Mittwoch, 29. Dezember 2021

Der fruchtbare Pfeil Gottes – Rembrandts Radierung „Abraham bewirtet die drei Engel“ (1656)

Rembrandt: Abraham bewirtet die drei Engel (1656); Radierung
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Im 1. Buch Mose (Kapitel 18,1-15) erzählt das Alte Testament, dass der greise Abraham eines Tages Besuch von drei Fremden erhält: Es ist Gott selbst in Begleitung zweier Engel. Abraham fordert sie auf zu verweilen, lässt ein Kalb schlachten und bewirtet sie unter einem Baum.

Auf einer Radierung aus dem Jahr 1656 hat Rembrandt (1606–1669) das Geschehen vor einen am linken Bildrand angeschnittenen Hauseingang verlegt, hinter dessen halb geöffneter Tür sich Abrahams Ehefrau Sara verbirgt. Die drei Gäste haben sich davor niedergelassen, während der rechts etwas niedriger stehende Abraham sich beeilt, den drei Männern aufzuwarten: Die Dreiergruppe zu einem Halbkreis ergänzend, scheint gerade mit einer Kanne aus einem Vorratskeller aufzusteigen; demütig nähert sich der Greis seinem ältesten Gast, um ihm das Trinkgefäß zu füllen. Eine Schüssel mit Fladenbroten hat er schon bereitgestellt.

Rembrandt hat die Szene in leichter Untersicht gestaltet; der Betrachter befindet sich oberhalb Abrahams, aber unterhalb von Gottvater. Abweichend von der Bildtradition, sind nur die beiden Begleiter als Engel gekennzeichnet, während Gottvater als greiser Patriarch mit langem Bart und exotischer Kopfbedeckung erscheint, zusätzlich hervorgehoben durch Lichtführung und Figurenmaßstab. Die Fremden haben bereits mit dem Mahl begonnen, in dessen Verlauf sie Abraham und der nicht minder betagten, bis dahin unfruchtbaren Sara einen Sohn voraussagen. Diesen Moment der Prophezeiung stellt Rembrandt dar: Gottvater weist mit der linken Hand in Abrahams Richtung, offenbar spricht er ihn an. Sara steht hinter der Tür und lacht, wie die Bibel berichtet, ungläubig über diese Aussicht, wofür sie von Gott getadelt wird. Tatsächlich wird sie mit Isaak schwanger. Abraham hatte zuvor mit seiner Magd Hagar seinen ersten Sohn Ismael gezeugt (1. Mose 16); die beiden werden nach Isaaks Geburt von Abraham verstoßen (1. Mose 21,8-21). Der bogenschießende Knabe in Rückenfigur deutet den Fortgang der Geschichte an: Es ist Ismael, der sich nach der Verstoßung als sicherer Schütze beweisen wird (1. Mose 21,20).

Ismael ist im Begriff, sehr konzentriert einen Pfeil abzuschießen. Das ließe sich, so Jürgen Müller, auf die bevorstehende Empfängnis Saras beziehen: „Schon im nächsten Augenblick, sobald der Pfeil von der Sehne schnellt, wird auch Gottes Vorhersage eintreffen und das Abraham gegebene Versprechen Wirklichkeit“ (Müller 2017, S. 146). Um dies zu verdeutlichen, setzt Rembrandt Ismael ins Zentrum des Blattes – der Junge stellt damit den Schlüssel zum tieferen Verständnis der Radierung dar.

Rembrandt: Vier Orientalen unter einem Baum (um 1656);
London, British Museum
Raffael: Triumph der Galatea (1506); Rom, Villa Farnesina
Für die Gruppe der exotisch anmutenden Fremden, die auf einem Teppich um die Fladenbrot-Schüssel sitzen, hat Rembrandt auf das Vorbild einer indischen Miniatur zurückgegriffen, die sich in seiner Sammlung befand bzw. von der er eine Nachzeichnung anfertigte. Auch die Physiognomie Gottvaters, die Kanne rechts und der kaum Tiefenräumlichkeit erzeugende Landschaftshintergrund sind dort vorgebildet. Für den bogenspannenden Ismael auf einen der pfeilschießenden Putten aus Raffaels Triumph der Galatea in der römischen Villa Farnesina zurück, und zwar über einen Nachstich von Hendrick Goltzius. „Rembrandt macht sich hier indirekt über jene Kritiker lustig, die ihm die Unkenntnis der Werke Raffaels vorwerfen. So wird sein Zitat zu einer Art ,Augenzwinkern‘ für Eingeweihte“ (Müller 20917, S. 146).

