Dienstag, 12. Juni 2018

Ein König kriegt die Quittung – Rembrandts „Das Gastmahl des Belsazar“


Rembrandt: Das Gastmahl des Belsazar (um 1635); London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Geschichte, die uns Rembrandt auf seinem um 1635 entstandenen Belsazar-Gemälde erzählt, ist dem Alten Testament entnommen, und zwar dem 5. Kapitel des Buches Daniel. Als der babylonische König Nebukadnezar Jerusalem eroberte und das Volk Israel in die Gefangenschaft führte, raubte er auch die geheiligten Tempelgefäße. Sein Sohn Belsazar entweiht die sakralen Gerätschaften, indem er sie bei einem großen Festmahl als Tafelgeschirr benutzt. Bald darauf erscheint eine Hand, die etwas an die Wand schreibt, das keiner der Gelehrten des Königs entziffern kann. Belsazar lässt daraufhin den Juden Daniel kommen, der ihm die hebräischen Worte vorliest und deutet: „So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-parsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben“ (Daniel 5, 25-28; LUT).
Sechs Personen haben sich auf Rembrandts Bild um einen von links ins Bild ragenden Esstisch versammelt; zwei von ihnen sind nur von hinten zu sehen. Auf einer grünlichen Tischdecke ist Gold- und Silbergeschirr aufgetragen, außerdem ein Teller mit tiefblauen Weintrauben. In der Mitte der Szene, die Nachbarn hoch überragend, ist der Babylonier-König Belsazar mit ausgebreiteten Armen aufgesprungen, sein goldener Pokal kippt um, der Wein schwallt auf den Tisch. Erbleichend hat er den Kopf ins Profil gewendet und erstarrt mit aufgerissenem Auge – es springt ihm fast aus der Höhle – vor einem sonnenhaften, in unmittelbarer Nähe erstrahlenden, blendenden Lichtkreis: An dessen Rand ist aus dunklem Gewölk gespenstisch eine lebendig wirkende rechte Hand erschienen und hat „auf die getünchte Wand im Königspalast“ (Daniel 5,5; LUT) soeben die fünfzehn großen hebräischen Schriftzeichen geschrieben; sie glühen wie eben aus dem Feuer genommene Brandeisen.
Das wird ein Fest ohne Notausgang
Belsazar trägt einen goldstrahlenden, mantelartigen, pelzverbrämten Überwurf mit kostbarer Schließe und auf seinem steilen Turban eine Krone. Der Turban selbst ist aus schillernden, perlweißen Tuchbahnen zusammengesetzt; die Edelsteine daran – Onyx, Rubine, Bergkristalle und vor allem der große Stein am Schaft der Turbanquaste – sind aus pastos aufgetragenen Farbklecksen gebildet. Der König hat das Aufleuchten des magischen Lichtkreises in seinem Rücken verspürt und auffahrend sein Antlitz entgegen der breit ausladenden Körperstellung seit- und rückwärts gedreht. Sein entsetzter Blick geht über Schulter und linken Arm. Auch in Rembrandts Opferung Isaaks von 1635 wird die abrupte Kopfwendung durch eine Überraschung von hinten ausgelöst. Dort findet sich auch der erhobene Arm, in dem sich Belsazars Erschrecken ausdrückt (siehe meinen Post Das Messer an der Kehle).
Rembrandt: Opferung Isaaks (1636); St. Petersburg, Eremitage
Belsazar erschreckt mit seiner heftigen Reaktion – sein Wams ist aufgeplatzt, als er aus seinem Stuhl aufspringt – die gesamte Tischgesellschaft. Die verschlüsselte Botschaft vor Augen, steht der König wie versteinert; seine Rechte stützt sich verkrampft auf die Goldschale – ihr nahe gegenüber umschließt eine Frauenhand noch geruhsam die Stuhllehne. Belsazars waagrecht erhobene Linke hält versteift inne. Die blondgelockte Frau hinter ihm drängt bestürzt nach links und ringt verstört die Hände. Belsazars Nachbarin zur Rechten reagiert ebenso entgeistert: Voller Angst fährt sie zusammen und duckt sich reflexhaft vor der mysteriösen Erscheinung; ihr Körper kippt dabei derart schreckhaft in die Horizontale, dass sie den Wein in ihrem gefüllten Pokal ausschüttet. Das leuchtende Rot ihres Kleides ist die einzige intensive Buntfarbe neben den anderen vergleichsweise nahe beieinander liegenden Farbtönen, die Rembrandt ausgewählt hat. Ihre Haltung, vor allem auch die nackten Schultern, könnte Rembrandt aus dem Raub der Europa des italienischen Renaissancemalers Veronese (1528–1588) übernommen haben – eine Kopie des Bildes war in der Amsterdamer Sammlung eines Rembrandt-Auftraggebers zu sehen. 
Veronese: Raub der Europa (um 1584); Rom, Musei Capitolini
Der bärtige Alte und die jugendliche Frau verstärken den Tiefenzug des Bildes, indem der Mann sich vorlehnt, um mehr sehen zu können, während sie mit aufgerissenen Augen vor der Schrift an der Wand zurückweicht. Hinter ihnen erscheint noch eine verschattete Flötenbläserin, die das schaurige Ereignis offensichtlich noch nicht bemerkt hat. Die lebensgroßen Figuren sind so nah an den Bildrand herangerückt, dass sich der Betrachter als unmittelbarer Zeuge dieses Augenblicks erleben muss. Diese Nähe wirkt geradezu beklemmend und weckt das Gefühl eines unheilvollen Zusammengepferchtseins: „Dies ist ein Fest ohne Notausgang“ (Schama 2000, S. 416).
Die beiden Kelche links und rechts von Belsazar verweisen auf den sündhaften Missbrauch, und der so plötzlich im Moment des Schreckens vergossene Wein kündet nicht nur das Ende des Festmahls an, sondern deutet auch auf das Schicksal des Königs voraus, das von einem Augenblick zum anderen umschlägt. Denn ein Kelch zeigt nicht nur, so Hans Kauffmann, Lebensfreude und Festlichkeit, sondern steht auch für „Los, Schicksal, göttliche Prüfung“ (Kauffmann 1977, S. 173) und taucht in diesem Sinn auch immer wieder in der Bibel auf (z. B. Jesaja 57,17 oder Matthäus 26,39). Dieser Umschlag des Glücks – Aristoteles nennt es „Peripetie“ – bzw.  der kurze spannungsgeladene Moment davor, verdichtet sich in der Orakelhand: Rembrandt hat sie genau in dem Augenblick dargestellt, bevor der letzte Buchstabe vollendet und damit das Schicksal des Königs besiegelt ist. Daniel entschlüsselt ihm die Bedeutung der Schrift, und der Herrscher findet noch in derselben Nacht den Tod.

