Montag, 30. Januar 2023

Makellos und unversehrt – Agnolo Bronzinos „Heiliger Sebastian“


Agnolo Bronzino: Hl. Sebastian (um 1528/29); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
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Der römische Offizier Sebastian gehört zu den bekanntesten christlichen Märtyrern und meistverehrten katholischen Heiligen. Kaiser Diokletian, zu dessen Leibgarde Sebastian gehörte, ließ ihn wegen seines christlichen Glaubens durch Bogenschützen hinrichten – was der Soldat jedoch, so die Legende, durch ein Wunder Gottes überlebte. Irene, eine junge Witwe, wollte den Toten bestatten, fand ihn aber lebend vor und pflegte ihn gesund. Als Sebastian den Kaiser öffentlich der Christenverfolgung beschuldigte, ließ dieser ihn schließlich zu Tode peitschen und in die „Cloaca Maxima“ werfen, den größten Abwasserkanal Roms. 
Makellos schön und unversehrt zeigt der italienische Maler Agnolo Bronzino (1503–1573) Sebastian als jugendlichen Akt, nahsichtig und ungefesselt in Halbfigur vor dunklem, nicht näher bestimmten Hintergrund. Gezeigt wird also nicht das Pfeilmartyrium des Heiligen, sondern das Wunder seiner göttlichen Errettung. Sein beinahe knabenhaftes Haupt mit dem braun gelockten Haar, dem schlanken, glatten Gesicht und dem leicht geöffneten Mund hat Sebastian in Dreiviertelansicht nach rechts gerichtet; aus großen Augen blickt er versonnen in die Ferne. Die vom Mantel bedeckten Knie deuten an, dass der Jüngling breitbeinig vor uns sitzt, ganz ähnlich dem antiken Torso vom Belvedere (siehe meinen Post „Ruhm und Rätsel“), allerdings mit dem Unterschied, dass die Drehung des Oberkörpers verhaltener ausfällt und die Schulter in die andere Richtung, von links nach rechts abfallend, gewendet ist.
Torso vom Belvedere; Rom, Vatikanische Museen
Der in seiner Seite steckende Pfeil scheint Sebastian nicht im Geringsten zu schmerzen. Den angewinkelten linken Arm stützt er auf dem Knie ab und hält dabei locker einen weiteren Pfeil in der Hand. Dessen Spitze ist auf die andere Hand gerichtet, als wolle er ihre sichtliche Schärfe betasten. Den einzigen, dafür aber umso schrilleren Farbakzent des Gemäldes bildet der pinkfarbene Mantel, der über den Beinen liegt, kunstvoll um den rechten Arm geschlungen ist und schließlich „den gesamten Oberkörper wie eine Folie hinterfängt, dessen geschwungenen Kontur gleichsam wiederholend und betonend“ (Eclercy 2016, S. 141).
In Florenz wurde Sebastian insbesondere in der Kirche Santissima Annunziata verehrt, wo eine Laienbruderschaft, die „Compagnia di San Bastiano“, seinen Kult pflegte. Bronzino war selbst dieser Bruderschaft 1541 beigetreten – ein Zusammenhang mit dem Madrider Gemälde ist deshalb durchaus wahrscheinlich. Auf dem Gelände der Kirche wurde in den 1450er Jahren ein Kapelle errichtet, die eine Armreliquie des Heiligen beherbergte. Bastian Eclercy sieht darin den Schlüssel für Bronzinos Gemälde, das ja gerade „den Arm des Sebastian mit dem Pfeil so prominent inszeniert und dem gläubigen Betrachter am unteren Bildrand förmlich zur Verehrung darbietet“ (Eclercy 2016, S. 142).
Die überaus zahlreichen Sebastian-Darstellungen in der abendländischen Kunst verdanken sich vor allem der kontinuierlichen Präsenz der Pest in Europa seit der großen Epidemie von 1348. Denn Sebastian wurde wie Rochus, Cosmas und Damian als Pestheiliger verehrt und angerufen, weil die Pfeile seines Martyriums als Symbole für diese Seuche galten. Wie bei Bronzino wird der Heilige auf diesen Gemälden oft mit einem besonders schönen, erotisch anziehenden Körper präsentiert. Das kann heutige Betrachter regelrecht irritieren: Sollte es sich wirklich um einen Heiligen handeln? Doch Sebastians Sinnlichkeit beweist geradezu, dass er wirklich lebt. Vor allem ist er durch die Makellosigkeit seines Leibes ein Gegenbild zu dem von der Pest befallenen Körper. Sebastian, der das Pfeilmartyrium durch ein Wunder Gottes überlebt hat, wird „zu einem Versprechen, dass die Gläubigen, selbst wenn sie am schwarzen Tod sterben müssen, einen zeitlosen, überirdischen, makellosen Körper bekommen“ (Bohde 2004, S. 92).
Von der traditionellen Sebastian-Ikonografie übernimmt Bronzino nur die beiden Pfeile – es fehlen Märtyrerpalme und Nimbus, vor allem aber ist der Blick des jungen Mannes nicht himmelwärts gerichtet. Manche Kunstwissenschaftler sehen in den Pfeilen deswegen auch eher die Waffen Armors, von denen der Jüngling verwundet wurde; sie betonen dabei den lasziven Touch der Darstellung, der nicht von der Hand zu weisen ist. Zeigt uns Bronzinos Figur vielleicht eher das „Martyrium der Liebe“ – die süßen Qualen, die Amor verursacht? Diese Überblendung von Pest- und Liebespfeil „dürfte eine eigenmächtige Invention der Malerei sein, welche die Sebastiansbilder von ihrer religiösen Funktion entfernt“ (Bohde 2004, S. 97).
Agnolo Bronzino: Cosimo I. de Medici als Orpheus (um 1539); Philadelphia,
Philadelphia Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken)
Agnolo Bronzino: Jüngling in antiker Tracht (um 1545); Hannover, Landesmuseum
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Dieser erotische Zug des Hl. Sebastian findet sich übrigens in vielen Werken Bronzinos, ungeachtet der kühlen Distanziertheit, die sie ausstrahlen. Das gilt insbesondere für einige seiner männlichen Porträts – wie etwa das Bildnis Cosimos I. de
Medici als Orpheus oder den Jüngling in antiker Tracht aus dem Landesmuseum Hannover. Bei Letzterem wird die Nacktheit des jungen Mannes durch das lässig um die Schultern geschlungene, links verknotete Tuch in leuchtendem Rosa mehr inszeniert als verhüllt – wobei Bronzino die linke Schulter und die halb überschnittene Brustwarze ostentativ freilässt.
Agnolo Bronzino oder Jacopo Pontormo: Der Evangelist Markus (um 1525-1528); Florenz, Santa Felicita
Für die Datierung des Hl. Sebastian ist sicherlich auf die stilistische Verwandtschaft mit den Evangelisten-Tondi der Cappella Capponi in Santa Felicita (Florenz) hinzuweisen, die Bronzino und Jacopo Pontormo (1494–1557) gemeinsam von 1525 bis 1528 ausgeführt hatten. Auch das dortige Altarbild von Pontormo, eine Grabtragung (siehe meinen Post „Grazie im Angesicht des Todes“), wäre anzuführen: Hier weisen vor allem Hände und Gesichter der beiden Grabträger enge Parallelen zu Bronzinos Hl. Sebastian auf.
Ausschnitt aus Jacopo Pontormos Grabtragung (um 1528);
Florenz, Santa Felicita (für die Großansicht einfach anklicken)
 
Literaturhinweise
Bohde, Daniela: Ein Heiliger der Sodomiten? Das erotische Bild des Hl. Sebastian im Cinquecento. In: Mechthild Fend/Marianne Koos (Hrsg.), Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln 2004, S. 79-98;
Cox-Rearick, Janet: A. St. Sebastian by Bronzino. In: The Burlington Magazine 129 (1987), S. 155-162;
Eclercy, Bastian: Agnolo Bronzino, Heiliger Sebastian, um 1528/29. In: Bastian Eclercy (Hrsg.), Maniera. Pontormo, Bronzino und das Florenz der Medici. Prestel Verlag, München 2016, S. 141-142;
Falciani, Carlo (Hrsg.): Bronzino. Artist and Poet at the Court of the Medici. Mandragora, Florenz 2010, S. 296;
Koos, Marianne: Das Martyrium der Liebe. Ambiguität in Dosso Dossis ,Heiligem Sebastian. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 38 (2011), S. 43-73.

