Donnerstag, 21. Dezember 2023

Auftakt der europäischen Renaissance: Claus Sluters „Mosesbrunnen“ in Dijon

Claus Sluter: Mosesbrunnen; in dieser Ansicht David, eine der sechs Prophetenfiguren

Der Niederländer Claus Sluter (1340–1406) war ab 1389 in Dijon als Hofbildhauer des Herzogs von Burgund, Philipps des Kühnen (1342–1404), tätig. Für das Kirchenportal der Kartause Champmol, die der Herzog 1383 als Grablege seines Hauses gegründet hatte, schuf Sluter zwischen 1388 und 1393 die überlebensgroßen Statuen der Madonna am Trumeau sowie Johannes des Täufers mit Herzog Philipp am linken Gewände und der Herzogin Margarethe mit der hl. Katharina am rechten Gewände. Bereits mit diesen Figuren ging Sluter weit über die Tradition gotischer Skulptur hinein, die insbesondere durch ihre Einbindung in den architektonischen Rahmen gekennzeichnet ist.

Claus Sluter: Portalfiguren der Kapelle von Champmol in Dijon

Als Sluters Hauptwerk gilt der sogenannte Mosesbrunnen, der sich ebenfalls auf dem Gelände der Kartause Champmol befindet. Die Brunnenanlage umfasst ein großes, sechseckiges Brunnenbecken und in dessen Mitte einen mächtigen, ebenfalls sechseckigen Pfeiler, der in der Höhe des Beckenrandes durch ein ausladendes Gesims untergliedert wird. Oberhalb des Simses sind die Seiten des Pfeilers zu Blendarkaturen ausgearbeitet, vor denen jeweils eine alttestamentliche Figur auf einer Konsole steht: Moses, König David und die Propheten Jeremias, Zacharias, Daniel sowie Jesaja. Die Ecken des Pfeilerhexagons sind durch Dienste betont, die in Blattkapitellen enden. Auf jedem Kapitell steht ein Engel unter ein zweites, vorkragendes Gesims gebeugt, dessen Last durch die ausgebreiteten Engelsflügel aufgehoben wird. Die unregelmäßig ausgeformte Oberfläche des Gesimses soll den Felsengrund eines verlorenen Kalvarienberges veranschaulichen.

Die Brunnenanlage war ebenfalls ein Auftrag Philipps des Kühnen und bildete den Mittelpunkt des großen Kreuzganges der Kartause Champmol. Sie ist in Verbindung mit der Kreuzigung als Lebensbrunnen zu verstehen, als fons vitae, eine dem späten Mittelalter vertraute christliche Symbolik. Die Propheten sind durch ihre Inschriften als Vorausdeuter der Passion Christi gekennzeichnet. „Die Erlösungstat Christi wurde durch dieses Monument also in ihrem Zusammenhang mit dem vorbereitenden Heilswalten Gottes im Alten Bund gezeigt“ (Kreytenberg 1985, S. 15).

Sluters Werkstatt führte nach Modellen des Meisters die ornamentalen Teile der Brunnenanlage wie Gesimse und Blendarkaturen bis 1398 aus. Die Skulpturen des Kalvarienberges – den Kruzifixus, Maria, Maria Magdalena und Johannes – vollendete Sluter bis Mitte 1399. Im Juli desselben Jahres wurden die Skulpturen angebracht, wobei die bereits am Querbalken befestigte Christusfigur am Kreuzstamm fixiert und die übrigen Statuen in einer Gussmasse auf der Oberfläche des Brunnenpfeilers gesichert wurden. Während einer schweren Erkrankung Sluters in den Jahren 1399 und 1400 führte Claus de Werve, ein Neffe des Meisters, der seit 1396 in dessen Werkstatt tätig war, die sechs Engel aus, die sich mit ausgebreiteten Flügeln unter das Gesims des Brunnenpfeilers stemmen; es ist anzunehmen, dass er nach genauen Anweisungen Sluters arbeitete. 1401 wurden die Engel an ihrem Bestimmungsort angebracht.

Die ersten drei überlebensgroßen Prophetenstatuen – David, Moses und Jeremias – waren Anfang Februar 1401 vollendet und wurden zur Kartause transportiert, doch erst im Sommer 1402 auf ihre Konsolen gestellt und am Brunnenpfeiler befestigt. Dem bisher fertiggestellten Teil der Brunnenanlage gab der herzogliche Hofmaler bis Juni 1403 die farbige Fassung und Vergoldung. Im November 1403 schließlich trafen die Steinblöcke für die drei anderen Propheten, Zacharias, Daniel und Jesaja, bei Sluter in Dijon ein. Die Statuen waren zweifellos vollendet, als Sluter im Januar 1406 starb.

