Dienstag, 19. Oktober 2021

Monumental gekreuzigt – das Slackersche Kruzifix des Veit Stoß in Krakau (1491)

Veit Stoß: Slackersches Kruzifix (um 1491), Krakau, Marienkirche
Der polnische Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) war über Jahrhunderte vor allem wegen seiner Kruzifixe berühmt. Nach den Holzkruzifixen aus den Nürnberger Kirchen St. Lorenz und St. Sebald (siehe meinen Posts „Auf die Trommel gespannt“ und Aufbäumen im Todeskampf) sei nun sein früheres, in Krakau entstandenes steinernes Kruzifix in der dortigen Marienkirche vorgestellt, ein Auftrag des königlichen polnischen Münzmeisters Heinrich Slacker (um 1491). Die Gestalt Christi misst hier gewaltige 2,53 Meter, das Kreuz selbst fast 4 Meter. Der Kruzifixus ist seit dem 17. Jahrhundert in dem heutigen Altar mit vergoldetem Jerusalem-Hintergrund eingefügt. Bis vor Kurzem trug das Haupt Christi eine riesige naturalistische Krone aus echten Dornen – wohl ebenfalls eine barocke Hinzufügung. (In jüngerer Zeit wurde sie durch ein Exemplar aus Metall ersetzt.) Mit diesem überlebensgroßen Werk bewies Veit Stoß, wie virtuos er das Material Stein beherrschte, und schuf das erste seiner von würdevoller Schönheit und großem anatomischen Realismus gekennzeichneten Kruzifixe, auf denen sein Ruhm in der Frühen Neuzeit basierte.

Christus hängt mit völlig waagrecht ausgestreckten Armen am Kreuz. Das leicht zur Seite geneigte Haupt ist nach vorn mit dem Kinn auf die Brust gefallen. Der kurze Vollbart, dessen Strähnen sich an den Enden in einzelnen Locken aufrollen, bedeckt den unteren Teil der Wangen und umrahmt das Kinn auf der Brust. Das Haar ist in der Mitte gescheitelt und liegt in Wellen auf dem Schädel und im Nacken. Rechts fällt es, aus mehreren spiralförmig gedrehten Locken zu einer großen Strähne zusammengefasst, bis über die Achselhöhle auf die Brust herab. Links sind die sorgfältig ausgearbeiteten gewellten Haare in den Nacken und auf den Rücken zurückgeschoben; eine kleine Locke ist über dem Auge abgebrochen. Der gequälte Mund steht offen, sodass die Zahnreihen sichtbar werden. Der Blick ist gebrochen, die Augen sind bis auf einen kleinen Spalt geschlossen: Wir sehen den toten Christus. Die Stirn, die Lider über und unter den Augen sowie die Partien neben den Augen sind von tiefen waagrechten Furchen durchzogen. Einzelne Falten umkreisen in den stark eingefallenen Wangen die Backenknochen von den senkrechten Stirnfalten über die Nase bis zum Bartansatz.

Die Arme sind zwischen den Nägeln so straff ausgespannt, dass das Haupt nicht zwischen die Schultern einsinken kann. Muskeln und Sehnen der Arme sind extremen Zerrungen ausgesetzt. Die linke Schulter Christi wirkt wie ausgekugelt. Der Körper Christi hängt gerade vor dem Kreuzbalken herab. Schulterblätter, Gesäß und Ferse des linken Fußes liegen dem Kreuz unmittelbar auf. Die Knie sind zwar nicht auffallend durchgedrückt, treten aber nicht wie bei den meisten gotischen Kruzifixen nach vorn vor. Die Gestalt ist ganz gerade ausgerichtet, die Hüfte nicht zur Seite herausgedrückt. Der Brustkorb Jesu wölbt sich stark nach vorne – „er wirkt wie zum Einatmen aufgeblasen“ (Kahsnitz 1997, S. 133). Unter der Haut zeichnen sich die Rippen ab, vorn auffallend waagrecht, in der Seitenansicht schräg aufsteigend. Die Haut ist gleichsam unmittelbar über die Rippenknochen gespannt, ohne dass eine Fleisch- oder Muskelschicht dazwischen läge. Der untere Rippenrand tritt deutlich hervor, die Brust ist durch die Medianlinie bis über den Nabel nach unten senkrecht geteilt. Unterhalb der eingezogenen Taille – sichtbar vor allem in der Seitenansicht mit dem Hohlkreuz – ist der klein gebildete Unterbauch markant modelliert, außerdem von einem Geflecht blutgefüllter Adern überzogen. Ähnlich hart wie die Rippen treten die Hüftknochen knöchern über dem Lendenschurz aus dem Fleisch hervor. 

