Montag, 15. November 2021

Kleiner Ritter in bodenloser Wildnis – Albrecht Altdorfers „Drachenkampf des hl. Georg“ (1510)

Albrecht Altdorfer: Der Drachenkampf des hl. Georg (1510); München, Alte Pinakothek
Albrecht Altdorfer (um 1480–1538) gilt neben Albrecht Dürer (1471–1528) bis heute als einer der „Erfinder der deutschen Landschaftsmalerei“. Besondere Bedeutung kommt hierbei seinem kleinformatigen Drachenkampf des hl. Georg zu (München, Alte Pinakothek). Es ist ein frühes, gesichertes Werk Altdorfers, denn es trägt, kaum sichtbar auf einem Baumstamm, sein Monogramm und die Jahreszahl 1510. Es wurde auf Pergament gemalt und nachträglich auf Lindenholz geleimt. Das einem DIN-A4-Blatt entsprechende Gemälde (28,2 x 22,5 cm) kann nur aus der Nähe betrachtet werden und wurde ursprünglich wohl in einem Kasten liegend aufbewahrt.

Das Bild wird beherrscht von üppig aufragendem Wald und kraftvoll grünender Natur. Die Bildfläche, die eher einer Wand als einer perspektivischen Raumbühne gleicht, ist bis zu den Rändern dicht an dicht mit Vegetation überwuchert. „Der Rahmen schneidet ein Stück Waldwand aus“, so Max J. Friedländer: „Das Bild hört auf, hat aber nirgends ein Ende“ (Friedländer 1923, S. 34). Man sieht das goldgrün flimmernde Blattwerk und meint, der Künstler habe das Wogen der hohen Baumkronen und das Rauschen des Windes festhalten wollen. Den hl. Georg und seinen Kontrahenten bemerkt man erst auf den zweiten Blick: Sie befinden sich fast in der vordersten Bildebene. Die Prinzessin, die befreit werden soll, ist gar nicht zu sehen. In voller, schwarz glänzender Rüstung sitzt der Heilige auf seinem weißen Pferd, das, vor dem erstaunlich kleinen, breitmauligen und insgesamt krötenähnlichen Drachen zurückschreckend, schnaubend die Vorderbeine anhebt. Statt den ihn anfauchenden, allerdings wenig eindrucksvollen Lindwurm anzugreifen, lässt der Ritter die Lanze in seiner Rechten herabhängen und blickt aus geöffnetem Visier interessiert auf das seltsame Wesen vor sich. „Die Szene erinnert eher an ein Märchen, in dem ein Prinz in einem verwunschenen Wald eine weise Kröte nach dem Weg fragt“ (Prater 1991, S. 159). 

 

Der römische Offizier Georg wurde der Legende nach um Anfang des 4. Jahrhunderts wegen seines christlichen Glaubens zu Tode gefoltert. Die Erzählung vom Drachentöter Georg kam dann im 11. Jahrhundert auf, fand aber erst mit der Legenda aurea des Jacobus de Voragine größere Verbreitung und bestimmte fortan maßgeblich das Bild des Heiligen. Dass der hl. Georg im späten 14. Jahrhundert in die Runde der 14 Nothelfer aufgenommen wurde, verhalf seiner Verehrung in breiteren, auch ländlichen Schichten schließlich zum Durchbruch. 