Die Propheten Daniel und Jesaja

Um die Brunnenanlage gegen Witterungseinflüsse abzuschirmen, ordnete Herzog Johann Ohnefurcht, Nachfolger des 1404 verstorbenen Philipps des Kühnen, bereits 1407 an, dass ein hölzernes Schutzdach über Brunnen und Kalvarienberg zu errichten sei. Deswegen erscheint eine gewaltsame Zerstörung der Kreuzigungsgruppe am wahrscheinlichsten; ihr Zeitpunkt ist unbekannt. In der Französischen Revolution schließlich verlor das Monument mit der Vernichtung des großen Klosterhofes der Kartause auch seinen architektonischen Rahmen und Bezug.

Sluters große bildhauerische Leistung besteht zum einen darin, die vollplastische Skulptur aus ihrer Bindung an die Architektur gelöst zu haben. Seine ernsten Prophetengestalten sind aus der gotischen Gewandfigur entwickelt, haben aber völlig die Schematik vorgeprägter Stilformen abgestreift: „Wenn Sluters Propheten ihre Zeitgenossenschaft auch nicht verleugnen, so sind sie doch einzigartige durchgebildete Individualgestalten, eigenwillige Charaktere, deren unterschiedliche Haltung, deren Blicke, Nachsinnen und Versunkensein sie zu lebensnahen Figuren macht, wie sie im ausgehenden 14. Jahrhundert nur hier entstanden sind“ (Klotz 1997, S. 24). Zum anderen hat der flämische Bildhauer die Ausdruckskraft seiner Skulpturen durch einen bis dahin unbekannten Realismus in der Mimik erheblich gesteigert.

Als Beispiel hierfür betrachte ich zwei Slutersche Prophetenstatuen – Moses und David – etwas näher. An diesen beiden Figuren soll auch erörtert werden, wo genau sich die Ansicht befindet, die dem Betrachter den von Sluter gewählten maßgeblichen Blick auf die verlorene Kreuzigungsgruppe geboten hat.

Der gehörnte Moses mit gewaltigem Gabelbart

Die heute geläufige Benennung des Monuments als Mosesbrunnen ist seit 1824 nachweisbar. Nachdem das Wissen um den ursprünglichen Skulpturenbestand und den einstigen Sinn der Anlage verlorenging, war jene der sechs alttestamentlichen Gestalten am Brunnenpfeiler zu Hauptfigur und Namenspatron ausersehen worden, die wohl von jeher den tiefsten Eindruck auf den Betrachter gemacht hat. In der Dynamik, in der plastischen Kraft und in der Ausdrucksstärke der Gesichtszüge übertrifft der Moses zwar keineswegs die anderen fünf Figuren, doch er forderte allein aufgrund seines Namens und dieser Eigenschaften zum Vergleich mit einer noch berühmteren Statue heraus: mit Michelangelos Moses, als dessen unmittelbarer Vorläufer die Slutersche Figur erschienen sein mag.

Die Propheten Moses und David

Moses steht mächtig aufgerichtet, gehüllt in ein langes, gegürtetes Unterkleid und in ein faltenreiches Obergewand, das auch den Kopf bedeckt und über dem rechten Arm gerafft wird. In seiner rechten Hand trägt er die Gesetzestafeln, mit der Linken hält er ein langes Spruchband, das von der Schulter bis unter die Knie herabreicht. Das Haupt mit der gehörnten Stirn und dem wallenden Haar sowie dem gewaltigen Gabelbart wirkt in seiner Größe regelrecht übersteigert. Es ist leicht in den Nacken zurückgebogen, sodass der Blick etwas aufwärts und nach rechts gerichtet ist. Der Betrachter wird also durch die Figur von links nach rechts geführt, schon um in ihr Gesicht blicken zu können. Die beiden Engel, die ihre Flügel über Moses ausbreiten, wenden ihre Köpfe nicht ihm als gemeinsamer Mitte zu, sondern leiten den Betrachter durch ihre Kopfhaltung von links nach rechts. Frontal vor Moses stehend, sieht der Betrachter aber nicht nur diese Figur sowie die beiden Engel, sondern auch noch Jesaja und David. Diese beiden Figuren sind ebenfalls nicht auf Moses als einer Mitte bezogen; sie wenden sich vielmehr von Moses ab. „Eine solche Gruppierung mit einer Statue in der Mitte, die nicht zum Verharren einlädt, sondern den Betrachter bestimmt, sich nach rechts zu bewegen, kann unmöglich die Hauptansichtsseite des Monuments gebildet haben“ (Kreytenberg 1985, S. 16).

