Felsengrund eines verlorenen Kalvarienberges veranschaulichen.

Die Brunnenanlage war ebenfalls ein Auftrag Philipps des Kühnen und bildete den Mittelpunkt des großen Kreuzganges der Kartause Champmol. Sie ist in Verbindung mit der Kreuzigung als Lebensbrunnen zu verstehen, als fons vitae, eine dem späten Mittelalter vertraute christliche Symbolik. Die Propheten sind durch ihre Inschriften als Vorausdeuter der Passion Christi gekennzeichnet. „Die Erlösungstat Christi wurde durch dieses Monument also in ihrem Zusammenhang mit dem vorbereitenden Heilswalten Gottes im Alten Bund gezeigt“ (Kreytenberg 1985, S. 15).

Sluters Werkstatt führte nach Modellen des Meisters die ornamentalen Teile der Brunnenanlage wie Gesimse und Blendarkaturen bis 1398 aus. Die Skulpturen des Kalvarienberges – den Kruzifixus, Maria, Maria Magdalena und Johannes – vollendete Sluter bis Mitte 1399. Im Juli desselben Jahres wurden die Skulpturen angebracht, wobei die bereits am Querbalken befestigte Christusfigur am Kreuzstamm fixiert und die übrigen Statuen in einer Gussmasse auf der Oberfläche des Brunnenpfeilers gesichert wurden. Während einer schweren Erkrankung Sluters in den Jahren 1399 und 1400 führte Claus de Werve, ein Neffe des Meisters, der seit 1396 in dessen Werkstatt tätig war, die sechs Engel aus, die sich mit ausgebreiteten Flügeln unter das Gesims des Brunnenpfeilers stemmen; es ist anzunehmen, dass er nach genauen Anweisungen Sluters arbeitete. 1401 wurden die Engel an ihrem Bestimmungsort angebracht.

Die ersten drei überlebensgroßen Prophetenstatuen – David, Moses und Jeremias – waren Anfang Februar 1401 vollendet und wurden zur Kartause transportiert, doch erst im Sommer 1402 auf ihre Konsolen gestellt und am Brunnenpfeiler befestigt. Dem bisher fertiggestellten Teil der Brunnenanlage gab der herzogliche Hofmaler bis Juni 1403 die farbige Fassung und Vergoldung. Im November 1403 schließlich trafen die Steinblöcke für die drei anderen Propheten, Zacharias, Daniel und Jesaja, bei Sluter in Dijon ein. Die Statuen waren zweifellos vollendet, als Sluter im Januar 1406 starb.

Die Propheten Daniel und Jesaja

Um die Brunnenanlage gegen Witterungseinflüsse abzuschirmen, ordnete Herzog Johann Ohnefurcht, Nachfolger des 1404 verstorbenen Philipps des Kühnen, bereits 1407 an, dass ein hölzernes Schutzdach über Brunnen und Kalvarienberg zu errichten sei. Deswegen erscheint eine gewaltsame Zerstörung der Kreuzigungsgruppe am wahrscheinlichsten; ihr Zeitpunkt ist unbekannt. In der Französischen Revolution schließlich verlor das Monument mit der Vernichtung des großen Klosterhofes der Kartause auch seinen architektonischen Rahmen und Bezug.

Sluters große bildhauerische Leistung besteht zum einen darin, die vollplastische Skulptur aus ihrer Bindung an die Architektur gelöst zu haben. Seine ernsten Prophetengestalten sind aus der gotischen Gewandfigur entwickelt, haben aber völlig die Schematik vorgeprägter Stilformen abgestreift: „Wenn Sluters Propheten ihre Zeitgenossenschaft auch nicht verleugnen, so sind sie doch einzigartige durchgebildete Individualgestalten, eigenwillige Charaktere, deren unterschiedliche Haltung, deren Blicke, Nachsinnen und Versunkensein sie zu lebensnahen Figuren macht, wie sie im ausgehenden 14. Jahrhundert nur hier entstanden sind“ (Klotz 1997, S. 24). Zum anderen hat der flämische Bildhauer die Ausdruckskraft seiner Skulpturen durch einen bis dahin unbekannten Realismus in der Mimik erheblich gesteigert.

Als Beispiel hierfür betrachte ich zwei Slutersche Prophetenstatuen – Moses und David – etwas näher. An diesen beiden Figuren soll auch erörtert werden, wo genau sich die Ansicht befindet, die dem Betrachter den von Sluter gewählten maßgeblichen Blick auf die verlorene Kreuzigungsgruppe geboten hat.

Der gehörnte Moses mit gewaltigem Gabelbart

Die heute geläufige Benennung des Monuments als Mosesbrunnen ist seit 1824 nachweisbar. Nachdem das Wissen um den ursprünglichen Skulpturenbestand und den einstigen Sinn der Anlage verlorenging, war jene der sechs alttestamentlichen Gestalten am Brunnenpfeiler zu Hauptfigur und Namenspatron ausersehen worden, die wohl von jeher den tiefsten Eindruck auf den Betrachter gemacht hat. In der Dynamik, in der plastischen Kraft und in der Ausdrucksstärke der Gesichtszüge übertrifft der Moses zwar keineswegs die anderen fünf Figuren, doch er forderte allein aufgrund seines Namens und dieser Eigenschaften zum Vergleich mit einer noch berühmteren Statue heraus: mit Michelangelos Moses, als dessen unmittelbarer Vorläufer die Slutersche Figur erschienen sein mag.