(zuletzt bearbeitet am 30. Januar 2023)

Dienstag, 24. Januar 2023

Weihnachtliche Lichtspiele – Albrecht Altdorfers „Geburt Christi“ in Berlin (um 1511)

Albrecht Altdorfer: Geburt Christi (um 1511); Berlin, Gemäldegalerie
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Die Geburt Christi (um 1511 entstanden) ist das früheste bekannte reine Nachtstück von Albrecht Altdorfer (1480–1538) und zählt überhaupt zu den frühesten der europäischen Malerei. Mit nächtlichen Szenen hatte der Künstler bereits in seinem Sebastiansaltar (1509–1516) experimentiert, und zwar in den beiden Tafeln Christus am Ölberg und Gefangennahme Christi, wo allerdings der untere Teil des Himmels noch von einer untergehenden Sonne hell erleuchtet wird.

Das Thema der kleinen Berliner Tafel (36,2 x 26 cm) erkennt man erst auf den zweiten Blick, denn der Stall in Bethlehem ist als labyrinthisches Ruinengebilde dargestellt, das zwei Drittel des Bildraums einnimmt. Das zweigeschossige Gebäude aus roten Ziegelsteinen und braunen Balkenkonstruktionen ist diagonal von hinten nach vorne angelegt, das Mauerwerk läuft in der Verlängerung auf den rechten unteren Bildrand zu. Durch Fensteröffnungen blickt man auf einen verschwimmenden Horizont, und in der rechten vorderen Bildhälfte entdecken wir hinter einem bröckelnden Wandvorsprung unter offenem Himmel, abgeschirmt nur von einem Balken und einer hölzernen Treppe, die eng zusammengerückte Heilige Familie.

Ganz in Blau gekleidet, kniet Maria mit vor der Brust gekreuzten Armen vor ihrem nackten Kind, das ihr von drei geflügelten Putti in einem Tuch gereicht wird. Dabei streckt es seiner Mutter beide Ärmchen entgegen, was in dem hellen Licht kaum zu sehen ist. Hinterfangen ist Maria von dem in Rot gewandeten Joseph, der seine rechte Hand schützend über die Kerzenflamme in seiner Linken hält. Von dieser geht allerdings nur wenig Licht aus, Hauptquelle des Lichts ist das Christuskind, dessen goldenes Strahlen von Marias Antlitz und Haar widerscheint.

Albrecht Altdorfer: Christus am Ölberg (eine der 16 Tafeln
des Sebastiansaltars); Stift St. Florian bei Linz

Hinter Joseph blickt der Esel neugierig auf das Kind; der unbedingt ebenfalls zur Geburt-Jesu-Szenerie gehörige Ochse ist links von dem ruinösen Mauerteil im Vordergrund zu sehen. Die Architekturkulisse insgesamt ist nicht einfach ein pittoreskes Element des Bildes, sondern hat theologische Bedeutung: Der verfallene Stall ist Sinnbild für eine vergangene Epoche, die mit der Geburt des Erlösers ihr Ende gefunden hat. Un dem damaligen betrachter bekannt war ohne Frage die Vision der hl. Birgitta von Schweden (1303–1373), der zufolge von dem Jesuskind ein göttlicher Glanz ausging, der alles irdische Licht überstrahlte.

Über der Heiligen Familie schwebt im schwarzen Nachthimmel ein Reigen geflügelter Putten, die mit ihren Fingern die Buchstaben eines Spruchbandes nachzeichnet. Ganz hinten im Bild sind zwei weitere Lichtquellen eingefügt: oben links, im Osten also, ein großes, sonnenartiges Gebilde, unter dem der Himmel aufzureißen scheint. Es dürfte sich um Gottvater selbst handeln, der in einer strahlenden Gloriole gegenwärtig ist. Ihr gleißendes Licht spiegelt sich auf den Balken der Ruine „und liegt in feinen Reflexbändchen in den Fugen des Mauerwerke“ (Krichbaum 1978, S. 124/125). In dem offenen Himmel erscheint ein winziger rötlicher Putto, der wohl den Hirten, die schemenhaft im Schatten des mittleren Durchblicks sichtbar werden, den Weg weist.

Altdorfer hat sein Weihnachtsbild in einem phantastisch anmutenden Setting aus Architektur und dramatischen Beleuchtungseffekten inszeniert. Gerade das kleine Format der Tafel verlangt, sie sehr genau in den Blick zu nehmen, um die erzählerischen Elemente zu erkennen und alle Feinheiten wahrzunehmen.

 

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010, S. 254;

Krichbaum, Jörg: Albrecht Altdorfer. Meister der Alexanderschlacht. DuMont Buchverlag, Köln 1978, S. 124-125;

Roller, Stefan/Sander, Jochen (Hrsg.): Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500. Hirmer Verlag, München 2014, S. 154.


Samstag, 7. Januar 2023

Oh là là! – Rembrandts Radierungen „Das französische Bett“ und „Der Mönch im Kornfeld“

Rembrandt: Das französische Bett (1646); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Erotische Darstellungen, die den Liebesakt in aller Offenheit wiedergaben, waren in der durchweg von strengen Moralbegriffen geprägten Kunst des niederländischen 17. Jahrhunderts eine Seltenheit. Weit verbreitet waren dagegen verspielte Liebesszenen. Eine große Ausnahme bildet eine 1646 datierte, ebenso seltene wie kleinformatige Radierung von Rembrandt mit dem traditionellen Titel Das französische Bett (12,5 x 22,4 cm) – der jedoch deren eindeutigen Inhalt behutsam verschleiert. Als alternativer Titel ist auch Ledikant verbreitet (niederl. für Bett, Bettgestell). Thematische Anregungen zu dieser Sexszene empfing Rembrandt zweifellos aus der italienischen Kunst. In seiner Sammlung befand sich, der Inventarliste von 1656 zufolge, ein Album mit Darstellungen von „Boelering“, im 17. Jahrhundert ein niederländischer Sammelbegriff für Obszönitäten. Darin enthalten waren vor allem Liebesakt-Szenen italienischer Künstler, die sich nicht nur durch große Offenheit, sondern auch durch komplizierte Körperstellungen auszeichnen.

Doch Rembrandts Interpretation eines Beischlafs ist von den raffinierten Posen und dem oft akrobatischen Körperspiel der italienischen Vorbilder weit entfernt. Der sexuelle Akt wird bei ihm nicht mythologisch verklärt, kein Gott in was auch immer für einer Verkleidung erscheint, wir haben auch keinen idealisierten weiblichen Akt und keine antikisierende Umgebung vor uns, „nein; ein Junge, ein Mädchen, im Bett, in häuslicher Umgebung“ (Hammer-Tugendhat 2009, S. 151). Klassische Nacktheit interessierte Rembrandt nicht; seine beiden Liebenden haben ihre Kleidung nicht abgelegt.

Der Sex, den Rembrandt hier wiedergibt, erscheint lustvoll und erinnert keineswegs an wenig erfreuliche „eheliche Pflichten“. Gleichberechtigt kommen Mann und Frau ins Bild, es geht nicht um Verführung und nicht um Vergewaltigung. „Die intime Szene ist durch große atmosphärische Geborgenheit gekennzeichnet, wobei der genießende Gesichtsausdruck der Frau im Fokus steht“ (Schröder/Bisanz-Prakken 2004, S. 146). Ob der Mann zum Haus gehört, oder ob es sich um einen (illegitimen?) Besucher von draußen handelt, was zumindest der Federhut und die vage Türöffnung am linken Bildrand nahelegen, muss offen bleiben.