Literaturhinweise
Kauffmann, Hans: Rembrandts „Belsazar“. In: Friedrich Piel/Jörg Traeger (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Braunfels. Verlag Ernst Wasmuth, Tübingen 1977, S. 167-176;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 416-418;
van Thiel, Pieter: Das Gastmahl des Belsazar. In: Christopher Brown u.a. (Hrsg.), Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 184-186;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.   

(zuletzt bearbeitet am 1. Januar 2021) 

Samstag, 9. Juni 2018

Michelangelo niederzwingen – Pierino da Vincis „Samson erschlägt einen Philister“


Pierino da Vinci: Samson erschlägt einen Philister (um 1550); Florenz, Palazzo Vecchio
Der Bildhauer Pierino da Vinci, Neffe des berühmte Leonardo, gehört zu den schnell erloschenen Sternen am Kunsthimmel – er starb im Alter von nur 23 Jahren an Malaria (1529–1553). Seine wichtigsten Werke entstanden während seiner letzten fünf Lebensjahre in Pisa. Dorthin war er seinem Mäzen Luca Martini gefolgt, der hier seit 1547 als Statthalter des Herzogs Cosimo I. amtierte. Der Künstlerbiograf Giorgio Vasari berichtet, Luca Martini habe in dieser Zeit einen drei Meter hohen Marmorblock aus Carrara nach Pisa schaffen lassen und ihn ohne bestimmten Auftrag Pierino übergeben. Aus diesem Marmorblock schuf der junge Bildhauer dann um 1550 die Skulptur Samson erschlägt einen Philister (2,23 m hoch).
Die Zweiergruppe steht heute im ersten Innenhof des Florentiner Palazzo Vecchio in einer flachen Wandnische, dem Eingang gegenüber. Doch dort wurde sie erst 1592 aufgestellt, anlässlich der Taufe Cosimos II. Dass es sich nicht um den ursprünglichen Aufstellungsort handelt, lässt die Statue selbst erahnen: Ihre sehr unterschiedlichen Ansichten verlangen regelrecht, dass der Betrachter die Figur umschreitet, wenn er erfassen will, was eigentlich dargestellt ist. Denn nur wenn man sich der Skulptur von links nähert, ist der Eselsbackenknochen deutlich sichtbar, der die Figur als Samson kennzeichnet. Nach alttestamentlicher Erzählung erschlug Samson, nachdem der Geist Gottes über ihn gekommen war, mit dem Kieferknochen eines Esels 1000 feindliche Philister (Richter 15,1-20).
Zum Samson wird der Muskelmann erst durch den Eselsknochen
Tritt man also von links an Pierinos Skulptur heran, ist zwar die Waffe in Samsons rechter Hand gut zu sehen, aber er hat den Kopf abgewendet. Markant ragt sein angewinkeltes linkes Knie hervor, dass auf einem zunächst nicht näher erkennbaren Körper aufliegt. Bei genauerem Hinsehen wird der Betrachter aus diesem Blickwinkel eine Hand bemerken, die nach Samsons rechter Wade fasst. Die Kopfwendung des biblischen Muskelmannes ist quasi die Aufforderung an den Betrachter, weiterzugehen und die Figur zu umrunden. In der anschließenden Frontalansicht präsentiert Samson seinen nackten Körper vollständig, und nun ist auch seine Haltung am besten nachvollziehbar: Mit seinem linken, spitz angewinkelten Bein stemmt er sich gegen den Nacken seines besiegten Feindes, während er sich mit dem rechten Bein auf dem Boden abstützt. Sein Oberkörper wird uns von vorne gezeigt, ist jedoch leicht nach rechts geneigt; der Kopf erscheint in scharfem Profil. Der unterworfene Philister muss sich unter der Last Samsons zusammenkauern, sein Gesicht ist in der Frontalansicht nicht zu sehen; die Linke Samsons, die in den Schopf des Gegners greift, drückt dessen Kopf nach hinten. Die durch die Drehung des eingeklemmten Armes und das Gewicht Samsons „besonders stark hervortretende Rückenmuskulatur des Philsters und das wie ein zusammengepreßtes Polster zwischen die Kontrahenten geschobene Tuch werden Druck und Gegenwehr der Kämpfenden zusätzlich unterstrichen“ (Kusch-Arnhold 2008, S. 211).
