Freitag, 21. April 2023

Feuerfontänen, Lavaströme, Aschewolken – Jakob Philipp Hackerts „Vesuvausbruch am 12. Januar 1774“

Jakob Philipp Hackert: Der Vesuvausbruch am 12. Januar 1774 (1774);
Kassel, Museumslandschaft Hessen Kassel (für die Großansicht einfach anklicken)
Der deutsche Maler Jakob Philipp Hackert (1737–1807) legte während seiner gesamten Schaffenszeit größten Wert auf genaues Naturstudium und wurde dafür auch berühmt. 1768 ließ er sich in Rom nieder; 1770 reiste er erstmals nach Neapel, wo er die reizvolle landschaftliche Ungebung der Stadt erkundete und intensiv Naturstudien anfertigte. Er erhielt zahlreiche Aufträge von römischen Adligen und europäischen Höfen. Die Krönung seiner Karriere stellte die Ernennung zum Hofmaler König Ferdinands IV. von Neapel im Jahr 1786 dar.

Hackerts Ölgemälde Der Vesuvausbruch am 12. Januar 1774 entstand noch im gleichen Jahr 1774. Das eher kleine Format (70,5 x 90,5 cm) zeigt auf den ersten Blick eine klare Diagonalteilung der Leinwand: Die linke und obere Hälfte der quer-rechteckigen Leinwand leuchtet in klarem Nachtblau, während ihr Gegenpart nach rechts unten von einer schweren, schwarzbraunen Farbfläche ausgefüllt wird; ein grelles Orangerot grenzt die beiden Bildteile nochmals deutlich voneinander ab. Es handelt sich um eine nächtliche Nahansicht des inneren Vesuvkegels vom sogenannten Atrio del Cavallo aus, dem älteren äußeren Kraterrund des Vulkans, auf dessen hoch gelegener Gipfelspitze sich der neue Berg erhoben hatte.

Aus der Spitze des schwarzen Kegels, der die gesamte rechte Bildhälfte einnimmt, bricht eine kleine Lavafontäne hervor. Der aufsteigende Rauch nimmt den glutroten Widerschein auf, zieht nach links waagrecht ab und bildet einen farblich gedämpften, grau-orangen oberen Bildabschluss. Im Zentrum des Gemäldes öffnet sich ein Spalt an der linken Schrägseite des Berges: Ein  Lavastrom beginnt hier den Hang in steilen Kaskaden hinabzufließen und verschwindet an der linken unteren Bildecke. Links hinter diesem Flankenausbruch wird durch die ihn begleitenden Dampfschwaden hindurch die felsige Begrenzung des äußeren Kraterrandes sichtbar.

Am unteren Bildrand zieht sich eine klar abgegrenzte Vordergrundzone entlang: Auf einem schmalen Felsplateau verteilt sich eine Gruppe überwiegend stehender männlicher Figuren. Die Gesellschaft ist den Berg heraufgekommen, um das Naturschauspiel von Nahem zu betrachten. Drei Rückenfiguren erscheinen in der linken unteren Ecke des Bildes besonders hervorgehoben. Ihre dunklen Silhouetten heben sich kontrastierend vom hinter ihnen fließenden, gelb glühenden Lavastrom ab. Durch sie wird der Blick, den Lava-„Fall“ hinauf, wieder in den Bildmittelgrund gelenkt, und nun nimmt man eine Entsprechung dieser Dreiergruppe – in verkleinertem Maßstab – an der Quelle des Stromes wahr. Weitere menschliche Gestalten sind etwas unterhalb am Hang des Berges zu erkennen, „und erst jetzt lassen sich die räumlichen Dimensionen des dargestellten Landschaftsausschnittes erahnen; die Personenstaffage fungiert als innerbildliche Maßstabsvorgabe“ (Keller 2006, S. 271).

