Mittwoch, 21. September 2022

Abenddämmerung oder Morgensonne? – Caspar David Friedrichs Rückenfigur im Essener Museum Folkwang

Caspar David Friedrich: Frau vor der auf-/untergehenden Sonne (um 1818); Essen; Museum Folkwang
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Caspar David Friedrich (17741840) gehört nach wie vor zu den bekanntesten deutschen Malern, in seiner Beliebtheit vielleicht nur noch von Albrecht Dürer übertroffen. Er gilt als der romantische Landschaftsmaler schlechthin. Seine Gemälde werden Jahr für Jahr in großformatigen Kalendern nachgedruckt oder für Buchumschläge verwendet, und beinah ebenso regelmäßig erscheint neue Literatur zu Friedrichs Leben und Werk. Die meisten schätzen seine Bilder als melancholisch-ruhige Stimmungslandschaften, mit faszinierenden Sonnenuntergängen, grandiosen Wolkenschauspielen, erhebenden Ausblicken ins Hochgebirge oder auf die Weite des Meeres. Woher rührt diese ungebrochene Popularität, die sich auch im Friedrich-Jubiläumsjahr 2024 an einer restlos ausgebuchten Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle gezeigt hat? 
Jost Hermand bietet eine nachvollziehbare Erklärung an: ,,Angesichts der zersiedelten, verwüsteten Natur unserer eigenen Umwelt empfinden viele dieser Menschen seine Berg-, Wiesen-, Wald- und Seestücke wie eine einzige große Augenweide oder seelische Labsal. Schließlich ist auf ihnen alles noch unberührt, noch rein. […] Denn wo – wenn nicht bei Friedrich – gibt es noch soviel schöne Nur-Natur? Seine Landschaften gleichen Naturschutzgebieten, die noch nicht vom »grässlichen« Fortschritt der Industrialisierung gezeichnet sind, wo alles noch zeitlos, ewig, göttlich wirkt“ (Hermand 2001, S. 217). Florian Illies betont dagegen vor allem den ,,Zauber der Stille“, die Friedrichs Bilder ausstrahlen und in einer reizüberfluteten Gesellschaft so anziehend machen.
Heutige Betrachter erkennen allerdings weit seltener als Friedrichs Zeitgenossen, dass seine Bilder mehr zeigen als stille Abenddämmerungen, verträumte Mondnächte, vertraute Küsten und die grünen Gefilde der deutschen Heimat. Zu Friedrichs Lebzeiten war man sich bewusst, dass seine Werke mehr sind als Abbilder real erlebter Natur, dass sie keine ,,idealen Landschaften“ präsentieren, sondern viele Bilddetails als Symbole zu verstehen sind, die eine Botschaft enthalten.
Es hat in der kunstgeschichtlichen Forschung immer wieder unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben, wie die sinnbildliche oder ,,allegorische Landschaft“, die Friedrichs Kunst kennzeichnet, gemeint ist. Der Friedrich-Spezialist Helmut Börsch-Supan ist der Ansicht, dass es sich um ,,religiöse Landschaftsallegorien“ handelt. Friedrich habe gemalte Gleichnisse geschaffen, Sinnbilder, deren religiöse Aussage geradezu ,,entschlüsselt“ werden müsste. Als Beispiel soll hier eines seiner Gemälde aus dem Museum Folkwang in Essen vorgestellt werden.
