Sonntag, 15. Oktober 2023

Albrecht Dürer: Rhinocerus (1515); Holzschnitt

dürers rhinozeros

 

kam nie bis zu dürer, wurde nicht von dürer

getätschelt, nicht verwöhnt mit kopfsalaten –

der meister sah es nie: ein märtyrer

der kunst gleichwohl: geschenk von einem sultan

 

der kolonie für seine majestät

in portugal, von bengal oder assam

an bord der nossa senhora in einem spinnweb

von käfig, neben ihm sein wärter ocem,

 

der mürrisch seine kichererbsen mampft.

ein dämon oder urvieh: noch eben in noahs

arche, nun hier; wie es schnaubt und stampft

zwischen den säcken mit kardamom, anis

 

und kümmel, mit kurkuma oder zimt,

die erstaunlichste beschlagene kiste

von all den kisten und fässern, ein band aus samt

am hals, ein goldring rund ums horn, das blitze

 

wie magisch anzieht (so die leichtmatrosen,

die seine nähe meiden). afrika,

im sternbild der azoren dann nach dreizehn

wochen auf formloser see vor anker im viereck

 

von hafenbecken, plätzen und managen

(durch ganz europa fliegen, flattern skizzen),

schließlich erneut aufs schiff, unterm jubel der menschen

weiterverschenkt ans oberhaupt der christen,

 

ein gegenbild sämtlicher engel

mit seiner farb wie ein gesprenckelt schildtkrot;

vom sultan an könig an papst, vom dschungel

zum meer, vom meer zum sturm zum tod;

 

und so verschwindet es im tobenden quarz

der wellen, wie zum hohn genau vor la spezia

(la spezia, ital.: das gewürz),

mit kardamom und allem. schäbiger als putz-

 

lumpen ist es die haut des tage später

vom strand geklaubten leichnams, die zurück

nach lissabon kehrt. dann? mit hanf vernäht,

gestopft wie eine puppe; abermals nach rom geschickt;

 

von einem untersekretär vermerkt, dorthin gepackt,

wo alles vergessen lagert,

nur mehr ein leidlich amüsanter strohsack.

und welche ungerechtigkeit darin liegt,

 

daß es nach wie vor verschollen ist, irgendwo

auf dem vatikanischen subkontinent, verstaubt

ein indien tief in den archiven ruht,

während dürers wesen immer noch stampft und schnaubt.

 

Jan Wagner

 

(aus: Jan Wagner: Steine & Erden. Gedichte. Hanser Berlin, Berlin 2023, S. 78/79)