Die Propheten Jeremia und Zacharias

Im Vergleich zu Moses ist der Figur des David durch eine weit größere Ruhe charakterisiert. Sie resultiert aus ihrer frontalen Haltung und zurückhaltenden Gestik sowie der schlichten Drapierung von Mantel und Tunika. Gleichzeitig wirkt der David gelöst, weil sich sein Haupt durch eine geringfügige Drehung aus der Frontalität nach rechts wendet, wohin auch sein Spielbein weist. „Als einzige unter den Statuen am Brunnenpfeiler drängt David den Betrachter nicht zum Fortschreiten, als einzige veranlaßt sie den Betrachter aufzuschauen, lenkt seinen Blick über Profile und Gesims nach oben“ (Kreytenberg 1985, S. 17). Die Locken des Haupthaares, die das breite, durch den Bart vergrößerte Gesicht rahmen, sind so angeordnet, dass sie zusammen mit der Krone ein Dreieck bilden, das sich von den Schultern abhebt und mit der Spitze nach oben weist. Der Richtungsimpuls bezieht seine Energie nicht allein aus der Form des Dreiecks, sondern auch aus den vorbereitenden, lang ausgezogenen Vertikalen, die in der Drapierung der Tunika angelegt sind. Durch die Krone, die die horizontalen Profile am Brunnenpfeiler oberhalb der Statuen überschneidet, erscheint die Figur Davids als die größte des gesamten Zyklus.

Dies sind eindeutige Hinweise darauf, dass die Figur Davids als Mitte der Hauptansichtsseite gemeint ist, die einst in einer Kreuzigung gipfelte. Darüber hinaus neigen die beiden benachbarten Engel vor den Ecken des Pfeilerhexagons die Köpfe dem David als ihrer Mitte zu. Keine der anderen alttestamentlichen Figuren wird durch eine solche Haltung der Engel hervorgehoben. Schließlich wenden sich auch die beiden benachbarten Propheten Moses und Jeremias der Mitte mit David zu. Allein diese drei Figuren treten zu einer in sich geschlossenen Gruppierung zusammen und vereinigen sich zur Hauptansicht mit der verlorenen Kreuzigungsgruppe.

Die trauernden Engel sind ein deutlicher Hinweis auf die verlorene Kreuzigungsgruppe

Ebenso eindringlich gestaltet wie die sechs Propheten sind die auf den Säulen sich erhebenden Engel, die um den Tod des Gekreuzigten trauern – alle einem Typus angehörend und dennoch individuell unterschieden in ihrem Weinen und Klagen „In Italien sind solche Figuren erst im fortgeschrittenen 15. Jahrhundert möglich geworden“ (Klotz 1997, S. 24). Sluters Engelfiguren könnten durchaus flämische Maler wie Robert Campin oder Rogier van der Weyden inspiriert haben.

Claus Sluter: Grabmal Philipps des Kühnen (vollendet von Claus de Werve); Dijon, Musée des Beaux-Arts

Sluter hat für Philipp den Kühnen im Kartäuserkloster Champmol nicht nur die Portalskulpturen und den Mosesbrunnen geschaffen, sondern auch das Grabmal des Herzogs (1405–1411), der in der Kapelle der Kartause beigesetzt sein wollte. Mit diesen drei Arbeiten leitete er, so zumindest Heinrich Klotz, die europäische Renaissance ein: „Erst im Jahr der Fertigstellung des Portalzyklus – 1401 – machten sich in Florenz mit den Konkurrenzreliefs für die zweite Baptisteriumstüre erste Anzeichen eines vergleichbaren Wandels bemerkbar“ (Klotz 1997, S. 22).

 

Literaturhinweise

Klotz, Heinrich: Der Stil des Neuen. Die europäische Renaissance. Klett-Cotta, Stuttgart 1997;

Kreytenbach, Gert: Zur Komposition des Skulpturenzyklus am sogenannten Mosesbrunnen von Claus Sluter. In: Pantheon XLIII (1985), S. 15-20;

Prochno, Renate: Die Kartause von Champmol. Grablege der burgundischen Herzöge (1364–1477). Akademie Verlag, Berlin 2002. 


Donnerstag, 23. November 2023

Das Pfingstwunder zu Vézelay – die Basilika Sainte Marie-Madeleine und der Skulpturenschmuck des inneren Hauptportals

Inneres Hauptportal der Basilika Sainte Marie-Madeleine in Vézelay
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Vézelay ist eine kleine französische Gemeinde, die weit über Frankreich hinaus als Wallfahrtsort und einer der wichtigsten Ausgangspunkte für den Jakobsweg bekannt ist. Hier beginnt die „Via Lemovicensis“ (lat. Bezeichnung für Limoges). Der Stadthügel mit der Abteikirche Sainte Marie-Madeleine zählt seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Die 858/859 gegründete und dem Papst direkt unterstellte Abtei rühmte sich seit der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, das Grab der hl. Maria Magdalena zu besitzen, was dem Ort zu einer eigenen Wallfahrt verhalf, die nach der päpstlichen Anerkennung 1103 sprunghaft anwuchs.

Bereits 1104 wurde der Neubau der ehemaligen Abteikirche geweiht – der allerdings bereits 1120 wieder niederbrannte. Danach entstand ein weiterer Neubau, dem um 1140/50 eine Vorhalle hinzugefügt wurde und in dem zu Ostern 1146 ein historisches Ereignis stattfand, das die gesamte christliche Welt betraf: Bernhard von Clairvaux (1090–1153) ruft vor einer ungeheuren Menschenmenge und zahlreichen weltlichen Fürsten zum Zweiten Kreuzzug auf. Es versammeln sich also in Vézelay nicht nur die Wallfahrer, sondern auch die Kreuzritter Europas.