Das kleinformatige Bild (22 x 30 cm) zeigt die Rückenfigur einer Frau vor auf- oder untergehender Sonne? Das ist eine unter Kunsthistorikern ebenfalls bis heute umstrittene Frage, denn sie bestimmt wesentlich die Deutung des Bildes. Die weibliche Gestalt steht, zwei Drittel der Bildhöhe durchmessend, mit leicht abgespreizten Armen im Vordergrund und genau in der Mittelachse der Komposition. Sie trägt ein fußlanges blaues Kleid und hat die offenen Handflächen gegen eine weite Landschaft und die Sonne gewendet. Offenbar auf einem Weg, der unmittelbar vor ihr endet und der beiderseits von großen Felsblöcken gesäumt wird, verharrt sie regungslos in ihrer Betrachtung des aufstrahlenden Lichts. Jenseits des Weges erstreckt sich eine Wiese, in die sich im Mittelgrund links Bäume und Sträucher, rechts ein Hügel hineinschieben; dahinter staffeln sich zunächst ein Waldstreifen, der links zwischen den Bäumen eine Kirche erkennen lässt, dann weitere Hügelketten, die zuletzt von einem breiten Bergrücken überragt werden. Unsichtbar noch steht hinter diesem fernsten Landschaftselement die Sonne, deren deutlich markierte Strahlen über den gold-orangefarbenen, mehr als die Hälfte der Bildfläche einnehmenden Himmel flammen. „Streng axial aufeinander bezogen sind die Frau und das Gestirn, dessen Strahlen in der Bildfläche Haupt und Oberkörper der Frau umgeben, sodass anschaulich außer Zweifel steht, dass deren schauende Hinwendung und die gebreiteten Arme der Sonne gelten“ (Noll 2011, S. 282).
Spiegelsymmetrisch komponiert erscheint aber auch die Landschaft insgesamt: von den Felsblöcken beiderseits des Weges im Vordergrund über die auf gleicher Höhe platzierten Bäume, Sträucher und Hügel im Mittelgrund bis zu den fernen, an der Mittelachse orientierten Höhenrücken, alles in braun-dunkelgrünen Tönen gehalten. Die Symmetrie wird durch Variationen und Unregelmäßigkeiten nur insoweit aufgelockert, dass nicht der Eindruck von Starrheit und Leblosigkeit entsteht. Unübersehbar bleibt jedoch das Zusammengefügte, Gebaute der Komposition, in deren Zentrum oder genauer: leicht unterhalb des Zentrums die durch ihre Strahlen indirekt sichtbare Sonne als formaler und inhaltlicher Mittelpunkt des Bildes zu denken ist.
In feierlichem Ernst und stiller Hingabe steht die weibliche Gestalt vor der ruhig lagernden, in sanft ondulierenden Horizontalen gestaffelten Landschaft. Die Armhaltung der Frau kann als Orantengestus verstanden werden: Hier geht es offenbar um eine dem Gebet vergleichbare religiöse Ausrichtung auf das strahlende Gestirn. Umstritten ist allerdings, ob diese in der Natur sich entfaltende Religiosität genauer bestimmt werden kann: Handelt es sich um einen Pantheismus, oder sind einzelne Bildgegenstände wie etwa die Felsblöcke im Vordergrund, der abrupt endende Weg oder die Kirche im Hintergrund sinnbildlich, und das heißt vor allem: explizit christlich zu verstehen? Jörg Traeger sieht in Friedrichs Gemälde nicht das Verschmelzen oder Einswerden mit der Natur oder dem Universum dargestellt, sondern „die Sehnsucht nach dieser Verschmelzung bzw. nach diesem Einswerden“ (Traeger 1979, S. 108). Für eine christliche Deutung plädiert Helmut Börsch-Supan: Die Frau habe, geleitet von ihrem festen Glauben (symbolisiert durch die Felsblöcke), das Ziel ihres Lebensweges erreicht und wende sich an der Schwelle zur Ewigkeit vertrauensvoll der vor ihr aufgehenden Gnadensonne Gottes zu. Die Rückenfigur ist dabei ein Stellvertreter des Betrachters, den der Künstler auf diese Weise auffordert, die gleiche innere Haltung wie die Frau vor ihm einzunehmen. Dieselbe Funktion übernehmen auch andere Rückenfiguren in Gemälden von Friedrich, so etwa im Wanderer über dem Nebelmeer (Hamburg) oder in der Frau am Fenster (Berlin).
Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818); Hamburg, Kunsthalle
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Caspar David Friedrich: Frau am Fenster (1822), Berlin, Nationalgalerie
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Reinhard Zimmermann verweist wie schon Börsch-Supan auf die kompositorische Nähe des Essener Gemäldes zu Friedrichs berühmtem Tetschener Altar (siehe meinen Post Der große Mittler): Die Inszenierung der hinter einem Berggipfel stehenden Sonne mit ihren Strahlenbahnen entspreche sich weitgehend, und da Friedrich die Sonne des Tetschener Altars ausdrücklich als untergehende Sonne bezeichnet habe, liegt es nahe, dies auch auf das Essener Bild zu übertragen“ (Zimmermann 2014, S. 28). Eine ganz ähnliche Bildstruktur erkennt Zimmermann auch in Friedrich Gemäldes Zwei Männer in Betrachtung des Mondes: ein Weg im Vordergrund, dann zwei Betrachterfiguren und wiederum eine Himmelserscheinung, nämlich der Mond mit dem Abendstern. Auch dieses Gemälde sei ein Indiz dafür, dass es sich auf dem Essener Bild um einen Sonnenuntergang handelt; denn wenn eine prinzipielle Analogie besteht, dann müsste sie sich auch darauf beziehen, dass der Morgen erst noch bevorsteht, wie es auf dem Dresdner Bild der Fall ist“ (Zimmermann 2014, S. 28). Die untergehende Sonne sei einerseits als Todessymbol gemeint, zugleich aber auch Zeichen einer Jenseitsverheißung, weil auf die hereinbrechende Nacht des Todes der Tag der Auferstehung folge. Zimmermann kommt im Übrigen das Verdienst zu, in einer eigenen Studie die Forschungsgeschichte zu Friedrichs Folkwang-Gemälde minutiös zusammengefasst zu haben, insbesondere die hin und her wogenden Ansichten, ob denn nun eine auf- oder eine untergehenden Sonne dargestellt sei.
Caspar David Friedrich: Tetschener Altar (1807/08); Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (um 1819);
Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Guntram Wilks und Akane Sugiyama haben in ihren Doktorarbeiten von 2004 und 2009 noch eine weitere, durchaus überzeugende Interpretation des Essener Gemäldes vorgelegt: Sie erkennen in der Rückenfigur Friedrichs Ehefrau, Caroline Bommer, die er im Januar 1818 geheiratet hatte. Wilks und Sugiyama deuten das Bild im Kontext der ersten Schwangerschaft von Caroline Bommer, die im August 1819 ihr erstes Kind Emma gebar. Entsprechend fassen sie die Armhaltung der weiblichen Gestalt mit den nach innen gedrehten Händen als ein „Empfangen“ auf. Auch die Lichtstrahlen, die sich genau in der Höhe ihres Bauches bündeln, seien als Hinweis auf die Empfängnis zu verstehen. Deswegen sehen Wilks und Sugiyama von Friedrich auch eine aufgehende Sonne dargestellt.

Literaturhinweise
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 114;
Hermand, Jost: Caspar David Friedrichs »Eiche im Schnee« im Umkreis der Befreiungskriegsthematik. In: Ekkehard Mai (Hrsg.), Die Zukunft der Alten Meister. Perspektiven und Konzepte für das Kunstmuseum von heute. Böhlau Verlag, Köln 2001, S. 217-242;
Illies, Florian: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023;
Noll, Thomas: Die allegorische Landschaft bei Caspar David Friedrich. Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 72 (2011), S. 281-296; 
Sugiyama, Akane: Wanderer unter dem Regenbogen – die Rückenfigur Caspar David Friedrichs. Diss., Berlin 2009; 
Traeger, Jörg: Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. In: Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Runge. Fragen und Antworten. Ein Symposion der Hamburger Kunsthalle. Prestel-Verlag, München 1979, S. 96-114;
Wilks, Guntram: Das Motiv der Rückenfigur und dessen Bedeutungswandlungen in der deutschen und skandinavischen Malerei zwischen 1800 und der Mitte der 1940er Jahre. Diss., Greifswald 2004, S. 110-113;
Zimmermann, Reinhard: Caspar David Friedrich – Frau vor der untergehenden Sonne. Das Bild und seine Deutung. Edition Lioncel. Lindenberg 2014.