Die Legenda aurea berichtet von einem blutrünstigen Drachen, der die Stadt Silena in Libyen tyrannisierte. Zur Besänftigung mussten ihm die Bewohner Schafe und Menschen opfern. Als das Los auf die Königstochter fiel, weigerte sich der König zunächst, sein Kind dem Drachen auszuliefern. Er musste sich jedoch dem Druck seiner Untertanen beugen, die dieses Opfer forderten. Schließlich brachte er seine Tochter zu dem Drachen, der an einem See hauste. Dort kam der hl. Georg vorbei, sah die verzweifelte Prinzessin und eilte ihr zu Hilfe. Er ritt gegen den Drachen und machte ihn mit einem kräftigen Lanzenstoß kampfunfähig. Auf seine Anweisung hin führte die Prinzessin den verletzten Drachen an ihrem Halsband zurück in die Stadt. Aus Angst wollten die Bewohner fliehen, doch der hl. Georg sagte ihnen, er sei von Gott gesandt, um die Stadt zu erlösen. Als Bedingung für die Tötung des Drachens forderte er die Bekehrung der Bevölkerung zum Christentum. So ließen sich der König und alle Untertanen taufen.

 

Wie in einem Suchbild muss der Betrachter Ross und Reiter im Gewirr von Bäumen und Laub ausfindig machen. Es ist nicht einmal deutlich erkennen, wo die schlanken Baumstämme wurzeln, denn immer neu aufschießende Laubkaskaden überwuchern sie von unten her. Nahtlos geht das Unterholz in dem Gefieder der funkelnden, sprühenden Blätterkronen auf. „Gefächerte Laubmassen durchdringen sich mit wild zerklüfteten; fein perlende Rispen durchziehen steil geführte dunkle Schluchten“ (Prater 1991, S. 159). Das Auge des Betrachters tastet ein prachtvoll wimmelndes Blätterchaos ab, das sich unbegrenzt nach links und rechts, nach oben und nach unten ausbreitet. Rechts hinter dem Drachen öffnet sich der undurchdringlich wirkende Wald zu einer Lichtung, die den Ausblick auf zwei Bergrücken in der Ferne und ein winziges Himmelssegment freigibt. Leider ist diese Partie des Bildes nachträglich überarbeitet worden, sodass offen bleiben muss, ob sich an dieser Stelle im Original tatsächlich ein Landschaftsausblick befunden hat oder vielleicht doch die Prinzessin zu sehen war.

In einem Laubwald wie diesem mit einem dichten, nach oben abgeschlossenen Dach und angefüllt mit dschungelhaftem Dickicht müsste es eigentlich dunkel sein, oder das Tageslicht sollte nur partiell, wie etwa durch die kleine Öffnung mit dem Landschaftsausschnitt, eindringen können. Doch Altdorfer hat das Blattgewoge mit unzähligen feinen goldgelben Lasuren und Lichtreflexen überzogen, die mit realistischen Beleuchtungsverhältnissen nicht in Einklang zu bringen sind. Licht, das nicht nur auf den Blattspitzen und den Gewölbefächern der Baumkronen liegt, scheint den Laubwald auch von innen her zu durchweben. Andreas Prater sieht in Altdorfers Vegetation deswegen „einen Goldgrund mit anderen Mitteln, eine Transformation dieses aus der Spätantike tradierten und im gesamten Mittelalter verwendeten, erstrangigen Bildelementes“ (Prater 1991, S. 163). Der Goldgrund wurde in diesen Jahrhunderten verwendet, um religiösen Darstellungen eine sakrale Aura zu verleihen; er war Hinweis auf die himmlische Sphäre und vor allem auf die Gegenwart Gottes.