Saine Marie-Madeleine mit ihrer äußeren Dreiportalfassade
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Als Besonderheit weist Sainte-Madeleine zwei hintereinander liegende Dreiportalfassaden auf. Das äußere Hauptportal zeigte bis 1793 (in diesem Jahr wurde ein Teil der Bauskulptur zerstört oder beschädigt) die Majestas Domini sowie Magdalenen-Szenen. An der inneren Fassade sieht man am rechten Portal Szenen aus der Geburtsgeschichte Christi, am linken den Gang nach Emmaus und den Auferstandenen im Kreis der Apostel, im Mittelportal das Pfingstwunder. Der Skulpturenschmuck dieses Mittelportals, und insbesondere das Tympanon, gehört zu den bedeutendsten bildhauerischen Leistungen des 12. Jahrhunderts und soll hier etwas genauer betrachtet werden.

Christus in der Mandorla gießt den Heiligen Geist aus (für die Großansicht einfach anklicken)
Im Zentrum des Tympanons thront Christus in der Mandorla mit nach links gedrehten Beinen. Unter seinen ausgebreiteten Armen sitzen zu beiden Seiten die Apostel mit Büchern in den Händen und empfangen den Heiligen Geist, dargestellt durch Feuerstrahlen, die von Christi Fingern ausgehen. Ebenso wie Christus werden auch die Apostel dem Betrachter nicht frontal präsentiert, die traditionelle Reihung ist aufgelöst. „Dadurch erscheinen sie in sich stark individualisiert und heben sich zugleich unter einem Zugewinn an Körperlichkeit vom Reliefgrund ab“ (Geese 1996, S. 277). 

Den mit dem Wunder einhergehenden Sturmwind stellen gewellte Wolkenbänder dar. Zu Füßen Christi sieht man, zum zweiten Mal und wie im Tympanon an seinem Schlüssel erkennbar, Petrus sowie – von ihm teilweise verdeckt – eine stark zerstörte, den Gewändern und bloßen Füßen nach ebenfalls männliche Person sich den auf dem Türsturz herandrängenden Völkern zuwenden.

Grundlage für die Darstellung ist der neutestamentliche Text im 2. Kapitel der Apostelgeschichte, der das sogenannte „Pfingstwunder“ schildert: „Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab“ (Apostelgeschichte 2,1-4; LUT).

Christus mit seinen Aposteln und den Völkerscharen im Türsturz (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Türsturz und die acht Bildfelder entlang der Tympanonrundung zeigen eine Fülle figürlicher Gruppen und Szenen, von denen ein Teil als Angehörige exotischer Völker wie Pygmäen, Panotier und Kynokephalen identifizierbar sind. Ungefähr die Hälfte der Figuren lässt sich heute nicht mehr bestimmen; aber sehr wahrscheinlich handelt es sich um einen Katalog von Völkern, der die Aufzählung im Pfingstbericht (Apostelgeschichte 2,9-11) frei umsetzt, „mit Hilfe des verfügbaren ethnologischen Anschauungsmaterials der Zeit“ (Diemer 1985, S. 79). Eine Archivolte mit Tierkreiszeichen und Monatsarbeiten rahmt das gesamte Bogenfeld. Als Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament ist die monumentale, in der zentralen Achse unterhalb von Christus angebrachte Figur Johannes des Täufers am Trumeau zu deuten. In der oberen Zone der Portalgewände sieht man rechts und links je ein Paar diskutierender Apostel; zwei weitere Apostel flankieren am Türpfeiler die weitaus größere Figur Johannes des Täufers, der eine große Schale mit dem Bild des Gotteslammes hält. Diese Skulptur ist vertikal verbunden mit Christus als dessen mit Wasser taufender Vorläufer, während der Sohn Gottes über ihm mit dem Heiligen Geist tauft. Dass die Statue des Täufers am Türpfeiler steht, ist theologisch stringent: Wie die Gläubigen an ihm vorbei ins Kirchenschiff treten, so führt sie ihre Taufe hinein in die Gemeinschaft der Christen.

Vier Kapitelle unterhalb der Gewändeapostel runden das Ensemble ab: links eine bisher nicht eindeutig identifizierte Szene und eine Jagddarstellung, rechts ein kleiner David-Zyklus. Dass nicht alle Zonen der Portalanlage gleichermaßen einem heute ersichtlichen Programm untergeordnet sind, wird an den sechs Aposteln am Gewände rechts und links von der Figur des Täufers deutlich, deren Bedeutung im Kontext bisher nicht erklärt werden konnte.