(zuletzt bearbeitet am 5. April 2024) 

Donnerstag, 8. September 2022

Das Auge isst mit – Caravaggios „Früchtekorb“ in Mailand


Caravaggio: Früchtekorb (um 1595); Mailand, Pinacoteca Ambrosiana (für die Großansicht einfach anklicken)
Viele Kunsthistoriker*innen sehen in Caravaggios berühmtem Früchtekorb aus der Mailänder Pinacoteca Ambrosiana das erste selbstständige italienische Stillleben (um 1595). Auf jeden Fall gilt es als eines der frühesten überhaupt; darüber hinaus ist es das einzige erhaltene autonome Stillleben von Caravaggio und das kleinste Bild, das er je gemalt hat.
Dargestellt ist auf einem Querformat (47 x 61 cm) ein von Früchten und Blättern überquellender Weidenkorb, der nur wenige Zentimeter über dem unteren Bildrand auf einer nicht näher bezeichneten, bräunlichen Tischplatte oder einem Regalbrett steht. Der Korb reicht minimal in den Raum des Betrachters hinein, sodass sich auf dem braunen Brett ein kleiner Schatten bildet. Caravaggio zeigt den Korb in exakt orthogonaler Vorderansicht, wie man es in einer technischen Aufrisszeichnung machen würde“ (Raspe 2013/14, S. 328).
Der hell leuchtende Hintergrund, vor dem Caravaggio seinen Früchtekorb platziert, ist völlig unbestimmt: Handelt es sich um eine gekalkte Wand? Die räumliche Beziehung von Vorder- und Hintergrund bleibt unklar – ein Tiefenraum wird nicht angedeutet, in den der Früchtekorb entsprechend der Darstellungslogik hineingestellt sein müsste. Durch die optische Absperrung nach hinten ist es eigentlich nicht möglich, den Früchtekorb im Bildraum zu lokalisieren, weswegen er als Trompe-l’œil „im Realraum des Betrachters erscheint“ (Kroschewski 2002, S. 129). Raum wird in Caravaggios Stillleben fast ausschließlich im Volumen der Früchte sichtbar.
Der Maler lässt in seiner Komposition nahezu die gesamte obere Bildhälfte frei. Die Früchte, in verblüffender Präzision wiedergegeben, sind in Lagen aufgebaut: Eine Quitte, tief dunkle Trauben und die beiden Feigen rechts bilden zusammen die untere Ebene, da sie annähernd die gleiche Höhe erreichen. Die obere Lage besteht aus den beiden braunen, geplatzten Feigen, der Birne und den roten Trauben rechts. Als Bekrönung dient eine reife Aprikose.
Dieser Aufbau wird auf der linken Seite durchbrochen und auf der rechten Seite überdeckt: Die über den linken Korbrand quellenden weißen Trauben liegen für das untere Register zu tief; der Apfel darüber vermittelt zwischen der ersten und der zweiten Ebene, was ebenso für die dunkelgelben Weintrauben im Verhältnis zur bekrönenden Aprikose gilt. Auf der rechten Seite verdeckt ein großes Weinblatt teilweise die Birne und die roten Trauben. Über den Korbrand hinaus kragt rechts noch ein welkes, zusammengerolltes Feigenblatt; es folgen noch zwei zerzauste Weinblätter, deren Zweig von rechts außen her ins Bild hineinragt. „Sie sind als Silhouetten angelegt und tragen zu dem asymmetrischen Erscheinungsbild des ganzen Stilllebens bei, indem sie mit ihrer Dunkelheit einen starken Akzent zum rechten Bildrand hin setzen“ (Raabe 1996, S. 48). Auf dem Weinblatt rechts der Aprikose, aber auch zwischen den Äderungen zahlreicher anderer Blätter und auf den Oberflächen weiterer Früchte befinden sich Tautropfen. Sie sind leicht zu übersehen, da sie den Glanzlichtern auf den Früchten ähnlich sind.