Rembrandt: Die Verstoßung der Hagar (1637); Radierung
Der Hauseingang taucht übrigens bereits an gleicher Stelle auf Rembrandts Radierung Die Verstoßung der Hagar von 1637 auf.

 

Literaturhinweise

Brinkmann, Bodo u.a. (Hrsg.): Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnung in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Prestel Verlag, München/ London/New York 2020, S. 308;

Müller, Jürgen: Abraham, die Engel bewirtend (1656). In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 146.


Freitag, 24. Dezember 2021

Ein Andachtsbild im Bild der Andacht – Albrecht Dürers Paumgartner-Altar in München

Albrecht Dürer: Paumgartner-Altar (um 1502/04); München, Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Den Auftrag für diesen Altar erhielt Albrecht Dürer (1471–1528) 1498 von dem Nürnberger Patrizier Martin Paumgartner und dessen Frau Barbara, und zwar anlässlich einer Reise ihres Sohnes Stephan ins Heilige Land. Aufgestellt werden sollte er als Gedächtnisstiftung in der Katharinenkirche. Die Stifterfamilie kniet, der Bedeutungsperspektive entsprechend, im kleineren Maßstab links und rechts von der Geburt Christi auf der Mitteltafel. Die beiden Söhne, die links von Josef neben ihrem Vater zu sehen sind, treten nochmals in den Seitenflügeln als Ritterheilige auf: Stephan Paumgartner als Hl. Georg und Lukas als Hl. Eustachius.

Dürer hat die Geburt Christi bühnenhaft in einer halbruinösen  Architekturkulisse inszeniert, die auch dazu dient, seine Beherrschung der Zentralperspektive zu demonstrieren. Zwischen romanischen Bögen und Durchblicken öffnet sich eine Gasse, die nach hinten in einen zunächst ländlichen Mittelgrund und dann in eine ferne Bergwelt übergeht. Vor den roten Säulen einer Doppelarkade des Stalles kniet Maria unter einem schmalen hölzernen Vordach mit vor der Brust gekreuzten Armen und blickt versonnen auf das Jesuskind herab; der Knabe liegt nackt auf einer Falte ihres tiefblauen Kleides auf dem Boden und streckt die Ärmchen seiner Mutter entgegen.

Von links ist Josef herangetreten, entsprechend seiner Bedeutung etwas „unter Maria“ platziert; in Braunrot gewandet, verharrt er kniend und staunend hinter dem Balken, der ihn von der Mutter-Kind-Szene trennt. Seinen Wanderstab hat er vor sich abgelegt; er hält eine Laterne in der linken Hand und scheint sich auf den Sockel des vorderen Vordach-Pfostens zu stützen. Josef ist in dem Moment gezeigt, als er über eine Stufe von vorne in das Bild „einsteigt“ und andächtig vor Mutter und Kind in die Knie sinkt. „Joseph hat die wichtige und in ihrer Prägnanz neuartige Aufgabe, den Gläubigen in das Bild hineinzuleiten und ihm seine Rolle – die andächtige Verehrung – gleichsam vorzuführen“ (Kutschbach 1995, S. 30).

Albrecht Dürer: Paumgartner-Altar/Geburt Christi
Durch einen gemauerten Bogen des linken Gebäudes lugen zwei Männer als Zuschauer und Zeugen hervor und aus dem Stall rechts der Ochse, während der Esel daneben seinen Blick der Sonne zuwendet. Eine wimmelnd-bunte Schar kindlicher Engel umgibt das Neugeborene und belebt das karge Ambiente. Das von einer mächtigen Sonne oben links im Bild erleuchtete Azur des Himmels verlegt das Geschehen in die Mittagszeit, und die üppige gelbgrüne Landschaft mutet eher sommerlich an, lässt jedenfalls den mitteleuropäischen Betrachter nicht an die Weihnachtszeit denken.

