Samstag, 27. Februar 2021

Gustave Courbet malt Jo, die schöne Irin (1866)

Gustave Courbet: Jo, die schöne Irin (1866); Stockholm, Nationalmuseum
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Die Irin Joanna Heffernam war in der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Geliebte des amerikanischen Malers James McNeill Whistler (1834–1903) und hatte ihm 1862 und 1864 für zwei seiner berühmtesten Gemälde Modell gestanden: Symphony in White, No. 1: The White Girl und Symphony in White, No. 2: The Litle White Girl (beide in der Lononder Tate Gallery ausgestellt). Whistler und Joanna verbrachten 1865 die Monate Oktober und November in dem mondänen französischen Ferienort Trouville an der normannischen Kanalküste, wo der Maler Gustave Courbet (1819–1877) das Paar kennenlernte. Courbet bewohnte seit September eine Suite des Casinos von Trouville, blieb dort insgesamt drei Monate und schuf in dieser Zeit 35 Gemälde. 1866, als Whistler sich im chilenischen Valparaiso aufhielt und Joanna nach Paris zog, posierte sie für den rothaarigen Akt in Courbets erotischem Skandalbild Le Sommeil. In Auftrag gegeben hatte das Bild der türkische Diplomat Khalil Bey, für den Courbet ebenfalls 1866 das legendäre L’Origine du Monde anfertigte. Es wäre durchaus möglich, dass es auch die schöne Irin gewesen ist, die für dieses Luststück dem Maler ihren Schoß dargeboten hat.

James McNeill Whistler: Symphony in White, No. 1:
The White Girl (1862); Washington, D.C.,
National Gallery of Art

James McNeill Whistler: Symphony in White, No. 2:
The Little White Girl (1864); London, National Gallery

Gustave Courbet: Le Sommeil (1866); Paris, Petit Palais (für die Großansicht einfach anklicken)

Courbet zeigt Joanna im Dreiviertelporträt von links: Sie sitzt an einem Frisiertisch und streicht mit ihrer rechten Hand locker durch eine Strähne ihres geöffneten, weit über die Schultern fließenden kastanienroten Haares. Joanna wird ohne Schmuck gezeigt und trägt ein schlichtes schwarzes Kleid sowie eine weiße, oberhalb des Busens von einem eingesetzten Spitzenband durchbrochene Bluse. In ihrer auf dem Tisch aufgestützten Linken hält sie einen ovalen, schwarz gefassten Handspiegel. In ihm betrachtet sie aus blaugrünen Augen mit melancholisch abwesendem Blick, der durch eine über die linke Baue fallenden Locke leicht verschattet wird, ihr Gesicht. Oder ist es der prüfende, skeptische Blick einer Frau, die sich ihrer Schönheit bewusst, aber doch auch von Selbstzweifeln nicht frei ist?

Courbet rückt seinem selbstvergessenen Modell beinahe aufdringlich nah. Von drei Seiten des Rahmenes angeschnitten, füllt es die gesamte Malfläche bis auf ein wenig olivdunklen Grund. Joannas Haar ist überall im Bild: Flechten liegen nicht nur in ihrer rechten Hand, sondern schauen auch unter der linken hervor; die langen gelockten Wellen reichen links und rechts bis fast an den Bildrand. Die Haarfülle wirkt wild, fast ungebändigt; das Gesicht scheint in ihr nur eingebettet.

William Holman Hunt: Awakening Conscience (1853); London, Tate

Dante Gabriel Rossetti (1866/68, überarbeitet 1872/73); Wilmington, Delaware Art Museum

Die feingliedrige Frau mit aufgelöstem schulterlangem Haar war im 19. Jahrhundert besonders bei den Präraffaeliten ein beliebtes, häufig auch ambivalentes Motiv. Während sie auf dem Gemälde Awakening Conscience (1853) von William Holman Hunt (1827–1910) als gefallene, aber reuige „femme fragile“ an Maria Magdalena erinnert, zeigt Dante Gabriel Rossetti (1828–1882) in Lady Lilith seine Gefährtin Fanny Cornforth als eine kalte „femme fatale“, deren schönes Haar die Macht besitzt, die Herzen der Männer in ein tödliches Netz zu verstricken.

