Veit Stoß: Kruzifix (1520); Nürnberg, St. Sebald (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der polnische Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) war
über Jahrhunderte wegen seiner Kruzifixe berühmt. Zu nennen ist hier zunächst
das monumentale steinerne Kruzifix in der Krakauer Marienkirche, ein Auftrag
des königlichen polnischen Münzmeisters Heinrich Slacker (um 1491 entstanden).
Die Gestalt Christi ist 2,53 m groß, das Kreuz selbst fast 4 m hoch. Alle
übrigen Kruzifixe von Veit Stoß bestehen aus Holz und sind knapp überlebensgroß
(durchweg 2 m). Außer dem Slackerschen Kruzifix aus Stein finden sich in
Nürnberg, wo der Künstler ab 1496 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete, drei
sehr gut erhaltene Holzbildwerke von ihm:
1. das Kruzifix im Germanischen Nationalmuseum aus dem
Heiliggeist-Spital; 2. das Kruzifix auf dem Hochaltar der gotischen Kirche St.
Lorenz; 3. das sogennante Wickelsche Kruzifix in der mittelalterlichen Kirche
St. Sebald. Außerdem gibt es von Veit Stoß noch ein ähnlich großes Kruzifix in
der Florentiner Kirche Ognissanti. Nachdem in diesem Blog bereits das Kruzifix
aus St. Lorenz vorgestellt wurde (siehe meinen Post „Auf die Trommel gespannt“),
wende ich mich noch dem Wickelschen Kruzifix zu, dem wohl berühmtesten Werk des
Nürnberger Meisters. Ein im Inneren erhaltener Zettel datiert die Arbeit auf
1520, nennt „Nicklos Wickel“ als Auftraggeber und sichert Veit Stoß als
ausführenden Künstler.
Die Figur ist aus
Lindenholz gearbeitet, Rumpf und Beine sind aus einem Stamm geschnitzt;
angesetzt wurden die Arme und der Kopf. Der große vorspringende Reifen des Lendentuches
ist aus vier Stücken zusammengesetzt und angedübelt. Teile der Dornenkrone und die
große Haarlocke auf der linken Seite sind Ergänzungen der Barockzeit; kleinere
Lockenteile, die sich in der Schnitztechnik deutlich absetzen, gehören dem 19.
Jahrhundert an.
Mit drei Nägeln ist der
dornengekrönte Christus an das Kreuz geschlagen; der nackte Körper, in dessen
rechter Brust die Lanzenwunde klafft, wird nur von einem Lendentuch bedeckt. Das
Haupt neigt sich nach links vorne, aber keineswegs kraftlos – Veit Stoß zeigt Christus
im Todeskampf, aber noch lebend, das Antlitz von Schmerz gezeichnet. Gesicht
und Bart sind aufwendig durchgearbeitet: Fast ornamental ist der Bart mit
massigen Wirbeln an Kinn und Wangen gestaltet und an der Oberlippe gewellt. Die
Brauen sind zusammengezogen, die Augen liegen tief in den Höhlen, der Mund ist
klagend geöffnet. „Eindringlich werden die Falten auf der Stirn, in den
Augenwinkeln und am Hals wiedergegeben, die Oberfläche des Gesichts scheint von
Höhen und Tiefen durchfurcht“ (Schneider 1983, S. 277).
Kein Jüngling mehr, sondern ein Mann von 33 Jahren |
Gegenüber der Skulptur
in St. Lorenz wirkt das Kruzifix in St. Sebald vergleichsweise mächtig und
schwer; der Heiland ist älter an Jahren, nicht mehr von knabenhaft schlanker
Zartheit mit eingeschnürter Taille, sondern ein kräftiger Mann. Auch sein
Antlitz ist das eines gereiften Mannes: mit fleischigen Brauen, mit Stirnfalten, mit weich und welk gewordenen
Wangen und Augenlidern. Die geschwellte Brust geht in den sich deutlich
vorwölbenden Bauch über. Einzelne Muskelstränge, Rippen, das Becken und die
Kniescheiben erscheinen wie unter einer realen Hautschicht. Feines, plastisch
geschnitztes Aderwerk überzieht den Körper, besonders deutlich an den Beinen.
Der Detailreichtum der Skulptur zeigt sich bis in die Handballen und -linien,
ja selbst die Fingernägel, die genau ausgebildet sind. Auch die Rückseite der Figur
ist plastisch durchgearbeitet.