Aus dem Mittelgrund nähern sich zwei ins Gespräch vertiefte Hirten. Sie sind dem Engel hoch am Himmel über ihnen gefolgt, der ihnen aus einer grellgelb leuchtenden Lichtaureole den Weg weist. Die Hirten, über deren Köpfen der Fluchtpunkt der zentralperspektivischen Bildanlage liegt, besetzen die Bildmitte; vor ihnen öffnet sich eine Gasse, die Blickachse zum Christuskind, in die das Licht des Engels und der Sonne fällt. Der Platz unter freiem Himmel ist beidseitig durch die Mauerfluchten der in starker Verkürzung gemalten Gebäude sowie den darüber gespannten Mauerbogen begrenzt. Durch die extremen Verkürzungen dieser Vodergrundbühne entsteht ein starker Tiefensog, den die parallel zur Bildebene gestellte Vordachkonstruktion über Maria und die beiden in Gegenrichtung von hinten zu dem Platz hochsteigenden Hirten auffangen. Dabei bildet der stützende Mittelpfosten, der die Tiefenflucht bremst und das Bild zugleich in zwei Hälften teilt, die Grenze zwischen zwei verschiedenen Sphären: Abgeschirmt wird auf diese Weise die Mutter-Kind-Gruppe – sie präsentiert sich als in sich geschlossene Einheit und eigentliches Objekt der Verehrung. „Maria und das Kind sind nicht nur räumlich herausgehoben, sondern auch psychisch ausgegrenzt“ (Kutschbach 1995, S. 30). In sich selbst versunken, sich gegenseitig anblickend, nehmen sie das Geschehen um sich herum nicht wahr. Sie stellen in gewisser Weise ein – durch das Vordach gerahmtes – „Bild im Bild“ dar. Doris Kutschbach bezeichnet die Mutter-Kind-Gruppe im Paumgartner-Altar deswegen auch als „das Andachtsbild in einem Bild der Andacht“ (Kutschbach 1995, S. 32).

Die real anmutende Örtlichkeit ist aus erkennbaren Versatzstücken zusammengesetzt. Dabei steht das Ruinenhafte der Architekturteile für den Verfall der alten göttlichen Ordnung, die nun durch die Geburt des Heilands abgelöst wird. So sind auch die Pflanzen zu verstehen, die hier und da auf den ruinösen Arkaden wachsen – sie verweisen darauf, dass die Zeit des Neuen Bundes anbricht. „Der Lichtschein im Osten bezieht sich in dieser Deutung auf die Lichtmetaphorik der Geburt Christi und verheißt als Hoffnungsschimmer die Rückkehr ins Paradies, die Ankunft der sol justitiae, der Sonne der Gerechtigkeit“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 96).

Martin Schongauer: Geburt Christi (um 1470); Kupferstich
Dürer verknüpft auf seinem Altar tradtionelle Bildelemente mit neuen: Die Stifter sind als Miniaturfiguren mit Wappen in eine nahezu naturalistisch gestaltete Tiefenräumlichkeit eingefügt – nicht denkbar ohne Dürers Kenntnis italienischer Kunst. Wichtige Bildelemente der Mitteltafel hat Dürer einmal mehr von dem Maler und Grafiker Martin Schongauer (um 1440–1491) übernommen: So sind etwa die zerfallenden Gemäuer, auf denen Pflanzen sprießen, Josephs Laterne oder die herbeieilenden Hirten wie auch die Simultanszene der Verkündigung an die Hirten auf dessen Geburt-Christi-Kupferstich (um 1470) vorgebildet.