Courbet scheint überaus zufrieden gewesen zu sein mit seinem Porträt von Joanna, denn er fertigte drei weitere nahezu identische Wiederholungen gleichen Formats an, die koloristisch und maltechnisch nur minimal vom Original abweichen. Von diesen vier Fassungen gilt die Stockholmer Version als das Urbild; sie ist ebenso wie die Ausführung im New Yorker Metropolitan Museum mit „66“ datiert. Die beiden anderen Bilder befinden sich in Kansas City und in einer Schweizer Privatsammlung.

 

Literaturhinweise

Albrecht, Juerg: Gustave Courbet, Portrait de Jo, la belle Irlandaise. In: Beat Wismer (Hrsg.), El Greco bis Mondrian. Bilder aus einer Schweizer Privatsammlung. Wienand Verlag, Köln 1996, S. 62-67.

Herding, Klaus/Hollein, Max (Hrsg.): Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 266.


Dienstag, 23. Februar 2021

Ein Blick zu viel – Rembrandts „Diana im Bade“ (1631)

Rembrandt: Diana im Bade (um 1631); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Eine nackte junge Frau sitzt am Ufer eines Gewässers vor einem Weidenstamm, die Beine eingetaucht. Sie blickt uns entgegen, während sie ihren Körper nach links wendet, um ihr Geschlecht und ihre Brust zu bedecken. Dabei führt Rembrandt den Blick des Betrachters über die parallel angeordneten Oberschenkel und den Oberarm der Frau von links unten diagonal ins Bild. Sie muss sich soeben entkleidet haben – sie hat ihren mit Brokatstickerei reich verzierten Mantel aus Samt abgelegt und sitzt auf ihrem plissierten Unterkleid. Ihr heller Körper hebt sich deutlich vom dunklen Hintergrund des Waldes ab; das Wasser im Vordergrund erweckt die Illusion, als spiegele sich hier das Mondlicht – Rembrandt verleiht seiner Szene auf diese Weise einen nächtlichen Charakter.

Doch trotz ihrer Nacktheit macht sie keinen erschrockenen oder gar ängstlichen Eindruck. Die junge Frau wirkt vielmehr recht gelassen – obwohl sie sich mit schamhafter Gebärde zur Seite dreht, scheint sie die Anwesenheit des Betrachters nicht zu beunruhigen. Im Gegenteil: Sie hält seinem Blick stand. Selbstbewusst, wenn nicht gar ein wenig mitleidig, schaut sie auf ihr Gegenüber. Sie ist es, die uns konzentriert ins Auge fasst. Ihr Blick dauert an und beginnt auf uns zu lasten – bis wir mittig am linken Bildrand Köcher und Pfeile entdecken. Erst jetzt wird deutlich, um wen es sich bei der jungen Frau handelt: Es ist Diana, die griechische Göttin der Jagd.

Rembrandt spielt mit seiner um 1631 entstandenen Radierung auf den Mythos vom Jäger Actaeon an: Actaeon beobachtete auf einem seiner Streifzüge, so erzählt es der antike Dichter Ovid in seinen Metamorphosen (3,138–252), die keusche Göttin mit ihren Gefährtinnen beim Baden. Daraufhin wurde er von Diana in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden gerissen. Diese Geschichte hat Rembrandt auch in einem Gemälde dargestellt. In seiner Radierung aber nutzt er das Stilmittel der Ellipse oder Auslassung – er stellt das Geschehen verkürzt dar. Rembrandt verzichtet auf die Gefährtinnen, den Jäger und die Hunde. Deswegen entsteht zunächste der Eindruck, es handele sich um eine einfache Aktszene. Erst wenn man den Köcher entdeckt, wird der mit dem Mythos vertraute Betrachter die Actaeon-Erzählung ergänzen. Und dann feststellen – dass er es ist, den Rembrandt in die Rolle des Actaeon versetzt hat.