Caravaggios Obstbouquet ist ein reines Kunstgebilde, das sich in der Realitat nicht nachstellen lässt, denn die dargebotenen Früchte werden zu ganz unterschiedlichen Jahreszeiten reif: Aprikosen und Feigen im Hochsommer, Weintrauben im Spätherbst, Äpfel dazwischen. Alles Obst ist so detailliert wiedergegeben, dass es sich in erkennbar unterschiedlichen Reifegraden befindet und verschiedene Stadien der Fäulnis und des Verdorrens repräsentiert. Einige Weintrauben nehmen bereits eine dunklere Farbe an; wir sehen welke Blätter, erkennen, wie sie vom Rand her vertrocknen; wir entdecken die beginnenden Fäulnisflecken auf dem Apfel. 
Vor dem Bild verharrend, entsteht der Eindruck, als würden immer mehr braune und dunkle Stellen hinzukommen, ganz so, als wäre der Fäulnisprozess in vollem Gange. Es ist Teil unserer Betrachter-Aufgabe, diesen Prozess weiterzudenken und zu antizipieren (Müller 2020, S. 14). Trotz vermeintlicher Ereignislosigkeit zeigt Caravaggios Bild also vergehende Zeit. Sein Bild „inszeniert Verzeitlichung und beschleunigt Zeit, als sollten die Früchte und Blätter vor unseren Augen verfaulen und vertrocknen wie in einem Zeitraffer (Müller 2020, S. 14). Und der Betrachter soll erkennen, dass nicht nur die verwelkenden Blätter und das vergehende Obst dem Gesetz der nie stillstehenden Zeit unterliegen – sondern auch wir. Und das bedeutet: Wir haben ein Vanitas-Stillleben vor uns.
Caravaggio: Knabe mit Früchtekorb (um 1594); Rom, Galleria Borghese
Caravaggio greift bei seinem Mailänder Stillleben auf das Ensemble zurück, das er bereits für seinen Knaben mit Früchtekorb (um 1594) ersonnen hatte. Aber er monumentalisiert den Korb nun durch die leichte Untersicht; zudem platziert er ihn sehr subtil nach dem Gesetz des Goldenen Schnitts auf der Bildfläche, wie Nevenka Kroschewski gezeigt hat: Der Korb scheint an der vertikalen Mittelachse des Bildes ausgerichtet zu sein, und dennoch ist sein Fuß etwas nach links verrückt. Kroschewski sieht dieses versteckte Kompositionsprinzip in Zusammenhang „mit der christlich-abendländischen Vorstellung von der mathematisch-geometrischen Konstituiertheit der Natur“ (Kroschewski 2002, S. 135). Die verborgene Ordnung des Bildes repräsentiere die innere Struktur der irdisch-materiellen Welt.
Sybille Ebert-Schifferer wiederum verweist auf eine berühmte antike Künstleranekdote, nämlich die des Wettstreits zwischen den beiden Malern Zeuxis und Parrhasios. Zeuxis habe dabei, so berichtet Plinius, so überzeugend Trauben gemalt, dass Vögel herbeiflogen, um daran zu picken. In der stolzen Gewissheit, den Vergleich gewonnen zu haben, verlangte Zeuxis, man möge doch den Vorhang vom Bild seines Kontrahenten entfernen, damit er dessen Werk sehen könne. Beschämt musste er aber feststellen – dass der Vorhang gemalt war.
Plinius überliefert diese Geschichte, um zu verdeutlichen, welchen Grad an Naturnachahmung (Mimesis) die Malerei erreichen kann. Gelingt ihr das vollkommen, wird die Natur selbst – die Vögel – von ihr getäuscht. Parrhasios bringt es sogar zu einer Meisterschaft, die einen Künstler zu täuschen vermag, nämlich seinen Rivalen Zeuxis. Die allseits bekannte Zeuxis-Anekdote des Plinius war vor und noch lange nach Caravaggio der Maßstab für die Fähigkeit eines Malers, die Natur so täuschend nachzuahmen, dass die Wahrnehmung betrogen wird, und sie bildet auch den Ausgangspunkt dafür, „dass derartige Trompe-l’œil-Qualitäten durchweg auf dem Gebiet der Stilllebenmalerei gesucht wurden“ (Ebert-Schifferer 2002, S. 19).