Hackert präsentiert mit Hilfe der dargestellten Gesellschaft unterschiedliche emotionale und intellektuelle Reaktionen auf das Naturschauspiel. Die Gruppe ist gemischt: Sechs junge Herren in gepflegter Kleidung werden von mindestens acht Ciceroni begleitet, Bauern aus Neapels Umgebung, die sich den damaligen Italienreisenden als Berg-und Fremdenführer anboten. Ohne sie war eine Vesuvbesteigung nicht zu bewältigen gewesen, was im Bild auch verdeutlicht wird: Ein Cicerone reicht einem der Herren die Hand zur Sicherung, ein anderer trägt die Fackel; ein dritter steht mit seinem dicken Stock am äußersten Rand des Plateaus neben seinen beiden Schutzbefohlenen, die ganz in den Anblick des Naturspektakels versunken sind. Doch in der Gestik der elegant gekleideten Männer zeigt sich keinerlei Unsicherheit: Neugierig und gelassen nähern sie sich dem Lavastrom. Ein Herr in schwarzem Gehrock erklärt mit ausgetrecktem Arm seinen Begleitern die Naturerscheinung – er könnte ein Wissenschaftler sein.

Hackert wollte offensichtlich ein spektakuläres Naturphänomen und die geologischen Formationen wahrheitsgetreu und minuziös festhalten, darum geht es zuallererst. Die Nahsicht auf den Vulkan lässt darauf schließen, dass der Künstler tatsächlich vor Ort Skizzen von dem eindrucksvollen Flankenausbruch angefertigt hat. Auch die wenig differenzierte Behandlung der Bergflanke und des Lavagesteins spricht für eine authentische Naturwiedergabe: „Zu erklären wäre diese damit, dass Hackert eine real erlebte, nächtliche Beleuchtung wiedergeben wollte, die alle Konturen verschwimmen ließ, zumal im Kontrast mit der feurigen Lichtquelle des Glutstroms, der in kleinteiliger, bemühter Malarbeit gestaltet ist“ (Keller 2006, S. 272).

Bemerkenswert ist, dass Hackerts Gemälde weder eine ausgeprägte emotionale Begeisterung für das ästhetische Naturerlebnis zeigt noch Schrecken und Angst angesichts der Gefährlichkeit dieser Naturkraft. „Im Bild beraubt Hackert die Natur all ihrer Zerstörungsmacht“ (Keller 2006, S. 279). Sorgsam geleitet und kontrolliert fließt der Lavastrom als kleiner „Wasserfall“ im sicheren Bett den Hang hinab. Die Rauchwolken ziehen in die Ferne ab, in keiner Weise wird Schwefelgestank oder lästiger Aschestaub suggeriert. „Das Gipfelfeuerchen kann nur schwer die Erinnerung an die Zerstörung ganzer Ortschaften und Landstriche heraufbeschwören, die durch die Vesuvausbrüche dieser Jahre eigentlich ständig präsent gewesen sein müsste“ (Keller 2006, S. 280). Die Staffagefiguren des bühnenartigen Vordergrundes betrachten zwar interessiert, aber nüchtern und gelassen das Naturgeschehen. Darin spiegele sich, so Susanne Keller, die optimistische Überzeugung einer aufgeklärten Gesellschaft, die ungewöhnlichsten Naturerscheinungen rational erklären und damit domestizieren zu können.

Joseph Wright of Derby: An Eruption of Vesuvius, seen from Portici (um 1774/76);
Pasadena (CA), The Huntington Library (für die Großansicht einfach anklicken)
Dass man sich um 1775 auch anders mit dem Motiv „Vulkanausbruch“ auseinandersetzen konnte, soll noch kurz am Besipel von Hackerts britischem Zeitgenossen Joseph Wright of Derby (1734–1797) gezeigt werden. Wright reiste 1773 nach Italien; in Rom blieb er bis 1775, ein Abstecher nach Neapel dauerte nur knapp einen Monat, von Anfang Oktober bis Anfang November 1774. Der Italienaufenthalt hinterließ bleibende Spuren im Werk des Künstlers: Wright malte im Laufe der Jahre über dreißig „Vesuvausbrüche“ – allerdings ist keines der Bilder wohl in Neapel selbst ausgeführt worden. Das früheste der bekannten Ölgemälde mit diesem Motiv ist An Eruption of Vesuvius, seen from Portici. Gezeigt wird zwar der Vesuv in seiner typischen Umgebung, aber Wrights Bild besitzt keinen dokumentarischen Charakter. Der Künstler hatte zwar während seines Neapelbesuchs den Vesuv selbst bestiegen und Skizzen vor Ort angefertigt. Einen großen Ausbruch, wie er hier wiedergegeben ist, hatte Wright jedoch nie selbst gesehen, da der Berg zwischen Anfang Oktober und Anfang Dezember 1774 in relativer Ruhe verharrte.

