Dienstag, 6. Februar 2018

Zerschlagene Leiber, aufgewühlte Seelen – Lucas Cranachs „Schleißheimer Kreuzigung“


Lucas Cranach d.Ä.: Schleißheimer Kreuzigung (1503); München, Alte Pinakothek
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In seiner Schleißheimer Kreuzigung (auch Klage unter dem Kreuz genannt) bricht Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) mit einer langen Tradition der christlichen Kunst: Er zeigt den Gekreuzigten nicht mehr in Frontalansicht, sondern lässt ihn diagonal in den Bildraum hineinragen. Durch diesen neuen Blickwinkel sehen wir nur die linke Körperhälfte Christi. In langen Strömen läuft ihm das Blut an Armen, Oberkörper und Beinen entlang. Sein Kopf ist auf die Brust niedergesunken, die Augen sind geschlossen, Blut tropft aus den Mundwinkeln. Über dem mächtigen Nagel, der beide Füße durchstoßen hat, wölbt sich unter der Last des Körpers das Fleisch auf. Der Gekreuzigte beherrscht in Cranachs dramatischer Inszenierung die rechte Hälfte des Bildes; durch die starke Untersicht, aus der wir zu ihm aufblicken, wird er geradezu monumentalisiert. Schwarze Wolkengebirge, die sich hinter Christus auftürmen und vor die Sonne schieben, und das für Cranach typische überlange, herabflatternde Lendentuch steigern den Eindruck von Dramatik zusätzlich. Über dem Schambereich ist das Lendentuch mit einer großen Schlaufe versehen; das lange Ende der Stoffbahn „bauscht sich wie in einer rocailleähnlichen Ornamentform im Winde“ (Heiser 2002, S. 98). Am Fuß des Kreuzes ist ein skelettierter Oberkörper in einem halboffenen Grab zu erkennen. Er spielt auf die Legende an, dass das Kreuz Christi über dem Grab Adams errichtet worden sei. Der finstere Himmel wiederum veranschaulicht einen entsprechenden Vers aus dem Matthäus-Evangelium (Matthäus 27,45).
Auch die Symmetrie der klassischen Kreuzigungsdarstellungen (die beiden Schächer links und rechts von Christus) ist bei Cranach aufgehoben: Die Tau-Kreuze der beiden Schächer sind ganz nach links gedrängt. Der Körper des frontal gezeigten Schächers hängt kraftlos herab; er ist nur an seinen Händen ans Kreuz geheftet, seine Schienbeine sind zerschlagen. (Der Verurteilte sollte nicht mehr in der Lage sein, sich am Kreuz hochzustemmen, um atmen zu können.) Das dritte Kreuz hat Cranach parallel zum linken Bildrand platziert, der zweite Schächer selbst ist vom Betrachter abgewandt und nur im verlorenen Profil zu sehen, seine Fersensehnen sind durchtrennt. Die drei Kreuze bilden eine Dreieckskonstellation, in deren Mitte Maria und Johannes stehen.
In ein langes, dunkelblaues Gewand gehüllt, das sich am Boden in kräuselnden Wellenfalten staut, blickt Maria händeringend und voller Trauer zu ihrem Sohn hinauf. Im Beige ihres Schleiers wiederholt sich der Farbton des Lendentuchs Christi, „das in einem Akt der Kommunikation auf ihre anteilnehmenden Gedanken zu reagieren scheint“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 138). Johannes trägt über seinem gelben Gewand einen leuchtend roten Mantel, dessen unteres Ende faltenreich am Gürtel festgesteckt ist. Der Lieblingsjünger Jesu wendet sich tröstend Maria zu; mit seinem rechten stützt er ihren linken Arm. Sein von langen Locken umspieltes Gesicht ist ebenfalls von tiefer Trauer gezeichnet.
Lucas Cranach d.Ä.: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1504); Berlin, Gemäldegalerie
(für die Großansicht einfach anklicken)
Hinterfangen wird diese Zweiergruppe von hohem Buschwerk, aus dem sich zwei Bäume erheben, eine Birke und eine fast entlaubte Eiche. Die Äste, die sich zur Seite des sterbenden Christus neigen, sind kahl; ihre Zweige zeigen eine ähnliche Struktur wie die Dornenkrone und berühren diese fast. Das Motiv der Verflechtung von Vegetation und Mensch nimmt Cranach bei seinem 1504 entstandenen Gemälde Ruhe auf der Flucht nach Ägypten wieder auf: Dort liegt ein Fichtenast auf Josephs Schulter (siehe meinen Post Mehr Idylle war nie“); er vermittelt die geborgene Atmosphäre des Rastplatzes ebenso deutlich wie die kahlen Äste des Kreuzigungsbildes „den Schmerz, der selbst die Natur erfaßt“ (Heiser 2002, S. 102).
