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William Turner: Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Great Western Railway (1844); London, National Gallery
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William Turner (1775–1851) zählt ohne Frage zu
den Wegbereitern der modernen Malerei. Der britische Künstler gilt als der Maler des Lichts und der Farbe, als
derjenige unter seinen Zeitgenossen, der die Formauflösung in seinen Bildern am
weitesten vorangetrieben hat. Sein wohl berühmtestes Gemälde trägt den Titel Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die
Great Western Railway. Mit dem 1844 in der Londoner Royal Academy
ausgestellten Bild wurde die Eisenbahn als der populärsten technischen Errungenschaft
des Industriezeitalters erstmals „bildwürdig“.
Durch den verhangenen Horizont des Bildes
schießt exakt aus dem Fluchtpunkt, der zugleich dem Bildzentrum entspricht, auf
einer Brücke ein fahrender Zug über einen Fluss hinweg auf die rechte vordere
Bildecke zu. Die Bahntrasse mit dem Schienenstrang durchmisst das Bildfeld auf
der Diagonalachse nach rechts unten, sodass der Eindruck entsteht, der Zug
werde gleich über den Rand hinausfahren.
Die Konturen des Zugs sind verschwommen, nur der
Schornstein über dem Dampfkessel der Lokomotive hebt sich präzise von der
diffusen Umgebung ab. Die Landschaft ist so undeutlich dargestellt, dass sich
das Flusstal mit einer zweiten Brücke und das jenseitige Ufer nur vage
ausmachen lassen. Das erklärt sich zum einen durch den Regen, der sich in den
schräg verlaufenden Schlieren des Vordergrundes bemerkbar macht; zum anderen
„übertrug Turner offensichtlich das von Zeitgenossen ebenso wie von ihm selbst
beschriebene neuartige Seherlebnis aus einer rasch fahrenden Eisenbahn heraus
auf den Anblick des fahrenden Zuges“ (Wagner 2011a, S. 91/92). Anlässlich der
Ausstellung des Bildes meinte die Times
(8. Mai 1844), dass es erstmals in der Geschichte der Malerei gelungen sei,
„den Betrachter mit einer Lokomotive und einem Zug zu konfrontieren, der mit
einer Geschwindigkeit von 50 Meilen die Stunde auf ihn zurast“. Die
Eisenbahnlinie der Great Western galt als Höhepunkt englischer Ingenieurskunst
und wurde im ganzen Land gefeiert. Seit 1841 verband sie London mit Bristol und
war 1843, im Jahr vor der Ausstellung des Gemäldes, von Queen Victoria durch
ihre erste Eisenbahnfahrt geadelt worden.
Dieses Wunderwerk der Technik, die Eisenbahn
mitsamt ihren Brücken, stellt Turner jedoch nicht in deutlich erkennbaren
Formen porträthaft vor. Vielmehr sind Regen, Dampf und Geschwindigkeit zum
eigentlichen Bildgegenstand geworden. Regen und Dampf, zwei Zustände des
Wassers also, werden ebenso wie die Wolken des Himmels vom Licht der nicht
sichtbaren Sonne durchdrungen; der Fluss wiederum reflektiert das Licht, das alle Bereiche zu verbinden scheint. Die verschiedenartige Materialität der Dinge wirkt zugunsten ihrer flüchtigen
Erscheinung aufgehoben. „Nur die Bearbeitungsspuren der Farbmaterie markieren die unterschiedlichen Bereiche von Himmel, Land und Wasser. Sie erscheinen wie
verschiedene Zustände derselben Substanz“ (Wagner 2011a, S. 97). Dem entspricht
die Farbigkeit, deren gelblich-braun-ocker oszillierende Oberfläche sehr zum
Eindruck eines ungreifbaren, flüchtigen Zustands beitragen.
Da Turner die Farben seiner Bilder stark mit Öl durchsetzt, trocknen sie nur langsam, bleiben für den Malprozess feucht, sodass er weitere Farben bzw. Lasuren eintragen kann, die sich mit dem bereits Angelegten mischen. So entsteht ein verwischter Farbkörper, der Übergänge verschleift, Formen nicht wirklich fixiert. „Das erklärt das skizzenhafte Erscheinungsbild, das in vielen Fällen ein Äquivalent zu extremer Bewegung, zum Transitorischen oder zu transformatorischen Vorgängen darstellt“ (Busch 2020, S. 51).
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Die Lokomotive – das Farbzentrum des Bildes |
Turner hat das Innenleben der Lokomotive – die
Fusion von Wasser und Feuer, durch die im Innern Dampf erzeugt wird – an der
Oberfläche sichtbar gemacht: Mit dem Spachtelmesser aufgetragen, stehen sich auf
der schwarzen Außenhaut des eisernen Dampfkessels pastoses Weiß und leuchtendes
Rot auf engstem Raum gegenüber. „Die im Dampfkessel verborgene Erzeugung der
Antriebskraft erscheint als das dynamisch funkelnde Farbzentrum des Bildes“
(Wagner 2011a, S. 100).