Die Vorhänge, die das Bettgestell umgeben, sind mit tiefen Schatten versehen; einen auffälligen Akzent bildet das bereits erwähnte, auf dem vorderen Bettpfosten abgelegte Barett mit der großen, weichen Feder. Da dieses Accessoire häufig in Bordelldarstellungen mit dem Gleichnis vom Verlorenen Sohn verbunden ist (Lukas 15,1-14), geht Werner Busch davon aus, dass auch Das französische Bett auf diese Geschichte Bezug nimmt. Auch das auf das Tischchen rechts gestellte Glas sei ein Standardattribut des Verlorenes Sohnes im Freudenhaus – es verweist auf Alkoholkonsum und damit symbolisch auf die Genusssucht des jungen Mannes, die seinen sozialen Ruin bedeuten wird. Busch gesteht jedoch ein, dass durch Rembrandts Darstellung der lustvollen Zweisamkeit „die didaktische Verwertbarkeit der Szene entfällt“ (Busch 1983, S. 262). Möglicherweise ist eine doppelte Lesart des Blattes von Rembrandt durchaus beabsichtigt, weil er dem Betrachter auf diese Weise erlaubt, den erotischen Kitzel der Szene zu goutieren. Der Bettpfosten ist im Übrigen wohl auch deswegen so prominent platziert, um auf die Erektion des jungen Mannes anzuspielen ...

Wem es noch nicht aufgefallen ist, sei jetzt darauf hingewiesen: Rembrandt hat den linken Frauenarm zweifach ausgeführt. Ob es sich dabei um einen Fehler handelt oder gleichzeitig zwei Bewegungsphasen wiedergegeben sind, ist unklar. Jedenfalls hat der Künstler diesen „Fehler“ in späteren Zuständen der Druckplatte nicht korrigiert.

Rembrandt: Der Mönch im Kornfeld (1646); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Szene Der Mönch im Kornfeld gehört ebenso wie Das französische Bett zu den freizügigen Darstellungen in Rembrandts druckgrafischem Œuvre. Aufgrund der feinen, teilweise mit der Kaltnadel gezeichneten Linien war die Auflage dieser miniaturhaften Radierung (4,7 x 6,6 cm) gering; entsprechend selten sind die erhaltenen Drucke. Inspiriert wurde die Szene durch ein Blatt des deutschen Kupferstechers Heinrich Aldegrever (1502–1562), Der Mönch und die Nonne mit dem Teufel im Baum, das im 16. und 17. Jahrhundert viele Künstler kopierten. Rembrandts Grafik konzentriert sich auf das Liebespaar, dessen Beischlaf in die schützende Dichte eines reifen Kornfeldes versetzt ist; links im Hintergrund ist ein ahnungsloser Mann bereits mit dem Mähen beschäftigt. Außerdem ersetzt Rembrandt die Nonne durch ein Milchmädchen, was durch das links am Boden stehenden Milchfass angedeutet wird. Die beiden Figuren entsprechen typologisch einer längeren Tradition: Seit dem Mittelalter ist der Mönch in der Literatur wie in der bildenden Kunst immer wieder in einem erotischen Kontext anzutreffen (verwiesen sei nur auf Giovanni Boccaccios Decamerone, entstanden zwischen 1349 und 1354); das Milchmädchen war seit jeher mit dem Ruf einer großen erotischen Freizügigkeit behaftet.

Anders als im Französischen Bett sind die Gesichter des nah an den Betrachter herangerückten Paares im Kornfeld nicht zu erkennen. Das trägt dazu bei, dass der Sex wie ein spröder und emotionsloser Vorgang wirkt; dagegen entfalte, so Wolf Seiter, die im Französischen Bett „erkennbare Nähe der Nasenspitzen von Mann und Frau sinnliche Kraft und emotionale Nähe“ (Seiter 2017, S. 124). Seiter geht davon aus, dass Der Mönch im Kornfeld früher als Das französische Bett entstanden ist und dieser Radierung als Vorlage diente: So sei vielleicht doch der doppelte Arm zu erklären – Rembrandt habe den Arm zunächst aus dem Vorbild kopiert, „jedoch im Nachgang einen zweiten um die Hüfte des Mannes gelegt, um den Eindruck der Vereinigung beider Figuren zu intensivieren“ (Seiter 2017, S. 124).

Trotz des extrem kleinen Formats besticht Der Mönch im Kornfeld durch realistische Details wie die geballten Fäuste und die sich in die Erde bohrende Zehe des Mönchs, dessen Sandalen sich von den Fußsohlen abheben; neben ihm auf dem Boden liegt seine Bibel. Ganz barfüßig präsentiert sich die Frau, deren umgekehrter Schuh auffällig im Vordergrund sichtbar ist – ein traditioneller Hinweis auf ihre erotische Aktivität.

Rembrandts Radierung bietet aber über die frivole Darstellung hinaus sowohl eine humorvolle wie auch eine allegorische Facette: Denn mit jedem Sensenhieb entlang der Mähkante rückt der Schnitter im Hintergrund näher an das Liebespaar im Vordergrund heran – er wird sie unweigerlich entdecken, das ungestörte Treiben ein jähes Ende finden. Damit verbindet sich auch der Ernst dieser Szene: Seit alter Zeit gehört die Sense als allegorisches Attribut zur Bildwelt des Todes. Damit integriert Rembrandt den alten Topos des über die fleischliche Lust triumphierenden Todes in seine Grafik. Mit der Sensensymbolik und dem Liebespaar wird eine ältere Tradition der Memento mori-Darstellungen aufgegriffen: Mitten im Leben, gerade auch in seinen ekstatischen Momenten, sind wir vom Tod umgeben ... Eine unmissverständliche Darstellung dieser Mahnung findet sich zum Beispiel bei Hans Sebald Beham (1500–1550) auf seinem Kupferstich Der Tod und das unzüchtige Paar von 1529 (8,1 x 4,8 cm). 

Hans Sebald Beham: Der Tod und das unzüchtige Paar (1529);
Kupferstich
Rembrandts Kunstgriff besteht darin, den in nur wenigen Strichen angdeuteten Schnitter und seine Todessymbolik ganz in den Hintergrund treten zu lassen und den sexuellen Akt überdeutlich auszustellen. Die Verbindung der beiden Motive zu erkennen, bleibt Aufgabe des sorgfältigen Betrachters. Aber man darf davon ausgehen, dass die Radierung wegen ihrer Expliziertheit wohl öfter in die Hand genommen und mit der Lupe untersucht wurde ...

 

Literaturhinweise

Busch, Werner: Rembrandts ‘Ledikant’ – der Verlorene Sohn im Bett. In: Oud Holland 97 (1983), S. 257-265;

Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 149-154;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 146;

Seiter, Wolf: Der Mönch im Kornfeld (1646)/Ledikant oder Das französische Bett (1646). In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 122-125.