Die Propheten Moses und David

Moses steht mächtig aufgerichtet, gehüllt in ein langes, gegürtetes Unterkleid und in ein faltenreiches Obergewand, das auch den Kopf bedeckt und über dem rechten Arm gerafft wird. In seiner rechten Hand trägt er die Gesetzestafeln, mit der Linken hält er ein langes Spruchband, das von der Schulter bis unter die Knie herabreicht. Das Haupt mit der gehörnten Stirn und dem wallenden Haar sowie dem gewaltigen Gabelbart wirkt in seiner Größe regelrecht übersteigert. Es ist leicht in den Nacken zurückgebogen, sodass der Blick etwas aufwärts und nach rechts gerichtet ist. Der Betrachter wird also durch die Figur von links nach rechts geführt, schon um in ihr Gesicht blicken zu können. Die beiden Engel, die ihre Flügel über Moses ausbreiten, wenden ihre Köpfe nicht ihm als gemeinsamer Mitte zu, sondern leiten den Betrachter durch ihre Kopfhaltung von links nach rechts. Frontal vor Moses stehend, sieht der Betrachter aber nicht nur diese Figur sowie die beiden Engel, sondern auch noch Jesaja und David. Diese beiden Figuren sind ebenfalls nicht auf Moses als einer Mitte bezogen; sie wenden sich vielmehr von Moses ab. „Eine solche Gruppierung mit einer Statue in der Mitte, die nicht zum Verharren einlädt, sondern den Betrachter bestimmt, sich nach rechts zu bewegen, kann unmöglich die Hauptansichtsseite des Monuments gebildet haben“ (Kreytenberg 1985, S. 16).

Die Propheten Jeremia und Zacharias

Im Vergleich zu Moses ist der Figur des David durch eine weit größere Ruhe charakterisiert. Sie resultiert aus ihrer frontalen Haltung und zurückhaltenden Gestik sowie der schlichten Drapierung von Mantel und Tunika. Gleichzeitig wirkt der David gelöst, weil sich sein Haupt durch eine geringfügige Drehung aus der Frontalität nach rechts wendet, wohin auch sein Spielbein weist. „Als einzige unter den Statuen am Brunnenpfeiler drängt David den Betrachter nicht zum Fortschreiten, als einzige veranlaßt sie den Betrachter aufzuschauen, lenkt seinen Blick über Profile und Gesims nach oben“ (Kreytenberg 1985, S. 17). Die Locken des Haupthaares, die das breite, durch den Bart vergrößerte Gesicht rahmen, sind so angeordnet, dass sie zusammen mit der Krone ein Dreieck bilden, das sich von den Schultern abhebt und mit der Spitze nach oben weist. Der Richtungsimpuls bezieht seine Energie nicht allein aus der Form des Dreiecks, sondern auch aus den vorbereitenden, lang ausgezogenen Vertikalen, die in der Drapierung der Tunika angelegt sind. Durch die Krone, die die horizontalen Profile am Brunnenpfeiler oberhalb der Statuen überschneidet, erscheint die Figur Davids als die größte des gesamten Zyklus.

Dies sind eindeutige Hinweise darauf, dass die Figur Davids als Mitte der Hauptansichtsseite gemeint ist, die einst in einer Kreuzigung gipfelte. Darüber hinaus neigen die beiden benachbarten Engel vor den Ecken des Pfeilerhexagons die Köpfe dem David als ihrer Mitte zu. Keine der anderen alttestamentlichen Figuren wird durch eine solche Haltung der Engel hervorgehoben. Schließlich wenden sich auch die beiden benachbarten Propheten Moses und Jeremias der Mitte mit David zu. Allein diese drei Figuren treten zu einer in sich geschlossenen Gruppierung zusammen und vereinigen sich zur Hauptansicht mit der verlorenen Kreuzigungsgruppe.

Die trauernden Engel sind ein deutlicher Hinweis auf die verlorene Kreuzigungsgruppe

Ebenso eindringlich gestaltet wie die sechs Propheten sind die auf den Säulen sich erhebenden Engel, die um den Tod des Gekreuzigten trauern – alle einem Typus angehörend und dennoch individuell unterschieden in ihrem Weinen und Klagen „In Italien sind solche Figuren erst im fortgeschrittenen 15. Jahrhundert möglich geworden“ (Klotz 1997, S. 24). Sluters Engelfiguren könnten durchaus flämische Maler wie Robert Campin oder Rogier van der Weyden inspiriert haben.

Claus Sluter: Grabmal Philipps des Kühnen (vollendet von Claus de Werve); Dijon, Musée des Beaux-Arts

Sluter hat für Philipp den Kühnen im Kartäuserkloster Champmol nicht nur die Portalskulpturen und den Mosesbrunnen geschaffen, sondern auch das Grabmal des Herzogs (1405–1411), der in der Kapelle der Kartause beigesetzt sein wollte. Mit diesen drei Arbeiten leitete er, so zumindest Heinrich Klotz, die europäische Renaissance ein: „Erst im Jahr der Fertigstellung des Portalzyklus – 1401 – machten sich in Florenz mit den Konkurrenzreliefs für die zweite Baptisteriumstüre erste Anzeichen eines vergleichbaren Wandels bemerkbar“ (Klotz 1997, S. 22).

 

Literaturhinweise

Klotz, Heinrich: Der Stil des Neuen. Die europäische Renaissance. Klett-Cotta, Stuttgart 1997;

Kreytenbach, Gert: Zur Komposition des Skulpturenzyklus am sogenannten Mosesbrunnen von Claus Sluter. In: Pantheon XLIII (1985), S. 15-20;

Prochno, Renate: Die Kartause von Champmol. Grablege der burgundischen Herzöge (1364–1477). Akademie Verlag, Berlin 2002.