Im 17. Jahrhundert wurde die Erzählung vom jungen Jäger Actaeon moralisierend gedeutet: Die Verwandlung in ein Tier charakterisierte sinnbildlich jene Menschen, die sich von ihren körperlichen Begierden steuern lassen. Nicht zufällig hat der Künstler in den Baum hinter Diana ein Astloch eingefügt, dass wie eine Vulva gestaltet ist. Spätestens nach dieser Entdeckung „sieht sich der Betrachter seines lüsternen Blicks überführt“ (Müller 2017, S. 27). Gleichzeitig muss er dann feststellen, dass er selbst in Gefahr schwebt, im nächsten Augenblick in einen Hirsch verwandelt und zum Opfer seiner Augenlust zu werden ...

Auffallend an Rembrandts Diana ist sofort, dass wir hier keinen am klassischen Schönheitsideal der Antike orientierten Frauenkörper vor uns haben – Rembrandt verweigert bewusst die von der Kunsttheorie der Renaissance geforderte Nachahmung bewährter Künstler und Kunstwerke vergangener Zeiten. Rembrandt legt seine Aktdarstellung wesentlich naturalistischer an: Der Künstler präsentiert uns eine Frau, die der Alltagswelt seiner Zeitgenossen entnommen ist – und involviert auch auf diese Weise den Betrachter geschickt in die erzählte Geschichte.

Nackte Frau, auf einem Erdhügel sitzend (um 1631); Radierung

Die Diana im Bade gehört mit der Radierung Nackte Frau, auf einem Erdhügel sitzend zu Rembrandt frühesten Aktdarstellungen – die nahezu gleichformatigen Radierungen wurden möglicherweise als Paar konzipiert. Beide Frauen sitzen in spiegelbildlicher Körperwendung auf ihrem Tuch, einen Arm auf die Bodenerhebung stützend, und blicken direkt zum Betrachter. Bei der nach rechts gewendeten Frau, die ohne Attribute dargestellt ist, könnte es sich um eine Nymphe aus dem Gefolge der Diana handeln. Auch bei ihr wird ansatzweise eine natürliche Umgebung durch einzelne Blattgruppen angedeutet. „Gegenüber der durch Frisur und Körperhaltung kultiviert wirkenden Göttin, deren Körper ebenmäßig hell beleuchtet wird, scheint die andere Gestalt den Typus des unverdorbenen Naturwesens zu vertreten“ (Schröder/Bisanz-Prakken 2004, S. 150). Bestimmend für diesen Eindruck ist nicht nur die von jeder Idealisierung freie Darbietung ihres Körpers, sondern ebenso ihre unbefangene Haltung gegenüber dem Betrachter sowie das offene, in breiten Wellen fallende Haar. Mit großem Realismus sind ihre weiblichen Körperformen wiedergegeben, etwa die Falten, die sich durch den nach links gedrehten Oberkörper bilden, oder der erschlaffte Bauch, der sich schwer in den Schoß zu legen scheint. Dabei ist Rembrandts Darstellung geprägt durch die „subtile Spannung zwischen Beleuchtung und direkter Fixierung des Betrachters, die auch den frühen Selbstbildnissen Rembrandts eigen ist“ (Bevers 1991, S. 182).

Vermutlich war es diese Aktfigur, die den Kunstschriftsteller Andries Pels fünfzig Jahre später zu folgendem kritischen Kommentar veranlasste: „Malte Rembrandt [...], wie dies zuweilen geschah, eine nackte Frau, so wählte er keine griechische Venus zu seinem Modell, sondern eher eine Wäscherin oder eine Torftreterin aus einer Scheuer und nannte seine Bizarrerie: Nachahmung der Natur; alles Uebrige war ihm eitle Verzierung. Schlaffe Brüste, unförmliche Hände, ja die Spuren der Gürtelbänder der Röcke am Bauche und Strumpfbänder an den Beinen  mussten sichtbar werden, wenn der Natur Genüge gethan werden sollte, das heisst seiner Natur, welche keine Regel und keine Grundsätze von Ebenmaß an dem menschlichen Leibe dulden wollte“ (Schröder/Bisanz-Prakken 2004, S. 150).