In Wrights Bild erscheint der Vesuv im mittleren Hintergrund, ein Lavastrom wälzt sich bis in die Ebenen der vorderen Bildzone, bedroht Ortschaften, zerstört also menschliche Zivilisation. Anders als auf Hackerts Vesuvbild erscheint keine Staffage, kein narratives Element im Bild. Der Mensch ist bei Wright nur mit thematisiert in Form der bedrohten landschaftlichen Nutzflächen oder der Ortschaft, die sich angesichts der überwältigenden Zerstörungsenergie des Vulkans fast noch ein Stück tiefer in die Senke zu ducken scheint. Dennoch dominiert bei der Bildwirkung das sinnliche Vergnügen an den grandiosen Licht- und Feuereffekten: „Der Vulkan wird bei Wright in der künstlerischen Umsetzung ästhetisch überhöht und daher trotz seiner impliziten Zerstörungsmacht als kunstvolles Spektakel rezipierbar“ (Keller 2006, S. 285).

 

Literaturhinweis

Keller, Susanne K.: Naturgewalt im Bild. Strategien visueller Naturaneignung in Kunst und Wissenschaft 1750-1830. VDG, Weimar 2006.


Donnerstag, 20. April 2023

William Turner: Tod auf einem fahlen Pferd (um 1825/30); London, Tate Britain
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turner, tod auf einem fahlen pferd

 

am ende malte er zwar nur noch licht
doch das erklärt die dunkelheiten nicht
den halben rumpf wie er im schatten
liegt wie quer zum widerrist sich das
gerippe wiegt den arm die knochenhand
nach vorne ausgestreckt den bleichen
hals des tiers durchkreuzend wie es
steigt u. scheut reckt es die nüstern
höher in die düsternis von ihm geritten
den sein rücken kennt hoch aus dem
gleißenden weg von der glut nach vorn
zu licht zerrieben bis der firnis brennt

 

Norbert Hummelt

 

(aus: Norbert Hummelt, Stille Quellen. Gedichte. Luchterhand Literaturverlag, München 2004, S. 9)


 