Detailaufnahme von der rechten Seite des Tympanons (für die Großansicht einfach anklicken)

Ikonografisch auffallend ist, Christus selbst das Pfingstfeuer aussendet. Der Gottessohn war bereits zehn Tage vor dem Pfingstereignis in den Himmel aufgefahren – was Anlass gegeben hat, auch andere inhaltliche Deutungen für das Tympanon vorzuschlagen. So war zum Beispiel Adolf Katzenellenbogen 1944 der Ansicht, in dem Portal seien Himmelfahrt Christi, Pfingsten, Weltgericht und Apostelaussendung ineinandergeblendet. Tatsächlich hat die Ausgießung des Heiligen Geistes durch Christus selbst ihre Textquelle nicht im Pfingstbericht der Apostelgeschichte, sondern in den Evangelien des Lukas und Johannes, wo Christus vor seiner Himmelfahrt verspricht, den Geist zu senden (Lukas 24,49; Johannes 14,26). Pfingsten ist in Vézelay somit als Erfüllung des Sendeversprechens dargestellt.

Dabei ist das Motiv der Apostelaussendung zur Mission im Pfingstwunder mit enthalten: Das Sprachenwunder und die sehr erfolgreiche Predigt des Petrus vor den Angehörigen zahlreicher Völkerschaften sind dafür ein unmissverständlicher Beleg. Die in der Vergangenheit häufiger vertretene These, das Tympanon stehe im Zusammenhang mit dem Kreuzzugsaufruf von 1146, sieht Peter Diemer mit anderen Forschern sehr kritisch: „Bei einem Blick auf die Quellen zum ersten und zweiten Kreuzzug muß man feststellen, daß die Zeitgenossen ihre Rolle keineswegs im Bild der missionierenden Apostel erkannten, sondern in dem des Volkes Israel, das die verworfenen Heidenstämme des Heiligen Landes bekämpft“; die Moslems spielen „eine bis in eschatologische Dimensionen gesteigerte Rolle als Feinde Gottes und Werkzeuge des Bösen; es gilt sie zu schlagen, nicht ihre Seelen zu gewinnen, und ihre Überzeugung gilt nichts“ (Diemer 1985, S. 91). Nirgends, so Diemer, seien die Kreuzfahrer als Nachahmer der pfingsterleuchteten oder missionierenden Apostel dargestellt; und es sei überhaupt unwahrscheinlich, dass ein Sujet mit intendierter Propagandawirkung im Inneren einer Vorhalle statt an der Außenseite angebracht worden wäre.

 

Glossar

Archivolte: plastisch gestalteter Bogenlauf im romanischen und gotischen Portal.

Gewände: durch schrägen Einschnitt in die Mauer entstehende (gestaffelte, mit Figuren, Säulen o. Ä. versehene) Fläche an Fenstern und besonders Portalen.

Majestas Domini (lat. für „Herrlichkeit des Herrn“): ein besonders im Mittelalter beliebtes Bildschema, bei dem Christus auf seinem Thron, oft auch in einer Mandorla und umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten dargestellt wird; häufig hält Christus in seiner linken Hand das Buch des Lebens und seine Rechte ist im Sprech- oder Segensgestus erhoben.

Mandorla: mandelförmige Glorie oder Aura Heiligenschein, der die gesamte dargestellte Figur wie einen Heiligenschein umgibt und bevorzugt bei Christus oder Maria verwendet wird.

Monatsarbeiten: Zyklus von visuellen Repräsentationen der abendländischen Kalendermonate; besonders häufig an gotischen Kathedralen und in der spätmittelalterlichen Buchmalerei und oft in enger Verbindung mit Darstellungen der zwölf Tierkreiszeichen.

Trumeau: mittlerer Steinpfeiler eines Portals, der den steinernen Sturzbalken (Linteau) und damit das Tympanon unterstützt; häufig ist der Trumeaupfeiler durch eine vorgesetzte Figur geschmückt.

Tympanon: oft mit Reliefs geschmücktes, nach oben bogenförmig abschließendes Feld über dem Türsturz eines Portals.

 

Literaturhinweise

Beutler, Christian: Das Tympanon zu Vézelay: Programm, Planwechsel und Datierung. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 29 (1967), S. 7-30;

Diemer, Peter: Das Pfingstportal von Vézelay. Wege, Umwege und Abwege einer Diskussion. In: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 1 (1985), S. 77-114;

Geese, Uwe: Romanische Skulptur. In: Rolf Toman (Hrsg.), Die Kunst der Romanik. Architektur – Skulptur – Malerei. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1996, S. 256-323;

Katzenellenbogen, Adolf: The Central Tympanum at Vézelay. Its Encyclopedie Meaning and Its Relation to the First Crusade. In: The Art Bulletin 26 (1944), S. 141-151;

Low, Peter: “You who once were far off”: Enlivening Scripture in the Main Portal at Vézelay. In: The Art Bulletin 85 (2003), S. 469-489;

Rudolph, Conrad: Macro/Microcosm at Vézelay: The Narthex Portal and Non-elite Participation in Elite Spirituality. In: Speculum 96 (2021), S. 601-662;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