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen.  Schirmer/Mosel, München 1991, S. 182-184;

Lloyd Williams, Julia (Hrsg.): Rembrandt’s Women. National Gallery of Scotland, Edinburgh 2001, S. 78-79;

Müller, Jürgen: Sex mit dem Sünder. Überlegungen zu Rembrandts Darstellung von Sexualität am Beispiel ausgewählter Radierungen. In: Jürgen Müller/Jan-David  Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 21-35;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 150-151.

 

(zuletzt bearbeitet am 11. Juni 2021) 


Sonntag, 14. Februar 2021

Königliche Pracht trifft göttliche Demut – der Monforte-Altar des Hugo van der Goes

Hugo van der Goes: Anbetung der Könige, Mitteltafel des Monforte-Altars (1470/72); Berlin, Gemäldegalerie
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Der Monforte-Altar des Hugo van der Goes (1440–1482) ist nach einem Jesuitenkolleg im nordspanischen Monforte de Lemos benannt; aus Geldnöten wurde er von dem Kloster zum Verkauf angeboten und 1910 von dem damaligen Direktor des Berliner Kaiser-Friedrich-Museums, Wilhelm von Bode, erworben. Allerdings gelangte der Altar erst 1913 auf dem Seeweg über Hamburg nach Berlin. Die Anbetung der Könige bildete ursprünglich die Mitteltafel eines monumentalen Triptychons, das in der Breite über fünfeinhalb und in der Höhe mehr als zwei Meter maß. Von der Form und den Abmessungen her ist das Werk Rogier van der Weydens berühmter Kreuzabnahme in Madrid (Museo del Prado, siehe meinen Post „Die Schönheit der Trauer“) von 1430/35 an die Seite zu stellen. Van der Goes’ einstiges Triptychon war allerdings nicht für Monforte bestimmt, da das Kloster erst 1593 gegründet wurde. Vermutlich ist der Altar während der spanischen Besetzung der Niederlande in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts geraubt und nach Spanien gebracht worden.

Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme (um 1435/40); Madrid, Museo del Prado
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Aufgrund von Kopien wissen wir, dass sich auf den verlorenen Flügeln einst die Geburt Christi sowie die Beschneidung Christi befanden. Die Mitteltafel weist noch Reste eines ursprünglich um etwa 70 Zentimeter erhöhten Mittelstückes auf, das vermutlich wegen schwerer Beschädigungen fast vollständig abgesägt wurde; die Stallarchitektur setzte sich dort bis zu den Sparren des Satteldaches fort, unter dem ein Engelschor schwebte. (Am oberen Bildrand sind noch Reste zweier Engelsalben erkennbar.) Die Anbetung der Könige besitzt noch seinen Originalrahmen mit den Scharnieren zur Befestigung der Flügel. Der Altar gilt als Höhepunkt im Frühwerk van der Goes’ und wird auf 1470/72 datiert.

Allein das Matthäus-Evanglium erwähnt die „Weisen aus dem Morgenland“, denen der Stern von Bethlehem den Weg zu dem neugeborenen Jesuskind weist (Matthäus 2,1-12). Dort werden sie aber nicht als Könige bezeichnet, und es gibt auch keine Auskunft über ihre Anzahl. Diese Angaben entstammen einer umfangreichen Legendenbildung, die erst im späten 3. Jahrhundert ihren Anfang nahm: Bereits Tertullian (um 150 – um 225) deutete die „Weisen“ als Könige, deren Zahl Origenes (185–253) nach den drei bei Matthäus genannten Gaben festlegte.