Montag, 17. April 2023

Regen, Dampf und Geschwindigkeit – William Turner malt die Great Western Railway


William Turner: Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Great Western Railway (1844); London, National Gallery
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William Turner (1775–1851) zählt ohne Frage zu den Wegbereitern der modernen Malerei. Der britische Künstler gilt als der Maler des Lichts und der Farbe, als derjenige unter seinen Zeitgenossen, der die Formauflösung in seinen Bildern am weitesten vorangetrieben hat. Sein wohl berühmtestes Gemälde trägt den Titel Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Great Western Railway. Mit dem 1844 in der Londoner Royal Academy ausgestellten Bild wurde die Eisenbahn als der populärsten technischen Errungenschaft des Industriezeitalters erstmals „bildwürdig“.
Durch den verhangenen Horizont des Bildes schießt exakt aus dem Fluchtpunkt, der zugleich dem Bildzentrum entspricht, auf einer Brücke ein fahrender Zug über einen Fluss hinweg auf die rechte vordere Bildecke zu. Die Bahntrasse mit dem Schienenstrang durchmisst das Bildfeld auf der Diagonalachse nach rechts unten, sodass der Eindruck entsteht, der Zug werde gleich über den Rand hinausfahren.
Die Konturen des Zugs sind verschwommen, nur der Schornstein über dem Dampfkessel der Lokomotive hebt sich präzise von der diffusen Umgebung ab. Die Landschaft ist so undeutlich dargestellt, dass sich das Flusstal mit einer zweiten Brücke und das jenseitige Ufer nur vage ausmachen lassen. Das erklärt sich zum einen durch den Regen, der sich in den schräg verlaufenden Schlieren des Vordergrundes bemerkbar macht; zum anderen „übertrug Turner offensichtlich das von Zeitgenossen ebenso wie von ihm selbst beschriebene neuartige Seherlebnis aus einer rasch fahrenden Eisenbahn heraus auf den Anblick des fahrenden Zuges“ (Wagner 2011a, S. 91/92). Anlässlich der Ausstellung des Bildes meinte die Times (8. Mai 1844), dass es erstmals in der Geschichte der Malerei gelungen sei, „den Betrachter mit einer Lokomotive und einem Zug zu konfrontieren, der mit einer Geschwindigkeit von 50 Meilen die Stunde auf ihn zurast“. Die Eisenbahnlinie der Great Western galt als Höhepunkt englischer Ingenieurskunst und wurde im ganzen Land gefeiert. Seit 1841 verband sie London mit Bristol und war 1843, im Jahr vor der Ausstellung des Gemäldes, von Queen Victoria durch ihre erste Eisenbahnfahrt geadelt worden.
Dieses Wunderwerk der Technik, die Eisenbahn mitsamt ihren Brücken, stellt Turner jedoch nicht in deutlich erkennbaren Formen porträthaft vor. Vielmehr sind Regen, Dampf und Geschwindigkeit zum eigentlichen Bildgegenstand geworden. Regen und Dampf, zwei Zustände des Wassers also, werden ebenso wie die Wolken des Himmels vom Licht der nicht sichtbaren Sonne durchdrungen; der Fluss wiederum reflektiert das Licht, das alle Bereiche zu verbinden scheint. Die verschiedenartige Materialität der Dinge wirkt zugunsten ihrer flüchtigen Erscheinung aufgehoben. „Nur die Bearbeitungsspuren der Farbmaterie markieren die unterschiedlichen Bereiche von Himmel, Land und Wasser. Sie erscheinen wie verschiedene Zustände derselben Substanz“ (Wagner 2011a, S. 97). Dem entspricht die Farbigkeit, deren gelblich-braun-ocker oszillierende Oberfläche sehr zum Eindruck eines ungreifbaren, flüchtigen Zustands beitragen.
Da Turner die Farben seiner Bilder stark mit Öl durchsetzt, trocknen sie nur langsam, bleiben für den Malprozess feucht, sodass er weitere Farben bzw. Lasuren eintragen kann, die sich mit dem bereits Angelegten mischen. So entsteht ein verwischter Farbkörper, der Übergänge verschleift, Formen nicht wirklich fixiert. „Das erklärt das skizzenhafte Erscheinungsbild, das in vielen Fällen ein Äquivalent zu extremer Bewegung, zum Transitorischen oder zu transformatorischen Vorgängen darstellt“ (Busch 2020, S. 51).
Die Lokomotive – das Farbzentrum des Bildes
Turner hat das Innenleben der Lokomotive – die Fusion von Wasser und Feuer, durch die im Innern Dampf erzeugt wird – an der Oberfläche sichtbar gemacht: Mit dem Spachtelmesser aufgetragen, stehen sich auf der schwarzen Außenhaut des eisernen Dampfkessels pastoses Weiß und leuchtendes Rot auf engstem Raum gegenüber. „Die im Dampfkessel verborgene Erzeugung der Antriebskraft erscheint als das dynamisch funkelnde Farbzentrum des Bildes“ (Wagner 2011a, S. 100).
Mühselige Fortbewegung: mit dem Boot über die Themse