Donnerstag, 5. Januar 2023

Der unvollständige Leidensweg – die „Karlsruher Passion“

Meister der Karlsruher Passion: Gefangennahme Christi (um 1450); Köln,
Wallraf-Richartz-Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
In der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe befinden sich sechs spätgotische Tafeln mit Szenen aus der Passionsgeschichte Christi, die zum Besten zählen, was die nordalpine Malerei um 1450 hervorgebracht hat. Wir kennen allerdings den Künstler nicht, deswegen wurde ihm der Notname „Meister der Karlsruher Passion“ gegeben, eine in der Kunstgeschichte durchaus übliche Praxis. Eine siebte Tafel gelangte 1859 in das Wallraf-Richartz-Museum nach Köln. Diese sieben Gemälde bilden das gesamte überlieferte Werk dieses Meisters, den manche Forscher mit dem Straßburger Künstler Hans Hirtz identifizieren. Allerdings gibt es für diese These bislang keine Belege.
Die sieben Szenen in Karlsruhe und Köln zeigen Jesu Gebet am Ölberg, Gefangennahme und Fortführung aus dem Garten Gethsemane, Geißelung, Dornenkrönung und Verspottung sowie Kreuztragung, Entkleidung und Annagelung Christi. Gerühmt werden sie vor allem wegen ihrer ungemein packenden Darstellung der Passionsgeschichte. Der Meister hat dafür gedrängte Kompositionen gewählt, die den Figuren nur wenig Handlungsraum geben und in denen Durchblicke in tiefere Bildzonen nur vereinzelt vorkommen. Auf der zweiten bis siebten Tafel sind dem klaglos duldenden Menschensohn die Kriegsknechte und Schergen gegenübergestellt, die mit wilden Mienen und Gesten Jesus mitleidlos und roh festnehmen, misshandeln und schließlich ans Kreuz nageln. Dabei hat der Künstler viele Bilddetails mit großer Genauigkeit dargestellt, seien es Kostüme, Rüstungen, Waffen, Frisuren oder sonstige Gegenstände. Und als „Schilderer des anbrechenden Tages oder des gleißenden Mondlichts ist er ein Maler atmosphärischer Lichtstimmungen und gleitender Übergänge von Nacht zu Tag, denen in der deutschen Kunst seiner Zeit kaum etwas Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann“ (Lüdke 1996, S. 10).
Die sieben Tafeln des Karlsruher Passion gehören sehr wahrscheinlich zu einem größeren, aus vielen Feldern bestehenden Schaubild, das die Leiden Christi in einem umfangreichen Zyklus vor Augen führte. Die überlieferten Gemälde stellen nur Szenen dar, die zeitlich vor der Aufrichtung des Kreuzes liegen. Bei einer anzunehmenden umfangreicheren Passionsfolge von zwölf, dreizehn oder noch mehr Einzelszenen müssten im Anschluss an die Annagelung Jesu außer der unverzichtbaren Kreuzigung noch mindestens zwei oder mehr Darstellungen folgen. Zu ihnen könnten beispielsweise die Kreuzabnahme und Grablegung, die drei Frauen am Grab und die Auferstehung, das „Noli me tangere“, die Himmelfahrt, die Ausgießung des Heiligen Geistes oder gar das Jüngste Gericht gehören.
Judas macht sich vom Acker
Sechs der sieben erhaltenen Gemälde seien hier eingehender vorgestellt. Über die Gefangennahme Christi berichten alle vier Evangelisten ausführlich (Matthäus 26,47-56; Markus 14, 45-52; Lukas 22, 47-53; Johannes 18, 2-11). Auf der Kölner Tafel ist um Christus herum ein wüstes Gedränge, ja ein regelrechter Tumult entstanden. Schreiend und gestikulierend sind bewaffnete Soldaten in blinkenden Rüstungen und Schergen mit lodernden Fackeln in den Garten Gethsemane eingedrungen, um sich auf ihr Opfer zu stürzen. Christus ist bereits mit dicken Stricken dreifach um Hals, Handgelenke und Leib gebunden, wird malträtiert und gestoßen. „Seine gekrümmte Haltung, die vorgestreckten Arme, die stark gebeugten Knie und die Stellung seines zurückgesetzten linken Fußes deuten darauf hin, daß er nicht im Fallen gezeigt wird, sondern zu einem späteren Augenblick, in dem der Überwältigte und zu Boden Gestürzte wieder hochgerissen, zum Gehen angetrieben und fortgezerrt wird“ (Lüdke 1996, S. 41).
Daran sind vier grobe, hässliche Henkersknechte beteiligt: Einer von ihnen, der wie ein grimmiger Schlächter wirkt, trägt einen hellen Lederkoller sowie einen Eisenhut mit -kragen. Er schreitet nach rechts voran, hat dabei Christus am Halsausschnitt des Gewandes gepackt und reißt ihn hoch, während er mit der anderen Hand das Ende eines um Jesu Hals gebundenen Stricks hält. Links vorne hat ein Kleinwüchsiger mit Strohhelm Christus von hinten am Rock gepackt, während er mit seiner Linken an dem Seil zieht, mit dem die Handgelenke Jesu gefesselt sind. Vorne rechts ist der dritte Knecht zu sehen: Er eilt ebenfalls nach rechts aus dem Bild heraus, dreht sich aber zu dem Gefangenen um (wobei sich sein Oberkörper 180 Grad um die eigene Achse schraubt) und zieht an dem um Christi Leib gelegten dritten Strick. Zugleich spuckt der Scherge über seine hochgezogene Schulter hinweg Jesus in das große, von Blut und Schweiß überströmte Antlitz. Der vierte, bis an die Zähne in einer Rüstung steckende Soldat stürzt von hinten auf Christus zu und schlägt ihm von oben mit der Faust auf die Schulter, um den Gefesselten anzutreiben. Solcherart umzingelt und von allen Seiten bedrängt, „gleicht Christus einem von wilden Bestien gestellten und sich duckenden Tier, das ohne Wehr ist und sich nicht mehr auf allen Vieren halten kann“ (Lüdke 1996, S. 41)
Hinter dieser Gruppe in der vorderen Bildebene ragt eine undurchdringliche Wand aus Köpfen, Leibern und Gliedern auf. Es ist der wüste Haufen derer, die an Christi Gefangennahme beteiligt sind – gestikulierende, glotzende, fluchende und wie von Panik ergriffene Soldaten und Knechte. In diesem komponierten Chaos sind oben rechts vier Männer und auf gleicher Höhe ganz links eine einzelne Person hervorgehoben. Es ist zum einen der von hinten gesehene Judas mit rotem Bart und struppigem Haar, der in seiner Rechten einen Beutel mit den 30 Silberlingen hält (Matthäus 26,14-16). Flüchtend blickt er nochmals zurück auf den Tumult hinter bzw. unter sich. Die Richtung, in die er flieht, ist der entgegengesetzt, in die Christus abgeführt wird. Innerhalb der Komposition bildet der Kopf des Judas den Gegenpol zum Haupt Jesu. Die Köpfe der beiden liegen auf einer Bilddiagonalen, die auch durch den ausgestreckten rechten Arm Christi betont wird.
Senkrecht über dem Haupt Christi, das tiefer als alle anderen Köpfe angeordnet ist, erscheint nahe dem oberen Bildrand das kugelige Gesicht des weißhaarigen Petrus. Wird Christus unten nach rechts fortgerissen, so wirft sich Petrus oben mit weit vorgestreckten Armen nach links in die Menge. Er hat den Laternenträger Malchus, einen Knecht des Hohepriesters Kaiphas, beim Gewand gepackt und schlägt ihn in eben diesem Moment mit einem kurzen Schwert das rechte Ohr ab – vergeblich versuchen zwei Soldaten, ihn davon abzuhalten.
Auf der Kölner Tafel werden drei Begebenheiten so wiedergegeben, als ereigneten sie sich im selben Augenblick: die in keinem Evangelium erwähnte Flucht des Judas, nachdem er Christus mit einem Kuss verraten hat, der Schwertstreich des Petrus und die Gefangennahme Jesu. Der umzingelte und gebundene Sohn Gottes scheint allerdings nicht mehr fähig zu sein, Malchus das abgeschlagene Ohr wieder anzusetzen und Petrus aufzufordern, das Schwert wieder einzustecken, wie in der Bibel berichtet wird (Lukas 22,50-51).