Albrecht Dürer: Hl. Georg/Hl. Eustachius (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Seitenflügel hat Dürer symmetrisch angelegt: Die beiden Ritterheiligen stehen fast lebensgroß vor neutralem schwarzem Grund auf einer kargen Bodenfläche mit tief liegendem Horizont. Sie wenden sich wie überdimensionierte Wächter des Geschehens zur Mittteltafel hin, gehören jedoch eindeutig einer anderen Zeit und Sphäre an. Beide sind im Kontrapost abgebildet, beide tragen prächtige, metallisch glänzende Rüstungen im Stil der Zeit um 1500 mit seitlich befestigten Schwertern, schwarz-rote Strümpfe und einen geschlitzten Wams, golddurchwirkte Netzhauben und gespornte, kuhmaulförmige Schuhe; beide halten eine Standarte in der rechten Hand. Die Männer beeindrucken nicht nur durch ihre Plastizität und gelassene Eleganz, sondern ebenso durch ihre sehr individuell und realistisch gestalteten Köpfe.

Der hl. Georg hält eine schlaffe Drachenleiche in der Linken; an seiner Lanze ist das Kreuzbanner der Jerusalemfahrer befestigt. Der hl. Eustachius umfasst mit der Linken den Schwertgriff in Hüfthöhe; sein Banner zeigt das Bild des Gekreuzigten im Geweih, sein Erkennungszeichen. Der hl. Georg, das Gewicht auf dem linken, inneren Bein lastend und das rechte locker nach hinten gestellt, scheint ein wenig zusammengesunken dazustehen, wie ermattet vom Kampf mit dem Drachen. Die aufrechte Haltung seines Gegenüber dagegen strahlt mit dem festen Stand auf durchgedrücktem Knie, vorgestelltem Spielbein und vorgereckter Brust Stolz und Energie aus. Zusammen mit der Mitteltafel stellen die zwei Ritterheiligen dem gläubigen Betrachter seine Aufgaben vor Augen: zum einen Anbetung und Verehrung des Mysteriums der Fleischwerdung Gottes in der Geburt Christi, zum anderen die Verteidigung des christlichen Glaubens.

 

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010; S. 96-99;

Kutschbach, Doris: Albrecht Düer. Die Altäre. Belser Verlag, Stuttgart und Zürich 1995, S. 11-32.

Freitag, 3. Dezember 2021

Happy Ending – Wolf Hubers „Flucht nach Ägypten“

Wolf Huber: Flucht nach Ägypten (1525/30); Berlin, Gemäldegalerie
Der Passauer Hofmaler Wolf Huber (1485–1553) zeigt uns auf diesem nahezu quadratischen Gemälde (52,2 x 65,6 cm) die Flucht Marias und Josefs mit dem neugeborenen Chistuskind vor den Häschern des Herodes (Matthäus 2,13-14) – und verlegt die Szene dabei aus dem vorderen Orient in eine alpine Gebirgslandschaft, genauer: in die Einsamkeit eines lichten Hochwaldes. Die Gruppe, gerade auf einer kahlen Felskuppe angekommen, ist großformatig ins Zentrum gerückt; der tief liegende Augenpunkt des Betrachters lässt die Figuren zusätzlich monumental erscheinen. Über Hügelrücken und schroffes Gestein hinweg sucht die hl. Familie abseits der von Menschen bewohnten Gegenden ihren Weg. Von der Höhe aus schweift der Blick ins Tal, wo sich eine türmereiche Stadt, bekrönt von einer Burg, an den Ufern eines Sees oder breiten Stromes erstreckt. In der Ferne ragen riesige, unersteigbare Berggipfel empor.

Maria sitzt etwas zusammengesunken seitlich auf dem Esel, über dessen Rücken ein helles Tuch ausgebreitet ist. Sie hält das Köpfchen des Kindes schützend an die Brust, während der deutlich ältere Josef das Tier am Zügel führt und seinen Wanderstock über die Schulter gelegt hat. Fürsorglich wendet er sich zurück zu Maria und sucht ihren Blick. Durch das schräg einfallende Sonnenlicht werfen ihre Gestalten scharfe Schatten auf den Grund. Die Köpfe Mariens und des Kindes sind in helle, weiße Tücher gehüllt und ziehen unseren Blick auf sich. Neben dem Esel hat die hl. Familie noch den Ochsen aus dem Stall von Bethlehem mitgenommen, der mit weit geöffneten Augen hinterher trottet. Das lässt sich ganz pragmatisch deuten: Josef führt das Tier wohl mit, um es zum eigenen Unterhalt verkaufen zu können.