Turner unterstreicht den Triumph der Technik, indem er auf seinem Bild der dampfgetriebenen Eisenbahn eine frühere Fortbewegungsart gegenüberstellt. Während die Eisenbahn auf horizontaler Ebene über das Flusstal hinwegrast, sind auf der linken Seite mehrere Personen im Begriff, in einem winzigen Ruderboot die Themse zu überqueren. Um die Unannehmlichkeiten einer solch altmodischen Reiseart im englischen Wetter vorzuführen, hat Turner die hintere Figur im Boot mit einem aufgespannten Regenschirm ausgestattet ... Nicht weit davon ist am Ufer eine Reihe von kleinen menschlichen Figuren auszumachen, zum Teil mit erhobenen Armen, voller Erstaunen und vielleicht auch erschrocken dem rasenden Zug auf der Brücke zugewandt. Rechts der Trasse ganz am Bildrand wird ein Pflug mit zwei vorgespannten Pfeden von einem Bauern über das Feld geführt. Die Vermutung liegt nahe, dass Turner mit diesen Details demonstrieren wollte, dass das Zeitalter des Pfluges und auch des Ruderbootes vorbei ist. Denn gerade auf Flüssen setzte sich schnell das Steam-Boat durch. Pferde- und Menschenkraft werden durch die Dampfmaschine abgelöst.

Darüber hinaus rennt, ja fliegt geradezu – heute kaum mehr sichtbar, weil flüchtig als oberste Schicht gemalt – auf dem Schienenstrang vor der Lokomotive ein Hase her, die Läufe weit von sich gestreckt. Ohne Zweifel wird das Tier trotz seiner Schnelligkeit in den nächsten Sekunden von dem Zug überrollt werden. Ob man an diesem weiteren Detail ein Zeichen von Industriekritik ablesen kann, sei dahingestellt – das Gemälde ist doch eher vom Stolz auf die beeindruckende technische Neuerung bestimmt. Turner erweist sich im Gegensatz z. B. zu den englischen Präraffaeliten oder den deutschen Nazarenern als eminent moderner Maler mit großem Interesse an der Dynamik industrieller Entwicklungen in England.

Obwohl Turners Bilder oft heftig kritisiert wurden – sie galten als unfertig, als bloße Farbsoße, man meinte, nichts erkennen zu können –, war seine Malerei sehr erfolgreich: Bereits 1802 wurde er als Vollmitglied in die Royal Academy aufgenommen und übernahm dort sofort eine Reihe von Funktionen. 1804 gehörte er dem Rat der Akademie an, Aufträge häuften sich, im selben Jahr eröffnete er eine Privatgalerie, 1807 wurde er zum Professor für Perspektive gewählt, ein Amt, das er 35 Jahre innehatte. Bis zu seinem Tod 1851 war der Maler mit wenigen Ausnahmen in den Jahresausstellungen der Royal Academy mit seinen jeweils neuesten Arbeiten vertreten, die häufig Anlass zu Kontroversen gaben.
 
Literaturhinweise
Busch, Werner: Turner und Constable als künstlerische Antipoden. Zur Topik des Klassischen und des Unklassischen. In: Werner Busch, Das unklassische Bild. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 190-209;
Busch, Werner: Willam Turners Rain, Steam, and Speed. Der Tod des Hasen, das Ende des Pflugs und der Glanz der Industrie. In: Sandra Abend/Hans Körner (Hrsg.), Schlüsselbilder. morisel Verlag, München 2020, S. 42-61;
Carter, Ina: Rain, Steam and What? In: The Oxford Art Journal 20 (1997), S. 3-12; 
Finley, Gerald: Turner and the Steam Revolution. In. Gazette des Beaux-Arts 112 (1988), S. 19-30;
Olson, Donald W./Sinclair, Rolf M.: The origin of Rain, steam, and speed by JMW Turner (1775–1851). In: The British Art Journal 19 (2018), S. 42-47;
Wagner, Monika: William Turner. Verlag C.H. Beck. München 2011a;
Wagner, Monika: Zur Fusion der Elemente in Turners Malerei. In: Ortrud Westheider/Michael Philipp (Hrsg.), William Turner. Maler der Elemente. Verlag Hirmer, München 2011b, S. 65-73.

(zuletzt bearbeitet am 17. April 2023) 

Sonntag, 16. April 2023

Der leidenschaftliche Erlöser – Hans Multschers Ulmer „Schmerzensmann“ (1429)

Hans Multscher: Schmerzensmann (1429); Ulm, Münster
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Der spätgotische Bildhauer und Maler Hans Multscher (um 1400–1467) kann für die Zeit zwischen 1420 und 1460 als der überragende Künstler in Deutschand betrachtet werden. Der Schmerzensmann (1429) vom Westportal des Ulmer Münster gilt als sein Hauptwerk.