Zeitpunkt der Gefangennahme ist der anbrechende Tag, obwohl der abnehmende Mond noch hoch am blauen Himmel steht und die Szenerie erhellt. Er ist als gelbe Sichel inmitten eines großen, weiß flimmernden Hofs dargestellt; in seinem kühlen Licht blinken und blitzen die Rüstungen der Häscher. Noch stehen die Sterne am Himmel, die zeichenhaft mit acht Zacken wiedergegeben sind, wie es zu dieser Zeit üblich ist.
Mit größter Sorgfalt schildert der Maler die Rüstungen, Schwerter, Keulen und anderen Folterwerkzeuge der zusammengewürfelten Rotte, die im Auftrag des jüdischen Hohen Rates über Christus herfallen. „Dies wirkt wie eine Rückverwandlung der Arma Christi-Bilder, das heißt der Abbildung aller Waffen, Marterinstrumente und Qualen, die Christus erlitt, in eine Erzählung“ (Suckale 1990, S. 25). Menschen, die an Arma Christi-Bilder gewohnt waren, haben diese Anspielungen verstanden.
Mit der Gefangennahme Jesu beginnt der eigentliche, im Gebet am Ölberg bereits im Geist durchlebte Leidensweg Christi, der nach Golgatha führt und mit dem Tod am Kreuz endet. Auf diesen nah bevorstehenden Tod verweist der abgestorbene Baum, an dessen Ästen nur noch wenige Blättchen hängen. Zwischen Malchus und Petrus angeordnet und über alle Köpfe hinausragend, markiert er mit seinem Stamm die senkrechte Achse über dem gebeugten Christus. Verlängerte man seinen Stamm nach unten, so träfe er genau auf den Nacken des Gefangenen und auf die Faust seines brutalen Peinigers, der Jesus bereits die Schlinge – ein weiteres Todessymbol – um den Hals gelegt hat. Über Christus hinweg ertönt auch das Signal zum Aufbruch auf den todbringenden Passionsweg. Denn unmittelbar hinter den vier Schergen um Jesus sehen wir einen Mann, der eine bizarr geformte Busine oder Trompete bläst, die in zwei Schalltrichtern ausläuft. Es handelt sich um ein Phantasieinstrument und wirkt so fremdartig wie die grüne, perückenartige Kappe des Bläsers. Die Figur kehrt noch einmal auf der Karlsruher Tafel mit der Kreuztragung Christi wieder.
Meister der Karlsruher Passion: Geißelung Christi (um 1450); Karlsruhe,
Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Drei der vier Evangelisten erwähnen die Geißelung Christi (Matthäus 27,26; Markus 15,15; Johannes 19,1). Auf der Tafel der Karlsruher Passion steht der bis auf ein Lendentuch entblößte Christus blutüberströmt vor einer Steinsäule, an die er gebunden wurde. In seiner Folterpein ist er ganz den Blicken des Betrachters preisgegeben und fordert zur compassio auf, der nachempfindenden Anteilnahme an seinem Leid. Der Gemarterte ist das Zentrum der Komposition, deren Mittelsenkrechte der grünen Säule entspricht. Sie stützt die flache Decke in einem niedrigen Raum des Prätoriums, in dem die Geißelung stattfindet. Die Arme Christi sind nach hinten um die Säule gezogen und wohl an den Handgelenken gefesselt. Auch seine Beine sind am unteren Säulenschaft mit einer doppelten Seilschlinge festgebunden, die von einem Schergen mit einem Stab festgezurrt wird.
Obgleich sich Christus kaum bewegen und den Ruten- und Geißelhieben nicht ausweichen kann, windet er sich vor Schmerz, sodass der ganze Körper, der an Armen, Schultern und Waden wie mit der Säulentrommel verwachsen erscheint, wie eine figura serpentinata in spiralig aufsteigender Drehung gezeigt ist. Während die Füße und die gebeugten Knie nach rechts weisen, sind die Oberschenkel und der Leib schräg nach links gerichtet. Zu dieser Seite neigt sich auch das große lichtumstrahlte Haupt so stark, dass Kinn und halbe Wange der rechten Gesichtshälfte die Schultern berühren und die sonst anliegenden Haare links in Strähnen senkrecht herunterhängen. Das von Qual und Ergebenheit gezeichnete Gesicht ist in Dreiviertelansicht zu sehen, der Blick wie abwesend nach innen gerichtet. Dem geschlossenen Mund entweicht keine Klage. In langen Bahnen läuft das Blut über den schlanken Körper, rinnt an den Beinen herab und sammelt sich in kleinen Lachen um Jesu Füße.
Fünf Peiniger beteiligen sich an der Tortur. Zusammen mit Pilatus und einem zweiten Augenzeugen sind sie in radialer Ausrichtung um den Gegeißelten herum angeordnet. Jeder ist individuell gekleidet und charakterisiert; auch durch ihre Gesten und Körperdrehungen unterscheiden sie sich voneinander. Auf der linken Seite sind drei Folterknechte hinter- und übereinander gestaffelt. Einer hockt ganz vorne am Boden, hat seine Dornenrute beiseite gelegt und knebelt Christi Beine; er fällt durch seine modischen, eng anliegenden Kleider auf, in denen er noch einmal auf der Tafel mit der Dornenkrönung Christi auftaucht. Dies trifft auch auf den zweiten Schergen mit dem Fellwams zu, der neben dem Hockenden steht. Er beugt sich leicht vor, macht einen Ausfallschritt auf Christus zu und versetzt ihm mit der Dornenrute, die er mit beiden Händen hält, einen Schlag auf den Leib. Der dritte Henker steht hinter Christus; mit weit ausholenden Armen und um die eigene Achse gedrehtem Körper schwingt er eine Geißel über seinen Kopf, um den Wehrlosen zu peitschen.
Gegenüber dem knebelnden Knecht sitzt auf der Treppe, die in einen Nebenraum führt, ein hässlicher, nur dürftig bekleideter Scherge; er lehnt sich zurück, trinkt aus einem Becher und hält in der anderen Hand eine Kanne. Er scheint sich eine Pause zu gönnen und zwischendurch zu stärken; seine Geißel lehnt neben ihm an einer Stufe. Der fünfte Folterer ist ein auffällig gekleideter Kahlkopf, der ebenfalls nochmals in der Szene mit der Dornenkrönung Christi vorkommt. Er hat seine grausame Arbeit unterbrochen, sich von seinem Opfer abgewendet und legt die Linke, in der er die Geißel hält, auf seinen Rücken. In Schrittstellung steht er dabei auf den Treppenstufen und stützt sich im Vorbeugen mit der Rechten gegen einen Pfosten der Tür, in der Pilatus erscheint. Dieser ist an seinem spitzen Hut mit breiter Krempe und dem auffällig gemusterten Gewand zu erkennen, mit denen er auch in der Dornenkrönung Christi gezeigt wird. Pilatus beugt sich zu seinem Knecht herab, legt seine Rechte auf dessen Schulter und zieht ihn nah zu sich heran, um ihm etwas zuzuflüstern.
Meister der Karlsruher Passion: Dornenkrönung Christi (um 1450), Karlsruhe,
Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Dornenkrönung Christi (Matthäus 27,27-30) findet auf der Karlsruher Tafel ebenfalls in Gegenwart von Pilatus statt, im ummauerten Hof des römischen Prätoriums und unter freiem Himmel. Jesus ist in einen faltenreichen Mantel gehüllt und trägt ein weißes Untergewand, das ihm der jüdische Herrscher Herodes Antipas anlegen ließ, nachdem er ihn verhört hatte (Lukas 23,11). Mit hängenden Schultern sitzt Christus auf einem hölzernen Schemel, von dem nur zwei Pfosten zu sehen sind. Der geschmähte Heiland hat sein mildes, trauriges und zur Seite geneigtes Antlitz dem Betrachter zugewandt, seine Augen aber niedergeschlagen. Entsprechend des mittelalterlichen Bedeutungsmaßstabs ist sein Kopf größer als der aller anderen abgebildeten Personen. Klaglos erduldet Christus die ebenso schmerzhafte wie schmachvolle Dornenkrönung.