Die Beine sind lang und schlank, die Kniegelenke deutlich herausgearbeitet. Der vordere rechte Fuß ist über den linken gebogen, die Zehen weichen zum Kreuz zurück. Die Gesamtform der Beine prägen die scharfen, leicht gebogenen und lang sich hinziehenden Schienbeinknochen. Die Fußwunden sind wie die der Hände nicht aufgerissen. Gegenüber dem mächtigen Thorax wirken die langen Beine, schmalen Fesseln und Füße geradezu zierlich. In makelloser Unversehertheit lässt der Körper außer der Annagelung keinerlei Verwundung oder Spuren der erlittenen Passion erkennen, wie sie im Antlitz abzulesen sind. Unter dem rechten Rippenrand klafft freilich die Brustwunde.

Veit Stoß: Holzkruzifix (1520), Nürnberg, St. Sebald
Ein großes, faltenreiches und von tiefschattenden Furchen durchzogenes Lendentuch umhüllt Unterleib und Oberschenkel. Seine Stoffbahnen sind als schmaler Streifen über die Hüftknochen gezogen und oberhalb des linken Beines straff verschlungen. Dort sind sie so gegeneinander gedreht, dass die beiden langen Enden in entgegengesetzter Richtung weiterführen: Das eine wird über dem Unterleib und dem rechten Oberschenkel schräg nach unten geführt, um sich dann in knitterigem Bausch zu einer großen Ohrmuschelform frei im Raum zu entfalten. Das andere ist um das Gesäß und, von hinten zwischen den Beinen hervorkommend, über den linken Oberschenkel geschlagen. In kunstvoller Verschränkung und differenziertem Richtungswechsel wiederholen die ausfahrenden Enden die gegensätzliche Bewegung des geschürzten Tuches vor dem Leib. „Das Lendentuch ist in seiner großformatigen, aber zugleich detailreichen Bildung, in seiner straffen Führung bei weit ausladender Entfaltung ein Formgebilde eigenen Ranges, das zur Monumentalität des Kruzifixus nicht unwesentlich beiträgt“ (Kahsnitz 1997, S. 135).

Rogier van der Weyden: Kreuzigungstriptychon (um 1443/45), Wien, Kunsthistorisches Musum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Frei im Raum um den Leib Christi schwingende oder waagrecht flatternde Lendentuch-Enden begegnen uns in der Tafelmalerei seit Rogier van der Weyden, und zwar beim Wiener Triptychon von etwa 1440 (siehe meinen Post „Aus eins mach drei“) und bei der späten Kreuzigung in Philadelphia. In der niederländisch geprägten süddeutschen Malerei wird das Motiv dann im weiteren 15. Jahrhundert aufgegriffen. In der Skulptur bildet das Triumphkreuz in der St. Martins-Basilika im belgischen Halle von 1430/40 eines der frühesten Beispiele, bei dem sich der Lendentuchzipfel vom Körper Christi löst und wie vom Wind hochgeweht wird.

Niclaus Gerhaert: Steinkruzifix (1467); Baden-Baden, Schlosskirche
Das Slackersche Kruzifix spiegelt ohne Frage Veit Stoß’ Auseinandersetzung mit dem steinernen Gekreuzigten von Niclaus Gerhart in Baden-Baden aus dem Jahr 1467 (siehe meinen Post „,Ich kann alle meine Gebeine zählen‘“). Von Niclaus Gerhaert stammt auch die Holzskulptur von St. Georg in Nördlingen aus dem Jahr 1462. Bei beiden Kruzifixen hängt der Leib Christi wie bei dem in Krakau gerade vor dem Holzbalken, ohne seitliches Ausbiegen und Abknicken der Knie nach vorn, jedoch mit deutlicher erhobenen Armen. Ganz nah kommt das Stoßsche Werk dem Baden-Badener Kruzifix wie dem verwandten Nördlinger auch in der Wiedergabe der Haut, die sich über die Knochen spannt, und der Adern, im Wechselspiel von angespannten und eingefallenen Muskelteilen, in der präzisen Charakterisierung des menschlichen Leibes, wie es sie bisher in der mittelalterlichen Kunst nicht gegeben hatte.


Literaturhinweise

Eser, Thomas: Veit Stoß. Ein polnischer Schwabe wird Nürnberger. In: Brigitte Korn u.a. (Hrsg.), Von Nah und Fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 85-90;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179:

Kammel, Frank, Matthias: Künstler, Spekulant, Urkundenfälscher. Aufstieg und Fall des Veit Stoß. In: Frank Matthias Kammel (Hrsg.), Kunst & Kapitalverbrechen. Veit Stoß, Tilman Riemenschneider und der Münnerstädter Altar. Hirmer Verlag, München 2002, S. 51-90.


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