Christus ist lebensgroß dargestellt, im Bildtyp des ›Schmerzensmannes‹, also lebend, aber mit den Zeichen seines Leidens und Sterbens versehen, der Dornenkrone und den Wundmalen. Er steht den in das Münster eintretenden Gläubigen relativ breitbeinig gegenüber. Mit der Rechten berührt er die Seitenwunde, die Linke weist das Wundmal in der Handfläche vor. Dabei schaut er angestrengt nach vorn. Bekleidet ist Christus nur mit einem breiten, an der linken Hüfte verknoteten Lendentuch, das Unterleib und Oberschenkel bedeckt. Außerdem trägt er einen Mantel, der einseitig auf der linken Schulter liegt, dann aber mit einem Faltenbausch am rechten Arm festgehalten wird und hinter der Figur zu Boden fällt. Auf diese Weise umfängt er schalenförmig die Gestalt Christi, die mit ihren Füßen auf dem Mantel steht.

Die Stellung der dünnen Beine mit den abwärts weisenden Füßen wirkt ausgesprochen labil – man hat den Eindruck, als hielte sich Christus nur mit Mühe aufrecht. Glaubt man zunächst, das gerade wirkende linke Bein sei das die Gestalt stabilisierende Standbein, zumal die linke Schulter erhoben, die rechte stark abgesenkt ist, so stützt es doch nur die nach links verschobene Hüfte. Denn das Hauptgewicht des Oberkörpers wird nach rechts verlagert. In der Seitenansicht erkennt man, dass das linke Knie stark angewinkelt ist, die Last des Körpers also gar nicht zu tragen vermag. Das weit vorgestellte rechte Bein stützt vielmehr die Figur, gibt dem Körper Halt, allerdings in erster Linie dadurch, dass sich Hüfte und Gesäß gegen die Rückwand lehnen.

Der Leib ist wie die Beine mager; Rippen und die Schulterknochen zeichnen sich unter der Haut deutlich ab, ebenso der Muskel des Oberarms. Die Oberfläche der Figur ist präzise und detailreich modelliert: Die Adern an Hals, Armen und Beinen treten plastisch hervor, wulstig klaffen die Wundmale in der sonst fein geschliffenen Haut; die Falten im Gesicht sind sorgfältig angegeben, die Fingergelenke und die Knie durch gravierte Riefen gestaltet und die einzelnen Strähnen des zweiteiligen Bartes in zierlicher Drehung in sich und gegeneinander gerollt.

Die Hüfte ist eckig und sperrig weit nach links und zugleich nach vorne geschoben. Im Gegensatz dazu werden Bauch und Oberkörper nach rechts verlagert, wobei der Körper nicht erst in der Taille, sondern bereits in Höhe der Leisten weit unterhalb des Hüftknochens abknickt. Die übergroße Hand greift mit Daumen und Zeigefinger in drastischer Weise mitten in die Wunde. Die Linke wird hingegen angestrengt nach vorn gehalten, die Finger scheinen sich dabei unter dem Schmerz des Wundmals zu verkrampfen.

Die heute am Westportal aufgestellte Figur ist eine Kopie; das Original
befindet sich im Innern des Münsters

Der mächtige Kopf mit der großen Dornenkrone und den auf die Schultern herabfließenden Locken durchbricht nochmals die Richtung des zur rechten Körperseite und nach hinten zurückweichenden Oberkörpers, indem er sich nach vorn und wieder stärker zur Mitte hinwendet. Auffallend ist die Leidenschaftlichkeit, mit der sich Christus dem Betrachter entgegentritt. Der Blick aus den groß geöffneten, fast kugelförmig gerundeten Augen trifft den ihn schon von Weitem. Das Thema der Figur lässt sich daher mit „Vergegenwärtigung und Mahnung“ (Söding 1997, S. 37) benennen.