In drastischem Gegensatz dazu agieren seine hasserfüllten, grausamen Peiniger, die in einem Kreis um den Verhöhnten angeordnet sind und von allen Seiten auf ihn eindringen. Es sind fünf Schergen, die ihrem Opfer die Dornenkrone auf das Haupt und in die Stirn pressen, sodass das Blut in dicken Tropfen über das bleiche Antlitz rinnt. Vorne rechts sehen wir einen Knecht, der schon an der Geißelung Christi beteiligt war, worauf seine Kleidung und die Rute an seinem Gürtel hinweisen. Er hat sich eine Binde um den geschorenen Kopf geschlungen und trägt ein aus rechteckigen Pelzstücken zusammengesetztes Wams. Roh packt er Christus am Halsausschnitt seines Untergewandes und spuckt ihm ins Gesicht. Hinter ihm steht ein bärtiger Mann, der als Einziger der fünf Schergen eine Rüstung trägt, einen Harnisch aus zusammengenieteten Lederplatten. Er reißt Christus an den Haaren, wie das Anspucken eine oft dargestellte Form der Peinigung.
Diese beiden Folterknechte haben einen langen, über Christi Haupt liegenden Prügel ergriffen, mit dem sie den Dornenkranz auf den Kopf ihres Opfers drücken. Das andere Ende des Stabs hat ein weiterer Büttel gepackt, der links von Christus platziert ist. Er trägt eng anliegende, modische Kleider, in denen er schon bei der Geißelung in Erscheinung tritt und die noch einmal ähnlich bei einem Schergen der Annagelung vorkommt. Dieser Stutzer kniet auf einer der niedrigen Mauern, die den Portikus zum Prätorium flankieren, und klammert sich zum besseren Halt um eine der zierlichen Säulen.
Der vierte Scherge hilft bei der Spottkrönung, indem er unmittelbar hinter Christus mit zwei kurzen Knüppeln das Dornengeflecht von oben niederpresst. Seine auffällige Kappe, deren Krempe aus zungenförmigen Teilen besteht und die schon in der Gefangennahme vorkommt, wirkt wie ein große Blütenkrone. Sie steht in bizarem Kontrast zu dem Stachelkranz auf Jesu Haupt, der dem spitzigen Astwerk des abgestorbenen Baumes gleicht, die hinter der Hofmauer aufragt. 
Klagloses Erdulden der ebenso schmerz- wie schmachvollen Peinigung
Hervorgehoben unter den Schergen ist ein kahlköpfiger, halb von hinten zu sehender Mann, der vor Christus am Boden kniet. Er schiebt dem Verhöhnten ein Schilfrohr als Spottzepter in die kraftlose rechte Hand der überkreuzt auf den Knien liegenden Arme. Der Kahlköpfige hat seine fellartige Kappe zum Gruß abgezogen, wirft im Aufblicken zu Christus den Kopf in den Nacken und scheint hämische Worte auszustoßen. Er trägt einen grünen Koller mit gezaddelten Säumen und enge rote Beinlinge mit weißen Applikationen an den Unterschenkeln, die wie aus seinen schwarzen Lederschuhen züngelnde Flammen wirken. Wir kennen diesen Schergen bereits aus der Geißelung, wo er sich Pilatus zuwendet. Auch in der Dornenkrönung ist er nicht weit von dem Richter entfernt.
Als schräg nach rechts aufsteigende Rückenfigur lenkt dieser Scherge die Blicke von der linken Seite auf Christus, der das in die rechte Hälfte verschobene Zentrum der Komposition bildet. Ihre Mittelsenkrechte wird durch die rechte Säule des Portikus markiert, die nach unten verlängert auf den Kopf des Knienden trifft. Dessen afrikanisch anmutenden Gesichtszüge kennzeichnen ihn zusammen mit seinem dunklerem Inkarnat als Fremden oder Heiden. „Als Hinweis darauf, daß dieser Scherge innerlich verrottet und sterblich, verblendet und unerlöst ist, dient die Schwäre auf seinem kahlen Kopf, auf der eine Fliege, ein Symbol des Todes sitzt (Lüdke 1996, S. 68).
Gleich neben dem Portal zum Prätorium hat der bärtige Pilatus auf einer der niedrigen Mauern wie unter einem überdachten Säulenthron Platz genommen und verfolgt die Dornenkrönung Christi. Er trägt einen spitzen Hut mit vorne hochgeklappter Krempe und ein pelzverbrämtes, langes Brokatgewand, an dem er auch auf der Geißelung zu erkennen ist. Sein Kopf erscheint im Profil und ist Christus zugewandt. Pilatus spricht mit einem offensichtlich wohlhabenden Mann neben ihm: Er ist mit einer Sendelbinde, einem langen, pelzbesetzten Rock und einer reich verzierten Gürteltasche bekleidet. Der Mann blickt auf Pilatus, hält ein gerolltes Schriftstück in der Hand und scheint an den Fingern seiner Hände Argumente aufzuzählen. Sein Gesicht weist keinerlei karikierenden Züge auf – möglicherweise ist Nikodemus gemeint, ein Sympathisant Jesu (Johannes 7,50-52; 19,39).
Weitere Zuschauer der Dornenkrönung sind die beiden Männer, die hinter Nikodemus aus dem Palasttor treten, sowie ein teilweise vom rechten Bildrand überschnittener Mann mit spitzem Krempenhut. Wie Christus aus der Nähe von allen Seiten attackiert wird, so wird seine Peinigung auch von entfernten Orten, von oben und unten mit Blicken verfolgt, z. B. vom Balkon des Portikus, über dessen Brüstung sich ein alter Mann und eine Frau beugen. Letztere trägt einen Turban mit Kinnbinde, wie sie etwa seit 1430 als Kopfbedeckung in der niederländischen und deutschen Malerei vorkommt. Es dürfte sich wohl um die Frau des Pilatus handeln (Matthäus 27,19). Zwei andere Schaulustige tauchen am oberen Bildrand auf; sie lehnen sich über die hohe Mauer und blicken  in den Hof hinab. Der rechte hat dafür eine Leiter zur Hilfe genommen; der zweite hat den verdorrten Baum erklommen, der jenseits der Mauer und oberhalb von Christi Haupt aufragt, ganz ähnlich wie auf der Gefangennahme.
Meister der Karlsruher Passion: Kreuztragung Christi (um 1450); Karlsruhe,
Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Kreuztragung Christi wird in den vier Evangelien zwar nur kurz erwähnt (Matthäus 27,31-43; Markus 15,20-21; Lukas 23, 26-62; Johannes 19,17), sie gehört aber wie das Gebet am Ölberg, die Geißelung und Dornenkrönung zu den wichtigsten Themen der christlichen Kunst. Auf der Karlsruher Tafel ist Christus größer als alle anderen Personen und im Zentrum der Komposition dargestellt, niedergedrückt von der Last des ihm aufgebürdeten Kreuzes. Jesu Knie sind gebeugt, die Beine scheinen stolpernd zu schwanken. Seinen Kopf hat er in den Nacken geworfen, um die glattgehobelten, scharfkantigen Balken abzustützen; dabei ist sein blutbeflecktes Gesicht im Dreiviertelprofil zu sehen. Er blickt genau in dem Moment auf, in dem er an seiner Mutter vorbeikommt – Maria, begleitet von Johannes und einer weiteren, durch einen Nimbus ausgezeichneten Frau, beugt sich ihm mitleidvoll und schmerzerfüllt zu. „Ihre geschlossenen Münder deuten an, daß sie vor Leid und Erschütterung nichts sagen können“ (Lüdke 1996, S. 75).
Die Kriegsknechte der Hohepriester haben Christus ein Seil um den Leib gebunden; einer der Schergen, der energisch ausschreitend die Spitze des Zuges bildet, hat es sich über die Schulter gelegt und zieht den Gefangenen damit voran. Auch von hinten wird Jesus von einem Soldaten in Rüstung durch einen Stoß mit dem Keulenschaft seines Streithammers angetrieben. Dicht hinter Christus ist Simon von Kyrene zu sehen, der gewungen wird, das Kreuz des Erschöpften zu tragen (Matthäus 27,32). Neben dem Sohn Gottes wirkt er wie ein Zwergenwüchsiger. Er heftet seine Blicke auf den Heiland, umfasst das lange Ende des Kreuzes und hebt es an. „Dadurch verlagert sich der Schub der Bürde nach vorne und zugleich vergrößert sich die Last auf Christi Schultern, was ein weiterer Grund für sein Straucheln sein mag“ (Lüdke 1996, S. 76).