Wenn man Caravaggios Früchtekorb nur genau genug beobachtet, bemerkt man auf dem Bild einen „kleinen Raub“: Einzelne Weinbeeren sind offenbar gepflückt. Beim Pflücken sind Teile der Früchte an den Stengeln hängengeblieben. Da sie noch feucht glänzen, muss der kleine Raub, wie es scheint, gerade eben erst geschehen sein. Dieses Detail bestätigt, dass Caravaggio mit seinem Stillleben auf die Trauben des Zeuxis anspielt. Sybille Ebert-Schifferer sieht in Caravaggios Früchtekorb deswegen einen sehr bewussten Rückgriff auf die Antike: Der Maler, der seit Mitte 1592 in Rom lebte, habe auf diese Weise versucht, sich Käuferkreise zu erschließen, die solche gelehrten Anspielungen erkannte und zu schätzen wussten.
Martin Raspe vermutet, dass es sich bei Caravaggios Früchtekorb um ein Gastgeschenk handelt, vermutlich für den Kardinal del Monte, der den jungen Maler in seinen Palast aufgenommen hatte. Angesichts der detailreichen, virtuosen Wiedergabe der unterschiedlichsten Obstsorten wäre das Gemälde dann eine erste Probe seines überragenden Könnens, um seinem Gönner zu vermitteln, dass er anspruchsvollen Aufträgen gewachsen ist. „Der Obstkorb als Sinnbild appelliert an den gustus des Kardinals, den guten Geschmack, der ihn befähigt, zwischen guter und schlechter Kunst zu unterscheiden. Vielleicht soll das Bild den Kardinal auf geistreiche Weise daran erinnern, dass auch auf die guten Maler das Wort Jesu zutrifft: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Raspe 2013/14, S. 336).
Caravaggio: Emmausmahl (1601); London, National Gallery
Caravaggio schuf 1601 ein Emmausmahl (siehe meinen Post
,Brannte nicht unser Herz?), auf dem erneut ein ganz ähnliches Früchtestilleben abgebildet ist. Der Korb, in dem auf diesem Gemälde das Obst dargeboten wird, stimmt in Form und Flechtart so genau mit dem Mailänder Gegenstück überein, dass man annehmen kann, der Künstler habe beide nach dem gleichen realen Vorbild gemalt. Und auch hier passen die Früchte nicht zur Jahreszeit des Ostertages. Allerdings ist der Korb in Schrägsicht dargestellt, er steht auf dem gedeckten Tisch, über dessen Vorderkante er hinausragt, und sein Verhältnis zum Bildraum ist eindeutig.
 
Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggios Früchtekorb – das früheste Stilleben? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65 (2002), S. 1-23;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 99-102;
Hibbard, Howard: Caravaggio.Thames and Hudson, London 1983, S. 80-85;
Kroschewski, Nevenka: Über das allmähliche Verfertigen der Bilder. Neue Aspekte zu Caravaggio. Scaneg Verlag, München 2002, S. 128-139:
Müller, Jürgen: Die Botschaft des Tautropfens. In: F.A.Z., 03.03.2020, S. 14;
Prater, Andreas: Licht und Farbe bei Caravaggio. Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldunkels. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1992, S. 93-101
Preimesberger, Rudolf: Noch einmal zu Caravaggios Früchtekorb. In: Sebastian Egenhofer u.a. (Hrsg.), Was ist ein Bild? Antwort in Bildern. Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, S. 233-235;

Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien zu Caravaggios römischem Werk. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 46-55;
Raspe, Martin: Caravaggios Obstkorb zwischen Groteske und Galeriebild. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 41 (2013/14), S. 323-340;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 35.

(zuletzt bearbeitet am 20. Januar 2024)