Dienstag, 7. November 2023

Drama, Drama, Drama – der „Farnesische Stier“ in Neapel


Der Farnesische Stier (Ansicht von links); Neapel, Museo Archeologico Nazionale
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Der Farnesische Stier gehört neben dem Laokoon zu den bekanntesten Skulpturengruppen der Antike. Treffend hat man das gewaltige Kunstwerk mit seiner Höhe von 3,10 m als montagna di marmo („Marmorgebirge“) bezeichnet. Es ist aus einem einzigen Block gehauen und wiegt rund 37 Tonnen. Die Skulptur ist uns nur in einer römischen Kopie aus der Kaiserzeit bekannt, die 1545 in den Caracalla-Thermen aufgefunden wurde. Benannt nach der Sammlung Farnese, zu der er seit seiner Entdeckung gehörte, ist der Farnesische Stier bereits im 16. Jahrhundert bearbeitet und vollständig ergänzt worden. Die Ergänzungen betreffen die Köpfe sowie große Teile der Arme und Beine aller großformatigen Figuren, den Oberkörper der sitzenden Frauengestalt, den aufspringenden Hund und den unteren Rand der felsigen Basis. 1788 wurde die Gruppe nach Neapel gebracht, wo sie heute im Museo Archeologico Nazionale ausgestellt ist.
Der antike Historiker Plinius d.Ä. berichtet in seiner Naturalis historia von einer aus Rhodos verschleppten Marmorgruppe der Künstler Apollonius und Tauriskos. Sie zeige die Zwillingsbrüder Zethos und Amphion, die Königin Dirke und einen Stier. Da Rhodos 42 v.Chr. nur ein einziges Mal von den Römern geplündert wurde, wird der Farnesische Stier bei diesem Anlass nach Rom gelangt sein und dort als Vorbild für spätere Kopien gedient haben.
Vorderansicht des Farnesischen Stiers; die rechte Arme des Zethos und der Dirke verdecken
ihre Gesichter (für die Großansicht einfach anklicken)
Worum geht es? Thema der Gruppe ist ein wenig geläufiger griechischer Mythos, der in der Antike hauptsächlich durch ein erfolgreiches Drama des Euripides eine gewisse, vorwiegend literarische Bekanntheit erlangte. Der Mythos handelt von der Rache der Zwillingsbrüder Zethos und Amphion an der thebanischen Königin Dirke, die deren leibliche Mutter Antiope qualvoll erniedrigt hatte. Die thebanische Königstochter Antiope, von Zeus verführt, bringt auf der Flucht vor ihrem erzürnten Vater Nykteus in der Wildnis ihre beiden Söhne zur Welt. Die Brüder werden von einem Hirten aufgezogen. Der thebanische Thronfolger Lykos holt die nach Sikyon geflohene Antiope an den Königshof zurück, wo sie von dessen Gemahlin Dirke als Sklavin gehalten wird. Bei einem rauschenden dionysischen Fest befiehlt Dirke den Hirten Zethos und Amphion, Antiope zur Strafe für ihre Verfehlung an einen Stier zu binden und zu Tode zu schleifen. In diesem Moment erscheint der alte Hirte, der die Brüder zu sich genommen hatte, und offenbart ihnen ihre wahre Abkunft. Daraufhin ergreifen die Söhne die grausame Dirke und binden sie statt der unglücklichen Antiope an die Hörner des Stiers, der sie über Felsen in den Tod reißt.
Ansicht von rechts: Es sieht gar nicht gut aus für Dirke
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Die Marmorgruppe zeigt den Moment kurz vor der Schleifung der Dirke. Die nur knapp mit einem kurzen Mantel (der Chlamys) bekleideten Zwillingsbrüder versuchen, den sich aufbäumenden Stier in ihrer Mitte für einen Augenblick zu bändigen. Für einen Stier ist das keineswegs eine natürliche Haltung, seine typische Drohgebärde wäre ein gebückter Gang mit gesenktem Kopf. Links hat Zethos ein Seil um die Hörner geschlungen und zerrt das wilde Tier zu der vor ihm auf dem Felsen sitzenden Dirke, während Amphion von der anderen Seite den Kopf des Stieres mit beiden Händen ergreift. Mit der Rechten umklammert er das nach oben stoßende Horn, die Linke wiederum umfasst das Flotzmaul, und mit der Kraft beider Arme  dreht Amphion dem Stier den Kopf zur Seite, sodass der Blick seiner rollenden Augen auf die Frau unter ihm fallen muss. „Der Stier ist offenbar unwillig und wird von den jungen Männern mit Brachialgewalt gezwungen, die Hinrichtung zu vollziehen“ (Andreae 1996, S. 30). Nun drohen dessen Vorderhufe die entsetzte und mit der erhobenen linken Hand um Gnade flehende Königin im nächsten Augenblick zu zertrampeln. 