Hinter diesen fünf Personen in der ersten Zone der Komposition drängen sich, zu einer Mauer verdichtet, die Soldaten des Hohepriesters, allesamt in Rüstung. Von den meisten sind nur die Köpfe oder gar die blinkenden Eisenhelme zu sehen. Die Männer sind schwer bewaffnet mit Spießen, Helmbarten, Streithämmern und -äxten sowie mit einer Gabel und einem Morgenstern. Diese in den Himmel ragenden Mordwerkzeuge kehren wie Leitmotive der Passion und des Todes auch auf den Karlsruher Tafeln der Entkleidung Christi und der Kreuzannagelung wieder.

Der Helm ist über die Augen gerutscht: Sinnbild für die Blindheit des Schergen

Den Soldaten voran gehen zwei Männer: Etwas weiter hinten ein Hornbläser, wie er auch auf der Gefangennahme Christi vorkommt – diesmal ist er ein Herold des Pilatus, der Jesu Kreuzigung und nahen Tod verkündet. Der zweite trägt eine Leiter, was ihm im Gegensatz zu Christus scheinbar keine Mühe bereitet; wie jener mit der Dornenkrone zum Spott als König der Juden gekennzeichnet ist, so ist auch der Kopf des Schergen, der im Bild unmittelbar über dem Haupt Jesu erscheint, durch einen ungewöhnlichen Strohhelm hervorgehoben. Die Haube – ein billiger Ersatz für einen Eisenhelm – rutscht dem Schergen ins Gesicht und macht ihn zu einer lächerlichen Figur. Christi Haupt hingegen ist zwar durch die Dornenkrone verletzt und blutet, dennoch hat es einen würdevollen Ausdruck und wirkt wie „gekrönt“. Die mitgetragene Leiter gehört zu den Arma Christi, die bei der Aufrichtung des Kreuzes benötigt wird. Sie verweist daher unmissverständlich auf Jesu Leiden und Kreuzestod.

