Luca Giordano: Der hl. Michael (1663); Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
In der christlichen Kunst wird Michael als junger, bartloser Mann mit androgynen Zügen, schulterlangem blondem Haar und großen weißen Schwingen dargestellt. Seit dem 16. Jahrhundert bildet sich ein männlich-kraftvoller Typus heraus, doch bleibt der androgyne Zug für ihn charakteristisch: Die Perfektion von Mann und Frau vereinend, verkörpert er die Schönheit der göttlichen Schöpfung. Ein eindrückliches Beispiel für die barocke Gestaltung des Erzengels ist Der hl. Michael von Luca Giordano (1634–1705) in der Berliner Gemäldegalerie, den ich hier näher vorstellen will.
Guido Reni: Der Erzengel Michael besiegt Satan (1635); Rom, Santa Maria della Concezione |
Giordano weicht jedoch trotz dieser Verwandtschaften in einigen Elementen deutlich von Reni ab: Sein Michael führt eine Lanze statt des Schwerts, und zwar in einer Haltung, bei der sein linker Arm den Körper überschneidet. Außerdem präsentiert er ihn nicht stehend, sondern heranfliegend, sozusagen gerade auf einem Fuß „landend“. Diese Züge gehen zurück auf das zweite Vorbild, das sowohl für Reni wie auch für Giordano gleichermaßen als der maßgebliche Ausgangspunkt gelten muss: Raffaels Hl. Michael von 1518. Dessen Bildfassung hat den Typus des antikisch gerüsteten Kriegerengels für den Hl. Michael gültig gemacht und ihn zudem erstmals mit jenen kurzen blonden Locken dargestellt, die ihm eine besondere, fast mädchenhafte Schönheit verleihen. Dabei ist die seltsame Schleife im Haar wohl am ehesten so zu erklären, dass von Raffael ein Frisurdetail des antiken Apolls vom Belvedere – die emporstehende Hauptlocke – in eine Siegerbinde verwandelt wird. Die Verbindung zwischen dem Erzengel und dem Apoll vom Belvedere besteht aber nicht nur darin, dass die Skulptur in der Renaissance als Vollendung des antiken Schönheitsideals galt – sie besteht auch durchaus inhaltlich, da der Sonnengott den Drachen Python bezwang.
Raffael: Hl. Michael (1518); Paris, Louvre |
Bei Raffael wie bei Giordano sind die Arme des Erzengels nach links ausgestreckt und umfassen beidhändig die Lanze. Auf beiden Bildern tritt Michael mit dem rechten Fuß auf den Körper des sich windenden Luzifer, während das andere Bein graziös schräg nach hinten abgespreizt ist. Renis Engel steht dagegen mit dem rechten Standbein auf einem Felsen und mit dem Fuß des linken Spielbeins auf dem Haupt Luzifers. Raffael zeigt den Erzengel, kurz bevor er zusticht; bei Reni holt er mit dem Schwert in der Rechten zum Stoß aus, während er in der Linken eine große Kette hält, mit der er den Satan angebunden hat. Dieses Motiv ist dem 20. Kapitel der Johannes-Offenbarung entnommen: „Und ich sah einen Engel vom Himmel herabfahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Und er ergriff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und der Satan, und fesselte ihn für tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund“ (Offenbarung 20,1-3; LUT). Bei Giordano fehlt die Kette – er hat sich, was die Wahl der Waffe und das Bewegungsmotiv betrifft, an Raffael orientiert. Doch in der Gesamterscheinung steht sein Bild Reni sehr viel näher. Das mag auch damit zusammenhängen, dass er Renis Gemälde bei mehrfachen Romaufenthalten selbst vor Augen hatte, während er Raffaels Komposition nur aus Stichen kennen konnte.
Halb schwebend steht Giordanos Michael auf nichts anderem als auf der Brust seines Widersachers, dem er in diesem Moment den Lanzenstich versetzt. Sein Bild ist erfüllt von einem „mitreißenden barocken Überschwang“ (Schleier 1971, S. 512) gegen den die Komposition Renis statisch, fast steif wirkt. Das entschlossene Auftreten auf den Leib Satans bei Raffael gewinnt bei Giordano etwas regelrecht Tänzerisches. Der stürmische, triumphale Schwung des Engels wird verstärkt durch seine lichte Farbigkeit – sie verleiht Giordanos Bild „den Eindruck des Festlichen“ (Schleier 1971, S. 512).Laokoon-Gruppe, Rom, Vatikanische Museen |
Barberinischer Faun (um 220 v.Chr.); München, Glyptothek |
Besiegter Satan in Laokoon-Pose |
Die Gestalt Luzifers ist die auffallendste Neuerung Giordanos gegenüber seinen beiden Vorbildern Raffael und Reni. In der unteren Zone, wo der Satan und Michael zusammentreffen, ereignet sich das eigentliche Drama des Bildes – dort dringt die Lanzenspitze in den Leib Luzifers, das Blut rinnt; daneben setzt Michael beinahe zart seinen Fuß auf, während der Teufel mit schmerzverzerrt geöffnetem Mund zu brüllen beginnt, was sich wiederholt in dem zum Geheul aufgerissenen Rachen des Höllenhundes. Dabei bildet der pathetisch sich windende Leib Luzifers das ziemlich genaue Spiegelbild zum Körper des Erzengels: „Dessen Thorax zeigt – wenn auch im Gegensinn – die gleiche Haltung, eine ähnliche Masse, sehr vergleichbare Proportionen und ähnlich betonte Elemente wie der Teufelsleib: Thoraxfurche und Brustwarze“ (Haus 1999, S. 83). Bei solcher anatomisch-formalen Spiegelbildlichkeit fallen allerdings die Unterschiede umso deutlicher ins Gewicht.
Jusepe de Ribera: Studie von Nasen und Mündern (1622); Radierung |
Literaturhinweise
Haus, Andreas: Luca Giordanos Hl. Michael in der Berliner Gemäldegalerie. Laokoonrezeption und die künstlerische Konstruktion der Moral. In: Jahrbuch der Berliner Museen 41 (1999), S. 77-88;
Mai, Ekkehard/Repp-Eckert, Anke (Hrsg.): Triumph und Tod des Helden. Europäische Historienmalerei von Rubens bis Manet. Electa Spa, Milano 1987, S. 171-172;
Schleier, Erich: Der Heilige Michael: ein unbekanntes Hauptwerk Luca Giordanos. Zu einer Neuerwerbung des Kaiser-Friedrich-Museums-Vereins für die Berliner Gemäldegalerie. In: Pantheon 29 (1971), S. 510-518.
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.