Der stark verkürzte Drache, dessen Farben dem Walddickicht angepasst sind, ist noch schwerer zu entdecken als der hl. Georg auf seinem Pferd. Man muss ihn regelrecht im Unterholz suchen; die bräunliche Färbung an Kopf und Bauch wirkt geradezu wie eine Tarnung. „Das eigentlich Ungeheuere, so scheint es, ist nicht der Drache, sondern das gewaltige grüne Labyrinth, das tief und flächig zugleich ist, wie ein Teppich, in dem jeder Baum, jede Laubkrone ein eigenes spezifisches Muster vorweisen“ (Prater 1991, S. 159/160). Ob sich die Vegetation botanisch eindeutig bestimmen lässt, ist umstritten: Prater ist der Ansicht, es sei „völlig unmöglich, hier irgend eine besondere Art von Laubgehölz zu erkennen“ (Prater 1991, S. 160); Margit Stadlober dagegen entdeckt „den so genannten Hallenwald mit langen, säulenartigen Stammformen und dicht schließenden Laubkronen des Buchen-Eichen-Waldtyps, der in der Ebene und im unteren Bergland Mitteleuropas auf Sand- und auf Silikatböden wächst“ (Stadlober 2006, S. 244/245). Trotz der Dominanz des Waldes ist die Darstellung ganz auf den Drachenkampf abgestimmt: Die sich wild übereinander türmenden Baumformationen folgen großen Richtungsachsen, diese fügen sich einer Diagonale von links unten nach rechts oben ein, die nach der Neigung des Oberköpers des hl. Georg ausgerichtet ist.

Altdorfers Landschaft ist alles andere als ein plausibler Aktionsraum für den Kampf Mann gegen Bestie – sie ist Sinnbild für die Persönlichkeit des Heiligen, den nach der Legenda Aurea das „frische Grün der Reinheit“ auszeichnete (de Voragine 2014, S. 811). Der Demut des Ritters entsprechen dabei die Größenverhältnisse zwischen Reiter und Kulisse. Sein Mut zeigt sich nicht im Kampf, der beinahe wie eine freundliche Unterhaltung mit dem Drachen wirkt, sondern in seiner gelassenen Haltung im Bodenlosen der Wildnis. Der Verzicht auf eine dramatische Kampfhandlung deutet an, dass Altdorfer seinen hl. Georg als Tugendheld präsentiert: „Gemäß der Legenda Aurea bezwingt er den Drachen nicht durch physische Kraft und Waffengewalt sondern durch Gottvertrauen, Reinheit und Bescheidenheit“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 252). Deswegen haben wir hier auch keine autonome Landschaftsdarstellung nach modernem Verständnis vor uns, sondern ein Bild, das zur religiösen Andacht auffordert.

Albrecht Altdorfer: Der Drachenkampf des hl. Georg (1511); Holzschnitt

Altdorfers 1511 datierter erster großer Holzschnitt zeigt ebenfalls den Drachenkampf des hl. Georg, entfaltet die Szene allerdings nicht im Wald, sondern vor einer steil aufragenden Bergkulisse. Die Prinzessin befindet sich zwar etwas außerhalb des Zentrums am rechten Bildrand, aber sie ist anwesend: Sie hat sich hinter einen Busch geflüchtet, wo sie für den glücklichen Ausgang des Kampfes betet. Pferd und Reiter sind deutlich hervorgehoben, der Drache – groß und scheußlich – windet sich auf dem kahlen Erdboden, vom Lanzenstich des Ritters bereits tödlich verwundet. Von seiner Gefährlichkeit künden die verbrannnte Erde ringsum und die Knochen, die er von seinern Opfern übriggelassen hat. Burg und Stadt im Hintergrund bezeichnen die Orte, die von dem Untier bedroht werden; die Rettungsaktion dient nicht zuletzt ihrem Schutz. Der traditionell gestaltete Holzschnitt zeigt den Ritter als Erretter der Jungfrau und Befreier des Landes, das mit immer neuen Opfern den Appetit des Untiers befriedigen musste.

Wolf Huber: Der Drachenkampf des hl. Georg (1520); Holzschnitt
Wolf Huber (1485–1553), zusammen mit Altdorfer der wichtigste Vertreter der sogenannten Donauschule, hat sich sichtlich von dessen Drachenkampf inspirieren lassen: Ein 1520 entstandener Holzschnitt zeigt den mit gezücktem Langschwert auf den Drachen zureitenden Ritter Georg und dahinter die kniende Prinzessin, die beide inmitten der wildwuchernden Flora kaum zu erkennen sind.