Der Monforte-Altar zeigt uns die ans Ziel ihrer Reise angekommenen Könige. Sie repräsentieren nicht nur drei Lebensalter, sondern auch die damals bekannten Kontinente: Der älteste König ist der Europäer Melchior, der mittlere der Asiate Kaspar und der jüngste der Afrikaner Balthasar. Die Ankunft der Könige und die Anbetung des Kindes ereignen sich in einer romanischen Palastruine – sie symbolisiert die vergangene Epoche des Alten Bundes vor der Geburt Christi. Balthasar, jung und in Dreiviertelansicht dargestellt, ist in eine knielange Weste aus rotem Goldbrokat sowie einen dunkelgrünen Umhang mit goldenen Fransen gekleidet; seine spitzen Schnabelschuhe sind mit Goldsporen versehen. Das krause Haar des jüngsten Königs und seine dunkle Hautfarbe sollen auf seine Herkunft verweisen. In der erhobenen Rechten präsentiert er sein Geschenk: ein schweres goldenes Weihrauchgefäß mit rundem Deckel aus Bergkristall, bekrönt von einem sitzenden Wappenlöwen. Hinter ihm steht sein Page, ein blondgelockter Jüngling. Er trägt einen hölzernen Stab und eine Kappe, die mit einer wertvollen Agraffe geschmückt ist, beides Insignien der königlichen Würde seines Herrn.

Ein Meisterstück naturalistischer Malkunst: die im Gegenlicht erstrahlende
rechte Hand des asiatischen Königs Kaspar

Der bärtige Kaspar schickt sich zum Kniefall an; er trägt einen schwarzen Samtmantel, der mit braunem Pelz gefüttert und gesäumt ist, und lederne Reitstiefel. Die rote, goldbekrönte Mütze, die ihm in den Nacken gefallen ist, betont seine ausladende Erscheinung. An seinem Gürtel hängt eine von Leder umhüllte, mit Perlen besetzte Trinkflasche (die auch als Geldbeutel gedeutet wurde) und ein kurzes Schwert mit Kristallgriff. Mit der rechten Hand vollzieht er – im Zusammenhang mit dem Kniefall – eine Geste der Ehrerbietung, während er mit der Linken einen goldenen Kelch in Empfang nimmt: Auf Knien reicht ihm ein Diener mit langen Haaren und grüner Mütze das kostbare Gefäß. Hell hebt sich das Inkarnat Kaspars von dem dunklen Samt ab, wobei die verkürzt wiedergegebene Rechte des Königs im Gegenlicht erstrahlt und die Finger beinahe transparent wirken.

Vorbild für den Betrachter: der europäische König Melchior
In der Mittelachse des Bildes kniet der greise europäische König, ganz ins Profil gewendet und mit seinem langen scharlachroten Mantel die Aufmerksamkeit des Betrachters sofort auf sich ziehend. Mit seinen zusammengeführten, übergroßen Händen betet er das auf dem Schoß seiner Mutter sitzende Kind an. Sein Gewand ist mit Hermelin gefüttert, ebenso wie der aufgeknöpfte und zur Seite geschlagene Ärmel. Das Untergewand, das den Arm eng umschließt, besteht aus grüngemustertem Goldbrokat. „Die Würde, die erhabene Ruhe und der Realismus der Menschenschilderung machen den alten König zur einrucksvollsten Gestalt im Bilde“ (Grosshans 2003, S. 146). Seine Haltung, kniend auf gleichem Niveau wie die Gottesmutter und das Jesuskind, erinnert an die Madonna des Kanzlers Rolin des Jan van Eyck (1390–1441) im Louvre. Durch den tiefen Blickpunkt des Betrachters sehen wir den imposanten Melchior wie die meisten Figuren von unten. Balthasar allerdings blicken wir zum einen von unten ins Gesicht und gleichzeitig, bedingt durch seine Position sehr nah am vorderen Bildrand, von oben auf die Füße.