Albrecht Dürer: Flucht nach Ägypten (um 1503); Holzschnitt
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Das Motiv des Gemäldes geht auf einen Holzschnitt von Albrecht Dürer (1471–1528) zurück. Bereits um 1503 entstanden, war er Teil von Dürers Holzschnittfolge mit 20 Szenen des Marienlebens, die 1511 in Buchform erschien (siehe meinen Post „Ein Buch für die Himmelskönigin“). Etliche Details sind direkt aus dem Vorbild entnommen – so die auf dem Esel reitende Maria, die dem Betrachter den Rücken zuwendet und das Kind vor der Brust hält; der ihr auf den Rücken geglittene breitkrempige Reisehut zum Schutz vor der Sonne; der voranschreitende, den Esel führende und sich zu Maria umwendende Josef mit dem Wanderstock über der Schulter; Ochs und Esel, ja selbst die im apokryphen Pseudo-Matthäus-Evangelium erwähnte, den Fliehenden ihre Früchte darbietende Dattelpalme, mit der Huber die Szene am linken Bildrand optisch abschließt. Dürer wiederum hatte die wesentlichen Elemente seinerseits einer langen Darstellungstradition entlehnt, insbesondere aber einem Kupferstich von Martin Schongauer (um 1440–1491; siehe meinen Post „Bis zuletzt rein und unbefleckt“).

Martin Schongauer: Flucht nach Ägypten (um 1470); Kupferstich
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Huber schafft jedoch ein durch Landschaft und Stimmung grundlegend anderes, nicht minder eigenständiges Werk: Während bei Dürer das Thema der Flucht im Vordergrund steht, scheint die Bedrohung auf dem Gemälde überwunden. Das nah an den Betrachter herangerückte Paar, der intime Blickkontakt, der helle Himmel, der weite Ausblick in die Landschaft mit See, Stadtsilhouette und beinahe weißem Felsmassiv erwecken einen heiteren Eindruck. Die wärmenden Strahlen der Morgensonne, die den Waldboden und das Laubwerk der Bäume aufleuchten lassen, vermitteln friedvolle Ruhe: Mit dem Beginn des neuen Tages scheint sich die Hoffnung auf ein glückliches Ende der gefahrvollen Flucht zu verbinden. Im Mittelpunkt des Gemäldes steht aber das innige Verhältnis der kleinen Familie, insbesondere Josefs Sorge um das Wohl der Mutter und des Neugeborenen.

Albrecht Dürer: Flucht nach Ägypten (1495/96);
Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
Eine ähnliche Stimmung findet sich bereits auf einer der Tafeln aus Dürers Altar der Sieben Schmerzen Mariae (1495/96). Hier sind die Figuren wie bei Huber nicht nur nah an den Betrachter gerückt, sondern auch enger zueinander als auf Dürers Holzschnitt von 1503. Die Heilige Familie sowie der Esel könnten durchaus als Vorbild für Hubers Gemälde gedient haben. Das gilt auch für die Darstellung des Waldes: Dürer gestaltet hier „erstmals mit den über den oberen Bildrand mittels Überschneidung hinauswachsenden Stämmen den Eindruck eines natürlichen, betretbaren Waldes, den die Heilige Familie durchwandert hat“ (Stadlober 2006, S. 302).

Wolf Huber: Heimsuchung Mariae (1525/30); München, Bayerisches Nationalmuseum
Hubers Tafel war kein Einzelbild, sondern Teil eines Flügelaltars mit Szenen aus dem Marienleben (um 1525/30 entstanden), von dem sich eine Heimsuchung Mariae im Bayerischen Nationalmuseum in München erhalten hat.

 

Literaturhinweise

Grosshans, Rainald: Wolf Huber, Die Flucht nach Ägypten (um 1525/30). In: Gemäldegalerie Berlin.
200 Meisterwerke. Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann, Berlin 1998, S. 102-103.

Roller, Stefan/Sander, Jochen (Hrsg.): Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500. Hirmer Verlag, München 2014, S. 82;

Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 300-303;

Winzinger, Franz: Wolf Huber. Das Gesamtwerk. Band I: Text. R. Piper & Co. Verlag, München 1979, S. 180.