 

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010; S. 64-65 und 252;

Bushart, Magdalena: Sehen und Erkennen. Albrecht Altdorfers religiöse Bilder. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2004, S. 336-344;

de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Erster Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 811-823;

Friedländer, Max J.: Albrecht Altdorfer. Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1923;

Prater, Andreas: Zur Bedeutung der Landschaft beim frühen Altdorfer. In: Karl Möseneder/Andreas Prater (Hrsg.), Aufsätze zur Kunstgeschichte. Festschrift für Hermann Bauer zum 60. Geburtstag. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1991, S. 150-168;

Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 243-248.

 

(zuletzt bearbeitet am 5. November 2023) 


Die Schleuder Gottes – Gianlorenzo Berninis „David“ aus der Galleria Borghese


Gianlorenzo Bernini: David (1623/24); Rom, Galleria Borghese
(für die Großansicht einfach anklicken)
Gianlorenzo Berninis Skulptur des David (um 1623/24 entstanden) weicht deutlich ab von den bedeutenden Darstellungen dieses biblischen Helden aus der Hand Donatellos, Verrocchios oder Michelangelos (siehe meine Posts Androgyne Sinnlichkeit“ und Stolz und spöttisch“). Im Gegensatz zu Donatellos und Verrocchios Figuren erzählt Michelangelos David zum ersten Mal die Geschichte seines Kampfes mit Goliath ohne Goliath und damit das Ereignis und die Handlung in einer einzigen Figur, und das in einer ruhigen, im Kontrapost stehenden Haltung.
Dieses ruhige Stehen des triumphierenden Siegers wiederum ist bei Bernini der Dynamik des kämpfenden Hirten gewichen. Sein David scheint im Voranstürmen innezuhalten, um aus geduckter Haltung zum entscheidenden Schlag gegen den riesigen Goliath auszuholen. Er verbirgt seine gefährliche Fernwaffe zunächst, fixiert den feindlichen Krieger – und bereits im nächsten Moment wird der kraftvoll modellierte, bogenförmig gespannte Körper losschnellen und den Gegner mit einem einzigen Steinwurf zu Boden strecken. „Selten ist im Medium der Skulptur die auf ein außerhalb der Figur liegendes Ziel gerichtete Energie so überzeugend zur Anschauung gebracht worden“ (Schütze 2007, S. 241/242).
Borghesischer Fechter (1611 aufgefunden); Paris, Louvre
Als mögliches Vorbild für Berninis David und seine raumgreifende Dynamik wird immer wieder auf die Beinstellung des berühmten Borghesischen Fechters verwiesen, einer antiken Marmorfigur, die erst 1611 ausgegraben worden war und die Kardinal Scipione Borghese 1613 gekauft hatte. „Bernini bog jedoch den linken Arm seiner Figur nach unten, damit sie den Stein in die Schleuder klemmen könne; und im Gegensatz zur Ausfallstellung des antiken Gladiators, die in eine einzige Richtung weist, drehte er David in den Hüften, um ihn zum Schleudern ausholen zu lassen“ (Avery 1998, S. 69). Die technische Brillanz, mit der Bernini dabei das nur von einer kleinen Querstrebe gehaltene Flechtwerk der Schleuder wiedergibt, ist bis auf den heutigen Tag atemberaubend.
Myron: Diskobol (um 460/450 v.Chr.);
Rom, Palazzo Massimo alle Terme
Rudolf Preimesberger verweist außerdem auf die berühmte antike Skulptur des Diskobol als Prototyp eines Werfenden, den Bernini sicherlich nicht ignoriert haben dürfte: Die um 460/450 v.Chr. von dem Bildhauer Myron geschaffene Bronzestatue zeigt einen rhythmisch bewegten, kraftvollen Athleten in Aktion allerdings im einzigen Moment der Ruhe, nämlich kurz vor dem Abwurf seines Diskus. Der Diskobol ist durch eine 1,55 m hohe römische Marmorkopie überliefert, die 1781 auf dem römischen Esquilin gefunden wurde. Auch wenn Bernini die Figur selbst noch nicht gesehen haben konnte, war sie doch durch Beschreibungen der antiken Autoren Quintilian und Lukian sehr gut bekannt (Preimesberger 1985, S. 11/12).
Annibale Carracci: Polyphem und Acis (1597); Rom, Palazzo Farnese
Bernini könnte aber auch von der Fülle bewegter Figuren inspiriert worden sein, die Annibale Carracci auf seinem riesigen Deckenfresko in der Galleria Farnese (Rom) geschaffen hatte. Die Vorderansicht seines David ist Carraccis Gestalt des einäugigen Riesen Polyphem entlehnt, die sich anschickt, einen Felsen zu schleudern. „Hier fand Bernini das kunstvolle Heben des hinteren Beins über die Höhe des vorderen sowie die Stellung beider Arme, mit der die muskulöse Gestalt die zerstörerische Last nach rechts wirft“ (Avery 1998, S. 70).