Dirke sucht mit ihrem abgewinkelten rechten Bein Halt auf dem Felsen, während das linke bereits über die Felskante herabbaumelt. Ihr Oberkörper dreht sich zu Amphion hin, dessen Bein sie mit einer Hand umklammert. Ihr rutschendes Gewand ist nur noch um Beine und Schultern geschlungen und entblößt den größten Teil ihres Körpers. Bernard Andreae ist der Ansicht, dass einige Körperteile der Hauptakteure bei den wiederholten Restaurierungen falsch ergänzt wurden: Ursprünglich habe Zethos überkreuz mit seiner Linken in die Haare der Dirke gegriffen und sie mit einem Ruck nach hinten gerissen, um sie rücklings unter den Stier zu werfen.
Antiope: vom römischen Kopisten hinzugefügt
Die kunsthistorische Forschung geht davon aus, dass die vierte Figur, die rechts hinter der dramatischen Szene steht und die zu rächende Antiope darstellt, nicht zur originalen Gruppe gehört. „Sie wirkt vergleichsweise steif und unbeteiligt und scheint nur zur Füllung der ansonsten leeren rechten hinteren Ecke der Grundplatte des Marmorblocks zu dienen“ (Schraudolph 2007, S. 238). Wahrscheinlich endete das hellenistische Original bereits hinter Amphion und dem Stier und hatte somit einen dreieckigen Grundriss. Auch der aufspringende Hund, die sitzende Genrefigur sowie die angelehnte Lyra im Vordergrund wurden vom römischen Kopisten hinzugefügt. Weiterhin ist der gesamte Tierfries weguzdenken, der sich unterhalb der Standfläche um die Gruppe herumzieht. Die originale Basis der Figurengruppe gab wohl den nackten felsigen Grund ohne Details wieder.
Die Komposition der Gruppe fügt sich in der Vorderansicht zu einem spitzen Dreieck zusammen. Bei dieser Ansicht entlang der Vorderkante ergeben sich allerdings sowohl bei Zethos als auch bei Dirke Überschneidungen der Arme mit dem Gesicht. Geht man um die Gruppe herum zu ihrer rechten Flanke, dann lösen sich die Überschneidungen auf, und es wird klarer, was Zethos im Begriff ist zu tun. Die beiden anderen Seiten der Gruppe bieten keine überzeugenden Ansichten. Offensichtlich gab die Aufstellung der Skulptur dem Betrachter einen Weg von der rechten Seite zur Vorderfront vor, auf dem er nach und nach die ganze Dramatik des dargestellten Augenblicks erfassen konnte. Vor der Gruppe stehend, wurde der Betrachter regelrecht in das Geschehen mit hineingerissen: Die Vorderhufe des Stieres galoppieren direkt auf ihn zu, „die Distanz zwischen der Realität des Kunstwerks und der des Betrachters ist aufgehoben“ (Schraudolph 2007, S. 239) – er erlebt die Schrecken der zu erwartenden Bestrafung regelrecht am eigenen Leib mit.
Dieser Stier wird sich nur einen kurzen Augenblick bändigen lassen
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Die Skulpturengruppe zeigt den Kulminationspunkt des Geschehens – in der nächsten Sekunde muss die pyramidale Komposition auseinanderbrechen: Das Tier kann in dieser Stellung keinen weiteren Augenblick verharren, sein Tonnengewicht stürzt unmittelbar auf die Frau unter seinen Klauen, ihr üppiger Leib wird von dem wütenden Stier zermalmt und davongeschleift, die Jünglinge springen zur Seite. „Der Lauf der Tragödie ist nicht aufzuhalten“ (Andreae 2001, S. 163).
Christian Kunze interpretiert die Dirke-Gruppe als Denkmal zu Ehren des pergamenischen Königs Eumenes II. und seines inoffiziell mitregierenden Bruders Attalos, „was natürlich letzten Endes nicht streng zu beweisen ist“ (Kunze 2002, S. 30). Indizien hierfür seien die enge Verbundenheit der Brüder und ihre betont zur Schau gestellte Mutterverehrung. Vorauszusetzen wären gute Beziehungen zwischen Rhodos und Pergamon, wie sie zwischen 201 und etwa 180 v.Chr. und dann wieder nach einem längeren Zerwürfnis seit 164 v.Chr. nachweislich bestanden. Treffen diese Annahmen zu, dann müsste der Farnesische Stier in der Herrschaftszeit Eumenes’ II. zwischen 197 und 158 v.Chr. entstanden sein. 
Bernard Andreae meint es noch genauer zu wissen: Bei der Figur der Dirke handele es sich um eine Personifikation der Gallia, des Volkes der Galater bzw. Gallier, das Eumenes II. und sein Bruder Attalos in der Schlacht am Berg Tmolos bei Sardeis in Phrygien 166 v. Chr. besiegt hatten. „Sie behaupteten, der im nicht weit entfernten Nysa aufgezogene Gott Dionysos sei ihnen zu Hilfe gekommen und habe ihnen den Sieg verliehen“ (Andreae 1998, S. 202) Aus der griechischen Mythologie wissen wir, dass sich Dionysos auch in Gestalt eines Stieres zeigt. „Indem dieser Dionysosstier, von Amphion und Zethos (alias Eumenes und Attalos) gedrängt, die mit Dirke gleichgesetzte Personifikation der Gallia niedertrampelt, wird die ganze Gruppe ein mythisches Bild für die historische Vernichtung der Gallier durch Eumenes und Attalos im Jahre 166 v.Chr.“ (Andreae 1998, S. 203). Entsprechend engt sich für Andreae die Entstehung des Farnesisches Stiers auf die Jahre zwischen 166 und 158 v.Chr. ein.