Montag, 15. November 2021

Kleiner Ritter in bodenloser Wildnis – Albrecht Altdorfers „Drachenkampf des hl. Georg“ (1510)

Albrecht Altdorfer: Der Drachenkampf des hl. Georg (1510); München, Alte Pinakothek
Albrecht Altdorfer (um 1480–1538) gilt neben Albrecht Dürer (1471–1528) bis heute als einer der „Erfinder der deutschen Landschaftsmalerei“. Besondere Bedeutung kommt hierbei seinem kleinformatigen Drachenkampf des hl. Georg zu (München, Alte Pinakothek). Es ist ein frühes, gesichertes Werk Altdorfers, denn es trägt, kaum sichtbar auf einem Baumstamm, sein Monogramm und die Jahreszahl 1510. Es wurde auf Pergament gemalt und nachträglich auf Lindenholz geleimt. Das einem DIN-A4-Blatt entsprechende Gemälde (28,2 x 22,5 cm) kann nur aus der Nähe betrachtet werden und wurde ursprünglich wohl in einem Kasten liegend aufbewahrt.

Das Bild wird beherrscht von üppig aufragendem Wald und kraftvoll grünender Natur. Die Bildfläche, die eher einer Wand als einer perspektivischen Raumbühne gleicht, ist bis zu den Rändern dicht an dicht mit Vegetation überwuchert. „Der Rahmen schneidet ein Stück Waldwand aus“, so Max J. Friedländer: „Das Bild hört auf, hat aber nirgends ein Ende“ (Friedländer 1923, S. 34). Man sieht das goldgrün flimmernde Blattwerk und meint, der Künstler habe das Wogen der hohen Baumkronen und das Rauschen des Windes festhalten wollen. Den hl. Georg und seinen Kontrahenten bemerkt man erst auf den zweiten Blick: Sie befinden sich fast in der vordersten Bildebene. Die Prinzessin, die befreit werden soll, ist gar nicht zu sehen. In voller, schwarz glänzender Rüstung sitzt der Heilige auf seinem weißen Pferd, das, vor dem erstaunlich kleinen, breitmauligen und insgesamt krötenähnlichen Drachen zurückschreckend, schnaubend die Vorderbeine anhebt. Statt den ihn anfauchenden, allerdings wenig eindrucksvollen Lindwurm anzugreifen, lässt der Ritter die Lanze in seiner Rechten herabhängen und blickt aus geöffnetem Visier interessiert auf das seltsame Wesen vor sich. „Die Szene erinnert eher an ein Märchen, in dem ein Prinz in einem verwunschenen Wald eine weise Kröte nach dem Weg fragt“ (Prater 1991, S. 159). 

 

Der römische Offizier Georg wurde der Legende nach um Anfang des 4. Jahrhunderts wegen seines christlichen Glaubens zu Tode gefoltert. Die Erzählung vom Drachentöter Georg kam dann im 11. Jahrhundert auf, fand aber erst mit der Legenda aurea des Jacobus de Voragine größere Verbreitung und bestimmte fortan maßgeblich das Bild des Heiligen. Dass der hl. Georg im späten 14. Jahrhundert in die Runde der 14 Nothelfer aufgenommen wurde, verhalf seiner Verehrung in breiteren, auch ländlichen Schichten schließlich zum Durchbruch. 

Die Legenda aurea berichtet von einem blutrünstigen Drachen, der die Stadt Silena in Libyen tyrannisierte. Zur Besänftigung mussten ihm die Bewohner Schafe und Menschen opfern. Als das Los auf die Königstochter fiel, weigerte sich der König zunächst, sein Kind dem Drachen auszuliefern. Er musste sich jedoch dem Druck seiner Untertanen beugen, die dieses Opfer forderten. Schließlich brachte er seine Tochter zu dem Drachen, der an einem See hauste. Dort kam der hl. Georg vorbei, sah die verzweifelte Prinzessin und eilte ihr zu Hilfe. Er ritt gegen den Drachen und machte ihn mit einem kräftigen Lanzenstoß kampfunfähig. Auf seine Anweisung hin führte die Prinzessin den verletzten Drachen an ihrem Halsband zurück in die Stadt. Aus Angst wollten die Bewohner fliehen, doch der hl. Georg sagte ihnen, er sei von Gott gesandt, um die Stadt zu erlösen. Als Bedingung für die Tötung des Drachens forderte er die Bekehrung der Bevölkerung zum Christentum. So ließen sich der König und alle Untertanen taufen.