Diente dem Borghesischen Fechter ein Baumstumpf als Stütze, so ist bei Bernini ein Harnisch daraus geworden: Es handelt sich um den königlichen Panzer, den Saul dem Hirtenjungen anbietet, den David jedoch ablehnt (1. Samuel 17,38-40). Anregung für den Harnisch könnten die römischen Dioskuren auf dem Quirinal gegeben haben. Der kaum bekleidete David ist durch die herabfallenden Falten seines kurzen Mantels, den er mit dem Gürtel seiner aus Fell genähten Hirtentasche festklammert, mit der Rüstung verbunden. Unter dem Harnisch liegt eine Leier – das Instrument, auf dem David später seine Psalmen begleiten wird.
Einer der beiden antiken Dioskuren vor dsem Quirinalspalast in Rom
Seit Donatellos Bronzeskulptur wurde Davids Nacktheit als sichtbares Zeugnis für den höheren Schutz verstanden, unter dem er stand und siegte: „David aber sprach zu dem Philister: Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Spieß, ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaoth, des Gottes des Heeres Israels, den du verhöhnt hast“ (1. Samuel 17,45; LUT). Äußerlich alles andere als wehrhaft, ist er innerlich umso stärker: Hans Kauffmann sieht in dem Brustpanzer ein Tugendsymbol; er verweise auf Davids Tapferkeit, deren Stärke sich mit Klugheit paart, „auch Weisheit bedeutet er, weil er deren Sitz, die Brust, schützt“ (Kauffmann 1970, S. 57). Auch der im Alten wie im Neuen Testament erwähnte „Panzer der Gerechtigkeit“ könnte gemeint sein (Jesaja 59,17; Epheser 6,14; LUT).
Ebenso grimmig wie hochkonzentriert fixiert David sein Ziel, die Stirn des riesigen Goliath
Davids Gesichtszüge sind völlig auf den alles entscheidenden Wurf konzentriert, die niedrigen Augenbrauen scharf zur Mitte hin zusammengezogen, die Lippen zusammengebissen. Das gleichermaßen grimmig wirkende Antlitz entspricht dabei  einerseits der herkömmlichen Zornesmimik; zum anderen folgen die fliehende Stirn, die vorgewölbten Augenbrauen und die gebogene Nase der traditionellen Tierphysiognomie des „löwenhaften Gesichts“, die dem Charakter des Kriegers und „Löwen von Juda“ angemessen ist. David fasst sein Ziel scharf ins Auge, wobei Kopf- und Blickrichtung jedoch nicht auf einer gemeinsamen Achse liegen, sondern voneinander abweichen. Die in die linken Augenwinkel gerückten Pupillen lassen vermuten, dass sich dieses Ziel in beträchtlicher Höhe links von David befindet – ein Hinweis auf das Größenverhältnis zwischen ihm und dem riesenhaften Goliath.
Aber an Berninis David fasziniert nicht nur das grimmig-verbissene, hochkonzentrierte Antlitz. Es ist vor allem das Bewegungsmotiv, das den Betrachter in Staunen versetzt. Bernini zeigt uns den energiegeladenen Augenblick, in dem David mit seiner Schleuder ausholt und dabei den Körper bis an seine Leistungsgrenze anspannt. „Wie auf dem Scheitelpunkt eines Pendelschlags zwischen Anlauf und Umkehr ein Moment der Balance eintritt, befindet sich der Schleuderer in einer Wende, bei der sein Schwung aufgefangen und unmerklich zum Stehen gebracht wird. (...) Diese Grenzlage wirkt dahin, daß dem Bewegungsbild ebensoviel federnde Schnellkraft wie Statik und ,Halt innewohnt“ (Kauffmann 1970, S. 51).
Umschreitet man Berninis Skulptur, rechts hinten beginnend, dann sind verschiedene Bewegungsphasen zu erkennen: Wir sehen zunächst einen laufenden und beim Weitergehen einen im Stand in den Raum hinaus zielenden David. Diese unterschiedlichen Ansichten reihen sich zu einer Bilderzählung aneinander, die „sukzessiv in der Zeit fortschreitet und dabei eine Art kinematischer Verfahrensweise aufweist“ (Winter 2010, S. 87/88). Zentrales Motiv des David bleibt aber die gespreizte Beinstellung mit dem vorstoßenden, die Plinthe diagonal von hinten nach vorn überschreitenden Bein sowie der gegenläufige, von vorn nach hinten gedehnte Oberkörper. „As the statues left side expresses it, the tremendous physical energy and enormous spiritual will that David has summoned finally become powerfully concentrated and are, thus, ready to be released“ (Kenseth 1981, S. 194). Der ganze Mann eine einzige Schleuder – so ließe sich die Körperform des David zusammenfassen. Berninis Hirte ist in seiner furchtlosen Kampfbereitschaft und äußersten Entschlossenheit Angreifer und Waffe zugleich.