Michelangelo aus dem Feld schlagen
Die Ansicht von rechts zeigt uns einen hoch über dem Besiegten aufragenden Samson. Sein Antlitz ist „von Anstrengung gezeichnet, während sich das Gesicht des Philisters schmerzhaft verkrampft“ (Plackinger 2016, S. 105). Und dieses nach unten gepresste Gesicht bietet nun eine wirkliche Überraschung, denn es zeigt die Züge von niemand anderem als – Michelangelo. Die lockige Kurzhaarfrisur, der Vollbart, der sich am Kinn teilt, die breite Stirn mit den wulstigen Brauen und die deformierte plumpe Nase lassen keinen Zweifel, so Andreas Plackinger, an der Identität des Dargestellten.
Daniele de Volterra: Michelangelo-Büste (1564/66); Paris, Louvre
Ohne Frage bezieht sich Pierinos Samson auf Michelangelos zweifigurige Sieger-Skulptur, die heute ebenfalls im Palazzo Vecchio aufgestellt ist (siehe meinen Post „Auftakt der manieristischen Skulptur“). Darüber hinaus wird in der Casa Buonarroti in Florenz auch ein Ton-Bozzetto Michelangelos mit zwei kämpfenden Figuren aufbewahrt, der als Entwurf zu einer Samson-Philister-Gruppe gilt. Vergleichbar ist hier, dass der Überlegene den Unterlegenen gleichzeitig mit dem angewinkelten Bein und dem ausgestreckten Arm niederdrückt. Das spitz angewinkelte Bein geht andererseits ebenso wie die betonte Rückenmuskulatur des Philisters auf Michelangelos Sieger zurück. Allerdings erhebt sich Pierinos Samson weder wie der Sieger leicht und ungehindert üner dem völlig machtlsoen Gegener, noch sind die beiden Gestalten in einen hin und her wogenden Kampf verstrickt wie bei Michelangelos Bozzetto, der mit der niederschnellenden Rechte der stehenden Figur ein Ende finden wird. „Samson dagegen lastet mit seiner ganzen körperlichen Schwere auf dem fast gleich großen Besiegeten. Künstlerische Aufgabe ist hier offensichtlich auch die Präsentation und Ausgestaltung des heroischen Aktes, sie drängt die Darstellung eines Geschehens Triumph oder Kampf in den Hintergrund“ (Kusch-Arnhold 2008, S. 212).
Michelangelo: Der Sieger (1524); Florenz, Palazzo Vecchio
Michelangelo: Ton-Bozzetto für eine Samson-Philister-Gruppe (um 1530);
Florenz, Casa Buonarroti
Stark bewegte und aus antagonistischen Gestalten gefügte Zweiergruppen waren durch Michelangelo in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in die nachantike Skulpturenkunst eingeführt worden und galten als bildhauerische Herausforderung par excellence. „An seinen, teilweise unausgeführt gebliebenen Inventionen eines kämpfenden und eines triumphierenden Typs hatten sich alle nachfolgenden Künstler zu messen“ (Kusch-Arnhold 2008, S. 208).
Pierinos Samson ist daher ein besonderes Beispiel für das Konzept der aemulatio, also dem Bestreben, das berühmte und bewunderte künstlerische Vorbild nicht nur nachzuahmen, sondern zu übertreffen. Denn was wir hier mit dem Samson vor uns sehen, ist eine so unverhohlen von Gewalt geprägte Ausformulierung des Sich-Messens mit Michelangelo, das Andreas Plackinger von „Vatermord“ spricht (Plackinger 2016, S. 103).

Literaturhinweise
Kusch-Arnhold, Britta: Pierino da Vinci. Rhema-Verlag, Münster 2008, S. 200-214;
Plackinger, Andreas: Violenza. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunstdiskurs. Walter De Gruyter, Berlin/Boston 2016, S.103-109;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 221.

(zuletzt bearbeitet am 10. April 2019)