 

Wie in einem Suchbild muss der Betrachter Ross und Reiter im Gewirr von Bäumen und Laub ausfindig machen. Es ist nicht einmal deutlich erkennen, wo die schlanken Baumstämme wurzeln, denn immer neu aufschießende Laubkaskaden überwuchern sie von unten her. Nahtlos geht das Unterholz in dem Gefieder der funkelnden, sprühenden Blätterkronen auf. „Gefächerte Laubmassen durchdringen sich mit wild zerklüfteten; fein perlende Rispen durchziehen steil geführte dunkle Schluchten“ (Prater 1991, S. 159). Das Auge des Betrachters tastet ein prachtvoll wimmelndes Blätterchaos ab, das sich unbegrenzt nach links und rechts, nach oben und nach unten ausbreitet. Rechts hinter dem Drachen öffnet sich der undurchdringlich wirkende Wald zu einer Lichtung, die den Ausblick auf zwei Bergrücken in der Ferne und ein winziges Himmelssegment freigibt. Leider ist diese Partie des Bildes nachträglich überarbeitet worden, sodass offen bleiben muss, ob sich an dieser Stelle im Original tatsächlich ein Landschaftsausblick befunden hat oder vielleicht doch die Prinzessin zu sehen war.

In einem Laubwald wie diesem mit einem dichten, nach oben abgeschlossenen Dach und angefüllt mit dschungelhaftem Dickicht müsste es eigentlich dunkel sein, oder das Tageslicht sollte nur partiell, wie etwa durch die kleine Öffnung mit dem Landschaftsausschnitt, eindringen können. Doch Altdorfer hat das Blattgewoge mit unzähligen feinen goldgelben Lasuren und Lichtreflexen überzogen, die mit realistischen Beleuchtungsverhältnissen nicht in Einklang zu bringen sind. Licht, das nicht nur auf den Blattspitzen und den Gewölbefächern der Baumkronen liegt, scheint den Laubwald auch von innen her zu durchweben. Andreas Prater sieht in Altdorfers Vegetation deswegen „einen Goldgrund mit anderen Mitteln, eine Transformation dieses aus der Spätantike tradierten und im gesamten Mittelalter verwendeten, erstrangigen Bildelementes“ (Prater 1991, S. 163). Der Goldgrund wurde in diesen Jahrhunderten verwendet, um religiösen Darstellungen eine sakrale Aura zu verleihen; er war Hinweis auf die himmlische Sphäre und vor allem auf die Gegenwart Gottes.

Der stark verkürzte Drache, dessen Farben dem Walddickicht angepasst sind, ist noch schwerer zu entdecken als der hl. Georg auf seinem Pferd. Man muss ihn regelrecht im Unterholz suchen; die bräunliche Färbung an Kopf und Bauch wirkt geradezu wie eine Tarnung. „Das eigentlich Ungeheuere, so scheint es, ist nicht der Drache, sondern das gewaltige grüne Labyrinth, das tief und flächig zugleich ist, wie ein Teppich, in dem jeder Baum, jede Laubkrone ein eigenes spezifisches Muster vorweisen“ (Prater 1991, S. 159/160). Ob sich die Vegetation botanisch eindeutig bestimmen lässt, ist umstritten: Prater ist der Ansicht, es sei „völlig unmöglich, hier irgend eine besondere Art von Laubgehölz zu erkennen“ (Prater 1991, S. 160); Margit Stadlober dagegen entdeckt „den so genannten Hallenwald mit langen, säulenartigen Stammformen und dicht schließenden Laubkronen des Buchen-Eichen-Waldtyps, der in der Ebene und im unteren Bergland Mitteleuropas auf Sand- und auf Silikatböden wächst“ (Stadlober 2006, S. 244/245). Trotz der Dominanz des Waldes ist die Darstellung ganz auf den Drachenkampf abgestimmt: Die sich wild übereinander türmenden Baumformationen folgen großen Richtungsachsen, diese fügen sich einer Diagonale von links unten nach rechts oben ein, die nach der Neigung des Oberköpers des hl. Georg ausgerichtet ist.