Adriaen de Vries: Der Farnesische Stier (1614); Gotha, Schlossmuseum
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Der niederländische Bildhauer Adriaen de Vries (1556–1626) schuf 1614 seine eigene Version des Farnesischen Stiers – mit dem Ziel, das antike Vorbild nicht einfach zu kopieren, sondern zu übertreffen, auch wenn das Format mit einer Höhe von 103,5 cm deutlich kleiner als das Original angelegt ist. Stolz verkündete er, dass sein „Toro“ nach der Meinung von Experten „so vihl wert sey, alß der Zu Roma von Marmor stehe“. Die Gruppe von de Vries wiederholt die antike Skulptur recht getreu, zeichnet sich jedoch durch einen steileren und kompakteren Aufbau aus. De Vries gestaltet die Seitenansichten wie auch die Rückseite ästhetisch interessanter als das Original, indem er einige Elemente anders anordnet; außerdem variiert er die Figuren in Alter und Charakter und verleiht ihnen stärkere Bewegungen. Während der Hund z. B. in der antiken Marmorgruppe frei im Vordergrund steht, ist er in der Bronzeskulptur zwischen Antiope und dem sitzenden Jüngling platziert. Er stützt sich mit der Vorderpfote auf dessen Knie, die andere hat er auf den höheren Felsvorsprung gestellt. Damit schafft de Vries eine in die Höhe weisende Bewegung, die am linken Fuß des Jünglings einsetzt. Auch Antiope ist bei de Vries nicht mehr isoliert, sondern sinnvoller in die Darstellung eingebunden. „In der spannungsvolleren Komposition und in den kraftvoll modellierten Körpern, aber auch in der Detailgestaltung, etwa den naturalistischen Szenen mit den Tierdarstellungen am Sockelrand, übertraf er das dagegen gleichförmig und kraftlos erscheinende Vorbild“ (Krahn 1995, S. 32). Ganz ähnlich urteilt Frits Scholten: „Insgesamt ist die Bronzegruppe ausdrucksvoller, aktionszentrierter und allseitiger komponiert als ihr römisches Vorbild aus Marmor“ (Scholten 2000, S. 272).
Giovanni Francesco Susini: Der Farnesische Stier (2. Viertel des 17. Jh.);
Wien, Gartenpalais Liechtenstein
Der Florentiner Bildhauer Giovanni Francesco Susini (1585–1653) hat im 2. Viertel des 17. Jahrhunderts eine verkleinerte Bronze-Nachahmung der antiken Figurengruppe angefertigt. Die mit rotgoldener Lackpatina überzogene Skulptur hat eine Höhe von 42 cm. Susini war ein Schüler Giambolognas (1529–1608), der vor allem die Nachfrage nach dessen Kleinbronzen befriedigte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts führte er den Stil Giambolognas weiter – Susinis Werke wurden bereits 50 Jahre später mit jenen seines Meisters verwechselt.
Charles Lawes-Wittewronge: Der Tod der Dirke (1906); London, Tate Britain
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Vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammt eine weitere Bronzeskulptur, die sich eng an den Farnesischen Stier anlehnt, diesmal wieder im Großformat: Der Tod der Dirke des britischen Bildhauers Charles Lawes-Wittewronge (1843–1911), 1906 entstanden, lässt sich heute vor dem Eingang der Tate Britain in London bestaunen.


Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Der Farnesische Stier. Schicksale eines Meisterwerkes. Rombach Verlag, Freiburg i.Br. 1996;
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 194-206;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001, S. 160-163;
Krahn, Volker: „Von allen Seiten schön“. In: Volker Krahn (Hrsg.), Von allen Seiten schön. Bronzen der Renaissance und des Barock. Edition Braus, Heidelberg 1995, S. 10-33;
Kunze, Christian: Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation. Biering & Bringmann, München 2002, S. 25-38;
Scholten, Frits: Adriaen de Vries, Der Farnesische Stier. In: In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries: 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 272-276;
Schraudolph, Ellen: Beispiele hellenistischer Plastik der Zeit zwischen 190 und 160 v.Chr. In: Peter C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst III. Hellenistische Plastik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2007, S. 237-239.

(zuletzt bearbeitet am 7. November 2023)