Gianlorenzo Bernini: David (1623/24); Rom, Galleria Borghese (für die Großansicht einfach anklicken) |
Dieses ruhige Stehen des triumphierenden Siegers
wiederum ist bei Bernini der Dynamik des kämpfenden Hirten gewichen. Sein David
scheint im Voranstürmen innezuhalten, um aus geduckter Haltung zum
entscheidenden Schlag gegen den riesigen Goliath auszuholen. Er verbirgt seine
gefährliche Fernwaffe zunächst, fixiert den feindlichen Krieger – und bereits
im nächsten Moment wird der kraftvoll modellierte, bogenförmig gespannte Körper
losschnellen und den Gegner mit einem einzigen Steinwurf zu Boden strecken.
„Selten ist im Medium der Skulptur die auf ein außerhalb der Figur liegendes
Ziel gerichtete Energie so überzeugend zur Anschauung gebracht worden“ (Schütze
2007, S. 241/242).
Borghesischer Fechter (1611 aufgefunden); Paris, Louvre |
Als mögliches Vorbild für Berninis David und seine raumgreifende Dynamik wird
immer wieder auf die Beinstellung des berühmten Borghesischen Fechters
verwiesen, einer antiken Marmorfigur, die erst 1611 ausgegraben worden war und
die Kardinal Scipione Borghese 1613 gekauft hatte. „Bernini bog jedoch den
linken Arm seiner Figur nach unten, damit sie den Stein in die Schleuder
klemmen könne; und im Gegensatz zur Ausfallstellung des antiken Gladiators, die
in eine einzige Richtung weist, drehte er David in den Hüften, um ihn zum
Schleudern ausholen zu lassen“ (Avery 1998, S. 69). Die technische Brillanz,
mit der Bernini dabei das nur von einer kleinen Querstrebe gehaltene Flechtwerk
der Schleuder wiedergibt, ist bis auf den heutigen Tag atemberaubend.
Myron: Diskobol (um 460/450 v.Chr.); Rom, Palazzo Massimo alle Terme |
Annibale Carracci: Polyphem und Acis (1597); Rom, Palazzo Farnese |
Bernini könnte aber auch von der Fülle bewegter
Figuren inspiriert worden sein, die Annibale Carracci auf seinem riesigen
Deckenfresko in der Galleria Farnese (Rom) geschaffen hatte. Die Vorderansicht
seines David ist Carraccis Gestalt
des einäugigen Riesen Polyphem entlehnt, die sich anschickt, einen Felsen zu
schleudern. „Hier fand Bernini das kunstvolle Heben des hinteren Beins über die
Höhe des vorderen sowie die Stellung beider Arme, mit der die muskulöse Gestalt
die zerstörerische Last nach rechts wirft“ (Avery 1998, S. 70).
Diente dem Borghesischen Fechter ein
Baumstumpf als Stütze, so ist bei Bernini ein Harnisch daraus geworden: Es
handelt sich um den königlichen Panzer, den Saul dem Hirtenjungen anbietet, den David jedoch ablehnt (1. Samuel 17,38-40). Anregung für den Harnisch könnten
die römischen Dioskuren auf dem Quirinal gegeben haben. Der kaum bekleidete David ist durch die herabfallenden Falten seines kurzen Mantels, den er mit dem
Gürtel seiner aus Fell genähten Hirtentasche festklammert, mit der Rüstung
verbunden. Unter dem Harnisch liegt eine Leier – das Instrument, auf dem David später seine Psalmen begleiten wird.
Einer der beiden antiken Dioskuren vor dsem Quirinalspalast in Rom |
Ebenso grimmig wie hochkonzentriert fixiert David sein Ziel, die Stirn des riesigen Goliath |
Davids Gesichtszüge sind völlig auf den alles entscheidenden Wurf konzentriert, die niedrigen Augenbrauen scharf zur Mitte hin zusammengezogen, die Lippen zusammengebissen. Das gleichermaßen grimmig wirkende Antlitz entspricht dabei einerseits der herkömmlichen Zornesmimik; zum anderen folgen die
fliehende Stirn, die vorgewölbten Augenbrauen und die gebogene Nase der
traditionellen Tierphysiognomie des „löwenhaften Gesichts“, die dem Charakter
des Kriegers und „Löwen von Juda“ angemessen ist. David fasst sein Ziel scharf
ins Auge, wobei Kopf- und Blickrichtung jedoch nicht auf einer gemeinsamen
Achse liegen, sondern voneinander abweichen. Die in die linken Augenwinkel gerückten Pupillen lassen vermuten, dass sich dieses Ziel in beträchtlicher
Höhe links von David befindet – ein Hinweis auf das Größenverhältnis zwischen
ihm und dem riesenhaften Goliath.