Der Kriegsknecht, der Christus am Seil fortzieht, wird sehr detailliert dargestellt: Seine Füße sind mit Strohschuhen und die Waden notdürftig mit tütenartigen Beinlingen (oder Hosen) bedeckt, die von Kordeln zusammengehalten werden; Rüstungsteilen, die er wohl im Krieg als Beutegut an sich gebracht hat, schützen seinen Körper und seine Arme. Unter einem geschlitzten und mit Fransen besetzten Lentner trägt er ein kostbares Kettenhemd mit Eisenkragen, eiserne Handschuhe und auf dem Kopf einen blinkenden Helm. Dass ihm der Helm über die Augen gerutscht ist (ebenso wie dem Soldaten am anderen Ende des Querbalkens und dem Schergen mit der Strohhaube), versinnbildlicht seine Blindheit, denn er erkennt nicht, wer hier misshandelt wird und dass er am göttlichen Heilsgeschehen teilhat.
Hinter der Mauer aus Soldaten und Waffen sind ein mit Rasen, Bäumen und Buschwerk bewachsener Hügel, Zinnenmauern und zwei Türme sichtbar. Dieses Detail ist insofern von Bedeutung, weil es ein Indiz dafür liefert, dass das vollständige Altarbild, zu dem die sieben Tafeln einst gehörten, wohl in Straßburg und für eine der ältesten Kirchen dort gefertigt wurde. Die beiden Kirchtürme verweisen auf Christus und Maria, deren Begegnung sich nicht im Zentrum des Bildes, sondern in der rechten Hälfte der Komposition ereignet. Wenngleich mit diesem mittelalterlichen Sakralbau auch der Tempel von Jerusalem gemeint ist, so stellt er doch die früheste getreue Ansicht der heute noch bestehenden St. Thomaskirche in Straßburg dar
Meister der Karlsruher Passion: Entkleidung Christi (um 1450); Karlsruhe,
Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Über die Entkleidung Christi auf Golgatha, die der Annagelung und seiner eigentlichen Kreuzigung vorausgeht, erfahren wir in den Evangelien nichts. Sie hat aber stattgefunden, da einige Soldaten unter dem Kreuz um seinen Rock würfeln (Matthäus 27,35). Die Tafel der Karlsruher Passion zeigt Christus nackt, die Dornenkrone auf das Haupt gepresst und blutend, am Ort seiner Hinrichtung, inmitten einer dichtgedrängten Menge schwer bewaffneter und gerüsteter Soldaten, Kriegsknechte, Juden und Schaulustiger. Zwei rohe Schergen haben dem Erschöpften das Gewand über den Kopf gezogen und zerren es ihm nun von seinen vorgestreckten Armen. Ein bis an die Zähne bewaffneter Soldat packt Christus von hinten unter den Achseln und hält ihn fest, während ein Turbanträger mit karikierend antisemitischer Physiognomie an dem um Jesu Hals geschlungenen Strick zieht. Still erleidet der Heiland die mit seiner Entkleidung verbundene Qual; er nimmt auch die hämischen Worte des Turbanträgers nicht wahr. 
Sich von seinen Peinigern abwendend, kehrt Christus sein leidvolles Antlitz – es ist das eigentliche Zentrum des Bildes – dem Betrachter zu und scheint ihn anzublicken. Vielleicht will er sich aber auch ganz umdrehen, denn hinter ihm steht Maria, gestützt von dem Jünger Johannes und begleitet von zwei weiteren Frauen. Mit dem Ausdruck stummer Klage hat sie sich ihrem Sohn genähert und hält ein weißes Tuch um seine Lenden, um seine Blöße zu bedecken. In Leid und Trauer verbunden, bilden Maria und Christus eine von wenigen Überschneidungen kaum gestörte formale Einheit, da beide durch das Lendentuch sinnfällig zu einer Doppelfigur vereint sind. Zusammen mit dem Soldaten, der Christus ergreift und an sich presst, bilden sie in der linken Bildhälfte den Gegenpol zu den drei Schergen, die Rock und Halsschlinge Jesu zu sich in die Gegenrichtung zerren.
Große Kunst, allerdings mit deutlich antisemitischen Tendenzen
Hinter der brutalen Szene im Vordergrund bilden die Köpfe, Glieder, Helme und Hüte der Soldaten und des übrigen Volkes eine hohe, undurchdringliche Mauer. Sie wird rechts überragt von drei Berittenen mit orientalisch wirkenden Kopfbedeckungen, die aus Spitzhüten, Turbanen, Stofflappen sowie gezackten und geschlitzten Krempen bestehen. Es handelt sich um einen Hohepriester mit seinen Begleitern – auch ihre Gesichter sind mit antisemitischen Stereotypen bezeichnet. Als weiterer Zeuge der Entkleidung Christi erscheint in einiger Entfernung ein Junge in rotem Rock, der aus Neugier einen grünenden Baum erklommen hat. Rings um ihn ragen Spieße, Äxte und Hellebarden in die Luft. Zu Füßen Christi liegt außerdem ein kreuzförmiger Streithammer – er weist voraus auf Jesu Kreuzestod.
Der Maler bietet eine größtmögliche Fülle und Vielfalt an Köpfen mit überzeichneten Mienen, an buntfarbigen Kostümen, vielgestaltigen Helmen und Hüten, blinkenden Waffen, vielteiligen Rüstungen und sonstigem Beiwerk auf. „Auf diese Weise werden Getümmel und Lärm, Erregung und entfesselte Willkür des rohen Kriegsvolks eindringlich vergegenwärtigt (Lüdke 1996, S. 92). Inmitten dieses wohl komponierten Choas steht der erbarmenswerte, entblößte Christus – der diesen Passionsweg für uns, die Betrachtenden, auf sich genommen hat.
Meister der Karlsruher Passion: Annagelung Christi (um 1450); Karlsruhe,
Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Kreuzannagelung Christi wird ebenso in den Evangelien nicht erwähnt. Nur indirekt erfahren wir von seinen Nagelwunden, nämlich als der Auferstandene sich dem ungläubigen Thomas zeigt (Johannes 20,25). Auf der Tafel der Karlsruher Passion liegt Christus bereits auf dem schweren Kreuz, das sich diagonal über die Bildfläche erstreckt. Es ist so groß, dass es an zwei Enden über den sichtbaren Bildraum hinausragt. Um das Marterwerkzeug herum sind sechs Schergen verteilt, von denen fünf in mitleidlosem Eifer ihr entblößtes und blutüberströmtes Opfer kreuzigen.
In der Mitte der oberen Bildzone tritt einer von ihnen mit dem linken vorgesetzten Fuß auf den angebundenen rechten Arm Christi, während er einen klobigen Nagel durch die Handfläche treibt. Dabei holt er mit seiner Rechten so weit aus, dass sich die Faust mit dem schweren Holzhammer deutlich gegen den blauen Himmel abzeichnet, in den auch die bedrohlichen Hieb- und Stichwaffen der anwesenden Soldaten ragen. Gleichzeitig werden die überkreuzten Füße Christi von einem älteren Kriegsknecht mit einem zweiten Nagel ans Kreuz geschlagen. 
Ein dritter Henker hat Jesus die Beine an den Fesseln zusammengebunden und das lange Ende des Seils um einen Holzpflock geführt. Er ergreift es mit beiden Händen und zieht es mit aller Kraft zu sich, um Jesu Leib und Glieder zu strecken, wobei er seine Beine gegen das Kreuz stemmt. Der Mantel Christi dient ihm als Unterlage; der Künstler hat jedoch auf die oft dargestellte Gruppe der um Jesu Kleider würfelnden Soldaten verzichtet (Johannes 19,23-24), das Gewand genügt ihm als Hinweis auf diese Episode des Passionsgeschehens.
Mitbeteiligt an dieser Strecktortur ist der vierte Scherge hinter Christi Haupt. Er hockt und hat sich zwischen seinen gegrätschten Schenkeln so weit zu seinem Opfer hinabgebeugt, dass sein Kinn und die lange Nase fast an die Stacheln der Dornenkrone stoßen. Mit seinen zangenartigen Händen hat er die Arme des Wehrlosen an den Achseln gepackt und zerrt ihn in seine Richtung. 
Die Mitte der Komposition nimmt der fünfte Knecht ein. Er trägt eine rote Kappe und ein  modisches Wams. Unter seinen rechten Arm hat er den Bohrer für die Nagellöcher geklemmt; mit seinem rechten Bein kniet er auf den Beinen Christi und presst den linken Ellenbogen in dessen Bauchhöhle. Zugleich fixiert er mit dumpfem, rätselhaften Blick den Betrachter und rafft das Lendentuch Jesu über dessen Blöße zusammen. Erstaunlich, dass der Kopf dieses Knechtes und nicht das Haupt Christi das Zentrum des „kreisenden Bildgefüges (Lüdke 1996, S. 107) bildet. Einerseits fügt er Christus heftige Schmerzen zu und treibt seine Tötung aktiv voran – andererseits verhüllt er die Blöße des Heilands und bewahrt ihn vor der großen Schmach völliger Nacktheit.
So wie die Freunde Christi sollen wir mitleiden und trauern
Auch auf dieser Tafel erduldet Christus klaglos und ohne aufzubegehren seine Todesmarter. Nur sein etwas gekrümmter linker Arm ist noch nicht ans Kreuz gebunden und seine Linke mit den gebogenen Fingern noch nicht von einem Nagel durchschlagen. D
ie Haut Christi zieht sich so straff über den gedehnten Körper, dass sich die einzelnen Rippen klar abzeichnen – ein Verweis auf Psam 22,18: Ich kann alle meine Gebeine zählen; sie aber schauen zu und weiden sich an mir“ (LUT). Christi Haupt ist leicht zur Seite geneigt und der leidvolle Blick auf Maria gerichtet. Sie steht dicht hinter dem Schergen mit der roten Kappe, wird von Johannes gestützt und begleitet von zwei weiteren Frauen, erkennbar am Strahlenkranz an ihren Köpfen. Ihre Gesichter sind von Mitleid, Trauer und Erschöpfung gezeichnet. Diese Freunde Christi bilden eine geschlossene Gruppe, die wie ein Andachtsbild „zur Verkörperung der Compassio, des nachempfindenden Leidens um Christus und der andächtigen Versenkung in den Sinn seiner Passion wird“ (Lüdke 1996, S. 102).
Rogier van der Weyden: Maria Magdalena
(um 1443/45); Wien, Kunsthistorisches Museum
Maria ist in ein faltenreiches Manteltuch gehüllt, das sie mit der Rechten schützend vor den Leib zieht, während sie mit der Linken, die ein weißes Kinngebände verhüllt, ihr nach vorne gebeugtes Haupt an der Wange stützt. Es ist dies eine alte Geste der Trauer und des Nachsinnens, wie sie ganz ähnlich bei Rogier van der Weydens Maria Magdalena auf dem linken Flügel des Kreuzigungstriptychons in Wien vorkommt (entstanden um 1443/45; siehe meinen Post
Aus eins mach drei“).
Der sechste Scherge, der auf der anderen Seite des Kreuzes steht, scheint Maria und ihren Begleitern höhnische Worte zuzurufen, was an seinem Gesichtsausdruck und der Geste seiner linken Hand ablesbar ist. Er stützt sich auf einen Spaten und hat zwei Hacken geschultert. Seine Arbeit scheint erledigt, denn wahrscheinlich hat er das Loch bereits gegraben, in das das Kreuz bei der bevorstehenden Aufrichtung eingesenkt werden soll. Hinter der Compassio-Gruppe drängen sich Soldaten, von denen nur wenige Gesichter, Helmkalotten und Waffen zu sehen sind. Rechts gegenüber erscheint wie auf der Entkleidung Christi die berittene Dreiergruppe des jüdischen Hohepriesters mit seinen beiden Beratern, hinter denen noch die Köpfe von zwei Knappen auftauchen.
Die Tafel, die Christi Gebet am Ölberg zeigt, ist von allen sieben Szenen
am schlechtesten erhalten (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle)
Alle sieben Tafeln der Karlsruher Passion sind übrigens noch bis zum 16. April 2023 im Kölner Wallraf-Richartz-Museum ausgestellt (die Staatliche Kunsthalle in Karlsruhe ist sanierungsbedingt mehrere Jahre geschlossen). Wer es irgend möglich machen kann, sollte die Gelegenheit nutzen und diese herausragenden Werke des Spätmittelalters aus großer Nähe betrachten – es lohnt sich unbedingt!

Literaturhinweise
Eissenhauer, Michael (Hrsg.): Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2021, S. 148-151; 
Franzen, Wilfried: Die Karlsruher Passion und das »Erzählen in Bildern«. Studien zur süddeutschen Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts. Lukas Verlag, Berlin 2002;  
Lüdke, Dietmar: Der Meister der Karlsruher Passion und sein Werk. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Die Karlsruher Passion. Ein Hauptwerk Straßburger Maleeri der Spätgotik. Verlag Gerd Hatje, Ostfildern 1996, S. 9-17;
Lüdke, Dietmar: Die überlieferten Werke des Meisters der Karlsruher Passion. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Die Karlsruher Passion. Ein Hauptwerk Straßburger Malerei der Spätgotik. Verlag Gerd Hatje, Ostfildern 1996, S. 27-116; 
Suckale, Robert: Süddeutsche szenische Tafelbilder um 1420–1450. Erzählung im Spannungsfeld zwischen Kult- und Andachtsbild. In: Wolfgang Harms (Hrsg.), Text und Bild, Bild und Text, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 1990, S. 15-34; 
Wolfson, Michael: Originalität und Tradition. Zu den ikonographischen und künstlerischen Quellen der Karlsruher Passsion. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 45 (1991), S. 67-87;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


(zuletzt bearbeitet am 13. Februar 2023)