In der Seitenansicht wird der schmale flache Umriss der Figur erkennbar, bei der nur Kopf und Füße geringfügig aus der Mantelschale herausragen. Christus ist viel stärker in die Breite als in die Tiefe entwickelt. „Das körperliche Vor und Zurück spielt sich in einer flachen Raumschicht zwischen der vorgeschobenen Hüfte, dem nach rückwärts fliehenden Oberkörper, dem vorstoßenden Kopf und der dem Betrachter entgegengehaltenen Hand ab“ (Kahsnitz 1997, S. 301). Nur der rechte Ellenbogen ist ungewöhnlich weit nach hinten zurückgeschoben.

Multscher vollzog mit seinem Schmerzensmann einen harten Bruch mit dem sogenannten ›weichen Stil‹, der die damalige Bauplastik am Ulmer Münster noch bestimmte. Schon der Verzicht auf Stofffülle, erst recht der freigelegte und nach vorn geführte linke Arm sowie die mageren, sehnigen und wenig anmutig gespreizten Beine zeigen eine neue Gestaltungsweise. Die ganze Figur vermittelt den Eindruck freier Beweglichkeit. Der gleichzeitig nach vorn und zur Seite geneigte Oberkörper zusammen mit der regelrecht gegrätschten Beinstellung sprengt den Baldachinraum nach allen Richtungen.

Die Skulptur besteht aus gelbgrauem, feinkörnigem Sandstein. Sie ist aus einem Werkblock gearbeitet mit einer Anstückung am linken Bein, die von unterhalb des Knies bis an das Fußgelenk reicht. Auf der Rückseite wurde die Figur abgeflacht und sogar tief ausgehöhlt, benötigt daher einen hinteren Abschluss.

Der ›Schmerzensmann‹ ist ein Andachtsbild, dass Christus lebend, aber mit den Zeichen seines Leidens und Sterbens zeigt – der Dornenkrone und den Wundmalen. Vor uns steht der Erlöser, der die Schmerzen der Passion und den Tod überwunden hat. Seine Gestalt umfasst damit die ganze Passion Jesu. Im frühen 14. Jahrhundert entstanden, fand dieser Bildtyp in Deutschland vor allem als Skulptur im späteren Mittelalter große Verbreitung. Andere Bezeichnungen sind auch ›Erbärmdebild‹ oder ›Unseres Herrn Barmherzigkeit‹.

Als Andachtsbild richtet sich der ›Schmerzensmann‹ unmittelbar an den gläubigen Betrachter: als Aufruf zur compassio, dem einfühlenden Mitleiden, wie auch als peinigender Vorwurf, aber ebenso als Trost der Erlösungsgewissheit und Versicherung der Fürbitte bei Gott. Wie kaum ein zweites mittelalterliches Bildwerk vereinigt der ›Schmerzensmann‹ in sich die eucharistischen Gedanken über Christi Opfertod als Quelle des ewigen Lebens als Folge von dessen Passion, Tod und Auferstehung.

 

Glossar

Weicher Stil: Stilrichtung der spätgotischen Malerei und Plastik zwischen 1380 und 1450. Kennzeichen sind die Betonung des in runden, fließenden Mulden herabfallenden, zunehmend dreidimensional wirkenden Gewänder der Figuren und die breit auf dem Boden aufliegenden Stoffbahnen. Als charakteristisch gelten außerdem, besonders bei den sogenannten Schönen Madonnen, der zarte, verträumte Ausdruck und die zierliche Gestalt.

 

Literaturhinweise

Kahsnitz, Rainer: Christus als Schmerzensmann. Hans Multscher, 1429. In: Ulmer Museum (Hrsg.), Hans Multscher. Bildhauer der Spätgotik. Süddeutsche Verlags-Gesellschaft, Ulm 1997, S. 300-302;

Maier-Lörcher, Barbara: Meisterwerke Ulmer Kunst. Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2004, S. 24-25;

Söding, Ulrich: Die Bildwerke Hans Multschers. Ein Beitrag zur europäischen Kunst im 15. Jahrhundert. In: Ulmer Museum (Hrsg.), Hans Multscher. Bildhauer der Spätgotik. Süddeutsche Verlags-Gesellschaft, Ulm 1997, S. 31-51.

 

(zuletzt bearbeitet am 28. August 2023)