Das dynamisch bewegte Lendentuch ist ein Markenzeichen von Veit Stoß |
Vor dem Unterleib
entfaltet sich das wie ein Reifen frei in den Raum schwingende,
zusammengedrehte Ende des Lendentuchs, das straff und knapp über den flachen
Hüften und dem stark ausgebildeten Gesäß spannt. „Fällt das eine kurze Ende des
Stoffes relativ vor den rechten Oberschenkel der Christusfigur, so gerät das
andere, längere Tuchteil in dynamische Bewegung. Erst straff eingedreht,
lockert es sich zu einer großzügigen Spirale und fällt, sich noch einmal
bauschend, neben der linken Hüfte bis zur Oberschenkelmitte“ (Schneider 1983,
S. 277).
Veit Stoß: Kruzifix (um 1516/20, Nürnberg, St. Lorenz (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der Leib ist wie in St.
Lorenz gestreckt, doch die Füße sind gerade nach unten ausgespannt, nicht zum
Kreuz zurückgebogen. Der rechte Fuß liegt über dem linken, das rechte Bein wird
dadurch hochgedrückt, was auch an der unterschiedlichen Höhe der Kniescheiben
erkennbar ist. Die rechte Hüfte schiebt sich entsprechend nach oben, auch zur
Seite, das Gesäß wird auf dieser Seite deutlich nach hinten gedrückt. Der
schwere Körper sackt vom Kreuz nach vorne. Die sehr schlanken Arme sind viel
stärker erhoben als bei allen anderen Kruzifixen von Veit Stoß. In der
Seitenansicht erkennt man, wie weit sich der Corpus vom Kreuz löst: Nur die
angenagelten Hände und Füße berühren das Holz; weder die Schulterblätter noch
das Gesäß liegen dem Kreuzbalken auf. Zu diesem Durchhängen des Leibes kommt,
dass die Brust sich auf seiner linken Seite noch einmal vorwölbt. Der Thorax
ist nicht völlig symmetrisch, links ist die Schulter abgesenkt, der rechte Arm
ist steiler erhoben als der linke. In der unterschiedlichen Stellung der Schulterblätter
wird die Drehung des Brustkastens nach rechts am deutlichsten ablesbar. Dem
Gekreuzigten ist Bewegung kaum möglich – dennoch bäumt er sich auf.
Albrecht Dürer: Christus am Kreuz (1505; Studie, Feder und Pinsel auf Papier); Wien, Albertina (für die Großansicht einfach anklicken) |
Es liegt nahe, das Wickelsche
Kruzifix mit Albrecht Dürer (1471–1528) in Verbindung zu bringen, denn das Nürnberger
Schaffen von Veit Stoß fällt ganz in die Lebensarbeitszeit des berühmten
Kollegen. Von Dürer sind rund 20 Darstellungen des gekreuzigten Christus
bekannt – Gemälde, Zeichnungen, Holzschnitte und Kupferstiche. Immer stellt
Dürer Christus als gereiften, erwachsenen Mann von betont schweren,
athletischen Körperformen dar. Ein mächtiges Haupt mit dicker, aus Ästen
waagrecht geflochtener Dornenkrone und flatternden oder meist auf beiden Seiten
herabfallenden Haaren bestimmt die Gesamterscheinung. Christus hängt bei Dürer fast
immer gerade vor dem Kreuzholz; immer sind die Arme stärker erhoben, das Hängen
in der Regel deutlich wiedergegeben. Die bei Veit Stoß zu beobachtende
innerkörperliche Ponderation fehlt allerdings. Sicherlich musste der Bildhauer
keine anatomischen Kenntnisse von Dürer übenehmen. Allerdings orientiert er sich
an dessen Männertypus mit seinen schweren Körperformen. Vielleicht kann man
auch von einer gegenseitigen Beeinflussung der beiden Künstler sprechen. Gegenüber
Dürers Kruzifixdarstellungen steigert Veit Stoß die leibliche Präsenz der Figur
aber nochmals, und zwar durch den Gegensatz zwischen dem lastenden Hängen des
angenagelten Körpers und der sich aufbäumenden Brust. Veit Stoß ist dabei aber
noch weit entfernt von dem Pathos, das dann später im Barock die Figur des
Gekreuzigten prägen wird.
Literaturhinweise
Eser, Thomas: Veit Stoß. Ein polnischer Schwabe wird
Nürnberger. In: Brigitte Korn u.a. (Hrsg.), Von Nah und Fern. Zuwanderer in die
Reichsstadt Nürnberg. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 85-90;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179;
Schneider, Ulrich: Wickelscher Kruzifix, 1520. In: Rainer Kahsnitz (Hrsg.), Veit Stoß
in Nürnberg. Werke des Meisters und seiner Schule in Nürnberg und Umgebung.
Deutscher Kunstverlag, München 1983, S. 277-283.Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179;
(zuletzt bearbeitet am 18. März 2024)
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