Jan van Eyck: Madonna des Kanzlers Rolin (um 1436); Paris, Louvre
Maria trägt ein violettes Kleid, einen blauen Umhang und ein weißes Kopftuch. Würdevoll und anmutig blickt sie mit niedergeschlagenen Augen auf das unbekleidete Kind herab, das sie behutsam mit beiden Händen auf dem Schoß hält. Sacht hebt sie die linke Hand ihres Sohnes, um dessen Aufmerksamkeit auf den hohen Besuch zu lenken. Doch das Jesuskind hat den Kopf von Melchior abgewendet – und blickt mit seinen blauen Augen den gläubigen Betrachter an, der sich ebenso wie der alte König anbetend vor dem Erlöser verneigen soll. Links im Vordergrund ist Joseph auf ein Knie niedergesunken; seine Mütze hat er abgenommen und hält sie demutsvoll in der rechten Hand, um die Könige barhäuptig zu begrüßen. Die offene Handfläche seiner nach vorne weisenden Linken deutet Rainald Grosshahn als Geste, mit der der Nährvater Jesu nicht nur die Könige, „sondern vielmehr den Betrachter willkommen heißt und ihn  auffordert näherzutreten“ (Grosshans 2003, S. 149). Wir werden also vom Künstler einbezogen, allerdings dezenter als in seiner späteren Anbetung der Hirten (um 1480, ebenfalls in der Berliner Gemäldegalerie; siehe meinen Post „Ein Schauspiel für die ganze Welt“).

Hugo van der Goes: Anbetung der Hirten (um 1480); Berlin, Gemäldegalerie
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Die zentralperspektivisch angelegte Quaderwand, vor der Maria sitzt, zieht den Blick des Betrachters geradezu sogartig in die Tiefe. Dort sind weitere Personen abgebildet, darunter zwei Pagen, die an einem Holzzaun lehnen und zu Maria blicken. Wie bei dem bärtigen Mann links von ihnen dürfte es sich vermutlich um Bildnisse von zeitgenössischen Personen handeln, die wir nicht kennen. Der Ausblick ins Freie am linken Bildrand zeigt eine heitere, sommerliche Landschaft: Die Bäume sind voll belaubt, die begrünten Hügel und das vom Wind leicht bewegte Wasser, in dem sich Häuser und Bäume spiegeln, unterstreichen die friedliche Stimmung. Die Hügelreihe scheint sich hinter der Stallruine fortzusetzen.

In der Ferne weist ein Schafhirte seinen Begleiter auf ein Dorf hin, das sich an einem Bach befindet: Mit der Ansammlung von Häusern, links hinter der Ruine, ist Bethlehem gemeint. Einige der Bauwerke haben eher städtischen Charakter, darunter eines mit Zinnen und zierlichen Ecktürmchen. In der Legende des Johannes von Hildesheim aus dem 14. Jahrhundert wird davon berichtet, dass es die Hirten waren, die den Königen vom Wunder der Christgeburt erzählt und ihnen den rechten Weg gewiesen hatten.

Von diesem Dorf links oben im Hintergrund sind die drei Herrscher aufgebrochen, haben die Brücke überquert, sind hinter dem Bretterzaun um die Ecke der zerfallenen Mauer geschritten und haben dann das Gebäude von rechts durch die verfallene Tür betreten. Der niedrige Holzzaun bildet eine Art Grenze zwischen Vorder- und Mittelgrund: Er trennt den sakralen Bereich von dem profaneren Geschehen, das sich dahinter abspielt. Damit wird nochmals unterstrichen, dass der Betrachter in die Königsanbetung einbezogen ist, ohne von dieser Barriere getrennt zu sein.

Die lebensgroßen Figuren im Vordergrund sind nach hinten nur wenig verkleinert, sodass Maria und der greise König den Bildrahmen sprengen würden, wenn sie sich aufrichteten. Die nahsichtige Perspektive führt bei der räumlichen Anordnung der Figuren dazu, dass ihr Hintereinander „geradezu gewaltsam in ein Übereinander auseinandergezerrt“ (Pächt 1994, S. 164) wird. Deswegen scheint die knapp hinter dem halb knienden Joseph befindliche Maria hoch über ihm zu thronen. Wenn die Figuren im Vordergrund, vor allem Joseph und der älteste König, von den Proportionen her ein wenig zu groß und zu wuchtig erscheinen, dann ist dies auch eine Folge der beschnittenen Mittelpartie der Tafel, wodurch die gesamte Komposition in Mitleidenschaft gezogen wird. „Es fehlt ihr die räumliche Tiefe und Weite, die die Tafel vor der Abtrennung der zinnenförmigen Überhöhung einst besessen haben muss“ (Grosshans 2003, S. 155).