Altdorfers Landschaft ist alles andere als ein plausibler Aktionsraum für den Kampf Mann gegen Bestie – sie ist Sinnbild für die Persönlichkeit des Heiligen, den nach der Legenda Aurea das „frische Grün der Reinheit“ auszeichnete (de Voragine 2014, S. 811). Der Demut des Ritters entsprechen dabei die Größenverhältnisse zwischen Reiter und Kulisse. Sein Mut zeigt sich nicht im Kampf, der beinahe wie eine freundliche Unterhaltung mit dem Drachen wirkt, sondern in seiner gelassenen Haltung im Bodenlosen der Wildnis. Der Verzicht auf eine dramatische Kampfhandlung deutet an, dass Altdorfer seinen hl. Georg als Tugendheld präsentiert: „Gemäß der Legenda Aurea bezwingt er den Drachen nicht durch physische Kraft und Waffengewalt sondern durch Gottvertrauen, Reinheit und Bescheidenheit“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 252). Deswegen haben wir hier auch keine autonome Landschaftsdarstellung nach modernem Verständnis vor uns, sondern ein Bild, das zur religiösen Andacht auffordert.

Albrecht Altdorfer: Der Drachenkampf des hl. Georg (1511); Holzschnitt

Altdorfers 1511 datierter erster großer Holzschnitt zeigt ebenfalls den Drachenkampf des hl. Georg, entfaltet die Szene allerdings nicht im Wald, sondern vor einer steil aufragenden Bergkulisse. Die Prinzessin befindet sich zwar etwas außerhalb des Zentrums am rechten Bildrand, aber sie ist anwesend: Sie hat sich hinter einen Busch geflüchtet, wo sie für den glücklichen Ausgang des Kampfes betet. Pferd und Reiter sind deutlich hervorgehoben, der Drache – groß und scheußlich – windet sich auf dem kahlen Erdboden, vom Lanzenstich des Ritters bereits tödlich verwundet. Von seiner Gefährlichkeit künden die verbrannnte Erde ringsum und die Knochen, die er von seinern Opfern übriggelassen hat. Burg und Stadt im Hintergrund bezeichnen die Orte, die von dem Untier bedroht werden; die Rettungsaktion dient nicht zuletzt ihrem Schutz. Der traditionell gestaltete Holzschnitt zeigt den Ritter als Erretter der Jungfrau und Befreier des Landes, das mit immer neuen Opfern den Appetit des Untiers befriedigen musste.

Wolf Huber: Der Drachenkampf des hl. Georg (1520); Holzschnitt
Wolf Huber (1485–1553), zusammen mit Altdorfer der wichtigste Vertreter der sogenannten Donauschule, hat sich sichtlich von dessen Drachenkampf inspirieren lassen: Ein 1520 entstandener Holzschnitt zeigt den mit gezücktem Langschwert auf den Drachen zureitenden Ritter Georg und dahinter die kniende Prinzessin, die beide inmitten der wildwuchernden Flora kaum zu erkennen sind.

 

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010; S. 64-65 und 252;

Bushart, Magdalena: Sehen und Erkennen. Albrecht Altdorfers religiöse Bilder. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2004, S. 336-344;

de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Erster Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 811-823;

Friedländer, Max J.: Albrecht Altdorfer. Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1923;

Prater, Andreas: Zur Bedeutung der Landschaft beim frühen Altdorfer. In: Karl Möseneder/Andreas Prater (Hrsg.), Aufsätze zur Kunstgeschichte. Festschrift für Hermann Bauer zum 60. Geburtstag. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1991, S. 150-168;

Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 243-248.

 

(zuletzt bearbeitet am 5. November 2023)