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Mühselige Fortbewegung: mit dem Boot über die Themse |
Turner
unterstreicht den Triumph der Technik, indem er auf seinem Bild der
dampfgetriebenen Eisenbahn eine frühere Fortbewegungsart gegenüberstellt. Während
die Eisenbahn auf horizontaler Ebene über das Flusstal hinwegrast, sind auf der
linken Seite mehrere Personen im Begriff, in einem winzigen Ruderboot die
Themse zu überqueren. Um die Unannehmlichkeiten einer solch altmodischen
Reiseart im englischen Wetter vorzuführen, hat Turner die hintere Figur im Boot
mit einem aufgespannten Regenschirm ausgestattet ... Nicht weit davon ist am
Ufer eine Reihe von kleinen menschlichen Figuren auszumachen, zum Teil mit
erhobenen Armen, voller Erstaunen und vielleicht auch erschrocken dem rasenden
Zug auf der Brücke zugewandt. Rechts der Trasse ganz am Bildrand wird ein Pflug
mit zwei vorgespannten Pfeden von einem Bauern über das Feld geführt. Die
Vermutung liegt nahe, dass Turner mit diesen Details demonstrieren wollte, dass
das Zeitalter des Pfluges und auch des Ruderbootes vorbei ist. Denn gerade auf
Flüssen setzte sich schnell das Steam-Boat durch. Pferde- und Menschenkraft
werden durch die Dampfmaschine abgelöst.
Darüber hinaus
rennt, ja fliegt geradezu – heute kaum mehr sichtbar, weil flüchtig als oberste
Schicht gemalt – auf dem Schienenstrang vor der Lokomotive ein Hase her, die Läufe
weit von sich gestreckt. Ohne Zweifel wird das Tier trotz seiner Schnelligkeit
in den nächsten Sekunden von dem Zug überrollt werden. Ob man an diesem
weiteren Detail ein Zeichen von Industriekritik ablesen kann, sei dahingestellt
– das Gemälde ist doch eher vom Stolz auf die beeindruckende technische
Neuerung bestimmt. Turner erweist sich im Gegensatz z. B. zu den englischen Präraffaeliten
oder den deutschen Nazarenern als eminent moderner Maler mit großem Interesse
an der Dynamik industrieller Entwicklungen in England.
Obwohl
Turners Bilder oft heftig kritisiert wurden – sie galten als unfertig, als bloße
Farbsoße, man meinte, nichts erkennen zu können –, war seine Malerei sehr
erfolgreich: Bereits 1802 wurde er als Vollmitglied in die Royal Academy
aufgenommen und übernahm dort sofort eine Reihe von Funktionen. 1804 gehörte er
dem Rat der Akademie an, Aufträge häuften sich, im selben Jahr eröffnete er
eine Privatgalerie, 1807 wurde er zum Professor für Perspektive gewählt, ein
Amt, das er 35 Jahre innehatte. Bis zu seinem Tod 1851 war der Maler mit
wenigen Ausnahmen in den Jahresausstellungen der Royal Academy mit seinen
jeweils neuesten Arbeiten vertreten, die häufig Anlass zu Kontroversen gaben.
Literaturhinweise
Busch, Werner: Turner und Constable als künstlerische
Antipoden. Zur Topik des Klassischen und des Unklassischen. In: Werner Busch,
Das unklassische Bild. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 190-209;
Busch, Werner: Willam Turners Rain, Steam, and Speed. Der Tod des Hasen, das Ende des Pflugs und der Glanz der Industrie. In: Sandra Abend/Hans Körner (Hrsg.), Schlüsselbilder. morisel Verlag, München 2020, S. 42-61;
Carter, Ina: Rain, Steam and What? In: The Oxford Art Journal 20 (1997), S. 3-12;
Finley, Gerald: Turner and the Steam Revolution. In. Gazette des Beaux-Arts 112 (1988), S. 19-30;
Olson, Donald W./Sinclair, Rolf M.: The origin of Rain, steam, and speed by JMW Turner (1775–1851). In: The British Art Journal 19 (2018), S. 42-47;
Wagner, Monika: William Turner. Verlag C.H. Beck.
München 2011a;
Wagner, Monika: Zur Fusion der Elemente in Turners Malerei. In: Ortrud Westheider/Michael Philipp (Hrsg.), William Turner. Maler der Elemente. Verlag Hirmer, München 2011b, S. 65-73.
(zuletzt bearbeitet am 17. April 2023)
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