Im Vordergrund der Schleißheimer Kreuzigung (so bezeichnet, weil das Bild lange in der Schlossanlage Schleißheim aufbewahrt wurde) ist der Stumpf eines mächtigen Baumes zu sehen, den Cranach sozusagen für den Betrachter „gefällt“ hat – dadurch wird der Blick auf das Geschehen erst möglich. Unmittelbar davor hat der Maler einen kleinen Zettel mit der Jahreszahl „1503“ angebracht. Im Hintergrund rechts wird ein weites Tal mit See und Wasserschloss sichtbar. Auf dem Felsmassiv am rechten Bildrand sind Reste einer Bebauung erhalten. Über das Tal hinweg öffnet sich der Blick auf schneebedecktes Gebirge an einem tief liegenden Horizont.
Nicolas Gerhaert: Sandsteinkruzifix (1467); Baden-Baden, Schlosskirche
Veit Stoß: Slackersches Kruzifix (um 1491); Krakau, Marienkirche
Die plastische Wucht von Cranachs Christusfigur verweist auf Vorbilder aus der Skulptur, „denn er zeigt den Gekreuzigten aus der gleichen Untersicht, wie ihn der Betrachter beim Umschreiten eines spätmittelalterlichen Monumentalkruzifixes sehen würde“ (Bonnet/Schmidt-Kopp 2010, S. 136). Als entsprechende Beispiele sei auf das Sandsteinkruzifix von Nicolas Gerhaert in Baden-Baden (1467 entstanden) verwiesen oder auf das Slackersche Steinkruzifix von Veit Stoß in Krakau (um 1491 entstanden). Cranach zeigt die Kreuzigung frontal, von schräg hinten und von schräg vorne und bietet damit sozusagen einen imaginären Rundgang um das Kreuz, um dem Betrachter die Passionsereignisse so anschaulich wie möglich zu vermitteln. Mit diesen drei Blickwinkeln verdeutlicht Cranachs Andachtsbild außerdem, dass die Möglichkeiten der Malerei sich sehr wohl mit der Allansichtigkeit plastischer Werke messen können.
Albrecht Altdorfer: Kreuzigung, rechter Innenflügel des Sebastiansaltars (um 1510-1518);
Stift St. Florian bei Linz
Albrecht Dürer: Christus am Kreuz (1496); Dresden, Gemäldegalerie
Cranachs Übereck-Anordnung der Kreuze begründete für etwa dreißig Jahre eine Phase der altdeutschen Malerei, in der Künstler die bisherige Darstellungskonvention für den Kalvarienberg zum Teil erheblich abwandelten. Vor allem Albrecht Altdorfer (1480
–1538) und Wolf Huber (1485–1553) experimentierten mit diesen sogenannten „exzentrischen Kreuzigungen“, aber auch Hans Holbein d.Ä. (1465–1524) und Matthias Grünewald (1470–1528) zeigten den Gekreuzigten von der Seite oder sogar von hinten. Vorbild bzw. eigentlicher Vorläufer für die Schrägstellung des Kreuzes dürfte ein Frühwerk von Albrecht Dürer (1471–1528) sein, nämlich Christus am Kreuz von 1496, eine der Tafeln aus seinem Altarbild der Sieben Schmerzen Mariae in Dresden. Dort ist ist das Kreuz aus der Mitte in das rechte Bilddrittel versetzt und in die Dreiviertelansicht gedreht; darüber hinaus ist das Lendentuch Christi wie bei Cranach mit einer auffälligen Schleife verknotet.

Literaturhinweise
Bohde, Daniela: Schräge Blicke – exzentrische Kompositionen: Kreuzigungen und Beweinungen in der altdeutschen Malerei und Graphik. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 75 (2012), S. 193-222;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010, S. 138;
Heiser, Sabine: Das Frühwerk Lucas Cranachs des Älteren. Wien um 1500 – Dresden um 1900. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2002, S. 95-112;
Schawe, Martin: Cranach in Bayern. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München 2011, S. 94-99. 

(zuletzt bearbeitet am 11. August 2023)

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