Hugo van der Goes: Anbetung der Hirten, Mitteltafel des Portinari-Altars (1473/77); Florenz, Uffizien
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Bis heute beeeindruckt, wie meisterhaft van der Goes Brokatstoffe, Gold, Perlen und wertvolle Pelze in all ihrer materiellen Kostbarkeit widergibt. Fast alle akribisch genau abgebildeten Pflanzen besitzen einen mariologischen beziehungsweise christologischen Bezug oder galten im Mittelalter als altbewährte Heilkräuter. Die Iris oder Schwertlilie am linken Bildrand verweist symbolisch auf die zukünftigen Schmerzen der Gottesmutter (Lukas 2,35); der duftende Goldlack, der mit seinen gelben Blüten rechts im Vordergrund wächst, galt als Sinnbild der Liebe Christi und seiner Mutter, die den Menschen entgegenströmt. Die Akelei mit ihren blauen Blüten ist eine der bekanntesten Marienblumen, deren heilende Kraft bei Verletzungen gerühmt wurde. Die am Boden verstreuten Kornähren sind ein Hinweis auf das Brot, das aus dem Weizen gebacken wird: Zum einen wird sich Jesus später selbst als „das Brot des Lebens“ bezeichnen (Johannes 6,35; LUT); zum anderen ist das Brot gemeint, das sich in der Eucharistiefeier in den Leib Christi verwandelt. Auch in van der Goes’ Portinari-Altar oder seiner Anbetung der Hirten haben die Ährenbündel diese symbolische Bedeutung. Die beiden schlichten Tongefäße, die oberhalb von Maria in einer Nische (oder einer Fensterlaibung) zu sehen sind, veranschulichen die Demut der Gottesmutter – sie kontrastieren mit dem Glanz der kostbaren Geschenke, etwa dem kleeblattförmigen, mit Goldmünzen gefüllten Behältnis im Vordergrund.

Rogier van der Weyden: Anbetung der Könige, Mitteltafel des Columba-Altars (1450/56); München, Alte Pinakothek
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Die Anbetung der Könige ist immer wieder mit dem Columba-Altar verglichen worden, einem Spätwerk Rogier van der Weydens (um 1450/56; siehe meinen Post „Kölner Könige an der Krippe“). Van der Goes hat ohne Frage manche Motive übernommen, so etwa den aus der Hand eines halbverdeckten Pagen in Empfang genommen Pokal oder die Position Josephs auf der linken Seite – auch wenn er bei van der Goes nicht aufrecht steht, sondern in einer geradezu schwebenden Haltung kniet. Andererseits ist der älteste König nicht wie bei Rogier mit Maria zu einer pyramidalen Gruppe verbunden, dem Jesuskind das Händchen küssend, sondern bleibt wie ein Stifter mit gefalteten Händen in ehrfurchtsvoller Distanz. Gegenüber dem Columba-Altar ist van der Goes’ Bild eher arm an Figurenbewegung: Von den drei Königen zeigt eigentlich nur der mittlere einen Moment von Vorwärtsbewegung. Die Vertikale Balthasars „wirkt als Damm einer sich hinter ihm stauenden Bewegung, von der nur Ansätze ins Bild reichen“ (Pächt 1994, S. 164). Beide Künstler, van der Weyen wie van der Goes, haben sich bei der Ausstattung ihrer Könige offensichtlich von der Prachentfaltung der burgundischen Herzöge inspirieren lassen, deren Hofhaltung in ganz Europa Staunen erregte.

 

Literaturhinweise

Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 229-230;

De Vos, Dirk: Flämische Meister. Jan van Eyck – Rogier van der Weyden – Hans Memling. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002, S. 127-134;

Graf, Beatrix: Der Monforte-Altar von Hugo van der Goes. Bemerkungen zu Erhaltungszustand, Restaurierung und Maltechnik. In: Jahrbuch der Berliner Museen 45 (2003), S. 255-270;

Grosshans, Rainald: Die Königsanbetung aus Monforte von Hugo van der Goes in der Berliner Gemäldegalerie. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 39 (2003), S. 131-164;

Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 160-165;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 29. Januar 2023)