Aber an Berninis David fasziniert nicht nur das grimmig-verbissene, hochkonzentrierte
Antlitz. Es ist vor allem das Bewegungsmotiv, das den Betrachter in Staunen
versetzt. Bernini zeigt uns den energiegeladenen Augenblick, in dem David mit
seiner Schleuder ausholt und dabei den Körper bis an seine Leistungsgrenze anspannt.
„Wie auf dem Scheitelpunkt eines Pendelschlags zwischen Anlauf und Umkehr ein
Moment der Balance eintritt, befindet sich der Schleuderer in einer Wende, bei
der sein Schwung aufgefangen und unmerklich zum Stehen gebracht wird. (...)
Diese Grenzlage wirkt dahin, daß dem Bewegungsbild ebensoviel federnde
Schnellkraft wie Statik und ,Halt‘ innewohnt“ (Kauffmann 1970, S. 51).
Umschreitet man Berninis
Skulptur, rechts hinten beginnend, dann sind verschiedene Bewegungsphasen zu
erkennen: Wir sehen zunächst einen laufenden und beim Weitergehen einen im
Stand in den Raum hinaus zielenden David. Diese unterschiedlichen Ansichten reihen
sich zu einer Bilderzählung aneinander, die „sukzessiv in der Zeit
fortschreitet und dabei eine Art kinematischer Verfahrensweise aufweist“
(Winter 2010, S. 87/88). Zentrales Motiv des David bleibt aber die gespreizte Beinstellung mit dem vorstoßenden,
die Plinthe diagonal von hinten nach vorn überschreitenden Bein sowie der
gegenläufige, von vorn nach hinten gedehnte Oberkörper. „As the statue‘s left side expresses it, the tremendous physical energy and enormous spiritual will that David has summoned finally become powerfully concentrated and are, thus, ready to be released“ (Kenseth 1981, S. 194). Der ganze Mann eine
einzige Schleuder – so ließe sich die Körperform des David zusammenfassen. Berninis Hirte ist in seiner
furchtlosen Kampfbereitschaft und äußersten Entschlossenheit Angreifer und
Waffe zugleich.
Pietro Magni: David (1852); Amsterdam, Rijksmuseum |
Literaturhinweise
Avery, Charles:
Bernini. Hirmer Verlag, München 1998;
Dombrowski, Damian: David und Bibiana. Affekt und Geschlecht in zwei Werken Berninis. In: Marieke von Bernstorff u.a. (Hrsg.), Vivace con espressione. Gefühl, Charakter, Temperament in der italienischen Kunst. Hirmer Verlag, München 2018, S. 257-276;
Kauffmann, Hans: Giovanni Lorenzo Bernini. Die
figürlichen Kompositionen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1970;
Preimesberger, Rudolf: Themes from Art Theory in
the Early Works of Bernini. In: Irving Lavin (Hrsg.), Gianlorenzo Bernini. New
Aspects of His Art and Thought. The Pennsylviana State University Press,
University Park and London 1985, S. 1-24;
Preimesberger, Rudolf: Zu Berninis Borghese-Skulpturen. In: Herbert Beck/Sabine Schulze (Hrsg.), Antikenrezeption im Hochbarock. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1989, S. 109-127;
Preimesberger, Rudolf: Zu Berninis Borghese-Skulpturen. In: Herbert Beck/Sabine Schulze (Hrsg.), Antikenrezeption im Hochbarock. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1989, S. 109-127;
Schmitt, Berthold: Giovanni Lorenzo Bernini.
Figur und Raum. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, S. 111-121;
Schütze, Sebastian: Kardinal Maffeo Barberini, später Papst Urban
VIII., und die Entstehung des römischen Hochbarock. Hirmer Verlag, München
2007, S. 240-243;
Winter, Gundolf:
Erzählung und Zeit im Medium Skulptur. Berninis David. In: Thomas Kamphusmann/Jürgen Schäfer (Hrsg.), Anderes als
Kunst. Ästhetik und Techniken der Kommunikation. Peter Gendolla zum 60.
Geburtstag. Wilhelm Fink Verlag, München 2010, S. 83-96;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 6. Juli 2024)
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Sehr verehrter Herr Schnabel,
AntwortenLöschenhaben Sie tausend Dank für Ihre gleichermaßen erhellenden wie unterhaltenden, informativen wie fundierten Beschreibungen hervorragender Kunstwerke. Ihre Texte mit den sinnreichen Querverweisen und vielfältigen Zusammenhängen, die Sie aufzeigen, waren mir in den vergangenen Wochen eine unschätzbare Hilfe. Ich hoffe inständig, dass Sie uns weiter mit Ihren außergewöhnlich kompakten Kunstbetrachtungen versorgen werden.