Literaturhinweise
Avery, Charles: Bernini. Hirmer Verlag, München 1998;
Dombrowski, Damian: David und Bibiana. Affekt und Geschlecht in zwei Werken Berninis. In: Marieke von Bernstorff u.a. (Hrsg.), Vivace con espressione. Gefühl, Charakter, Temperament in der italienischen Kunst. Hirmer Verlag, München 2018, S. 257-276;
Kauffmann, Hans: Giovanni Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1970;
Kenseth, Joy: Berninis Borghese Sculptures: Another View. In: The Art Bulletin 63 (1981), S. 191-210;
Preimesberger, Rudolf: Themes from Art Theory in the Early Works of Bernini. In: Irving Lavin (Hrsg.), Gianlorenzo Bernini. New Aspects of His Art and Thought. The Pennsylviana State University Press, University Park and London 1985, S. 1-24;
Preimesberger, Rudolf: Zu Berninis Borghese-Skulpturen. In: Herbert Beck/Sabine Schulze (Hrsg.), Antikenrezeption im Hochbarock. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1989, S. 109-127;
Schmitt, Berthold: Giovanni Lorenzo Bernini. Figur und Raum. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, S. 111-121;
Schütze, Sebastian: Kardinal Maffeo Barberini, später Papst Urban VIII., und die Entstehung des römischen Hochbarock. Hirmer Verlag, München 2007, S. 240-243;
Winter, Gundolf: Erzählung und Zeit im Medium Skulptur. Berninis David. In: Thomas Kamphusmann/Jürgen Schäfer (Hrsg.), Anderes als Kunst. Ästhetik und Techniken der Kommunikation. Peter Gendolla zum 60. Geburtstag. Wilhelm Fink Verlag, München 2010, S. 83-96;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 15. November 2021)