Mittwoch, 21. Februar 2024

Erhabene Überlegenheit – das Reiterstandbild des Marc Aurel auf dem Kapitol


Marc Aurels Reiterstandbild – ursprünglich komplett vergoldet
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Die überlebensgroße Bronzestatue des Marc Aurel ist das einzig vollständig erhaltene Reiterstandbild der Antike und dazu das einzige eines römischen Kaisers – eines Kaisers, der als Inbegriff des philosophischen Herrschers galt. Es ist das Vorbild der großen Reiterstatuen der Gotik wie dem Bamberger Reiter, der Renaissance und des Barock wie dem Gattamelata von Donatello in Padua, dem Colleoni von Verrocchio in Venedig und dem Großen Kurfürsten von Schlüter Unter den Linden in Berlin (siehe auch meinen Post „Der Söldnerführer von Padua“).
Das ursprünglich vollständig vergoldete Reiterbildnis ist wahrscheinlich um 176 n.Chr. im Wachsausschmelzverfahren geschaffen worden, wohl im Zusammenhang mit dem Sieg über die Markomannen und Samarten im gleichen Jahr. 782 wurde es am Lateranspalast in Rom aufgestellt, den Kaiser Konstantin durch die Erlöserbasilika hatte überbauen lassen. Die Statue überdauerte den allgemeinen frühmittelalterlichen Bildersturm gegen antike Kunstwerke und Monumente, weil man den Reiter für den in Rom als Heiligen verehrten Kaiser Konstantin hielt und das Standbild als Symbol ursprünglich kaiserlicher, dann päpstlicher Gerichtsgewalt ansah. Die Aufstellung des Denkmals auf päpstlichem Hoheitsgebiet, dem Lateran, ist sicherlich im Zusammenhang mit der Konstantinischen Schenkung zu sehen, jener berühmten Urkundenfälschung des 8. Jahrhunderts, die Konstantin zum Garanten des weltlichen Machtanspruches der Päpste erklärt hatte.
1475 erkannte Platina, der 1475 ernannte erste Bibliothekar der damals begründeten Vatikanischen Bibliothek, durch den Vergleich von Münzbildnissen die wahre Identität des Reiters mit Kaiser Marc Aurel (161–180 n.Chr.). Als das monumentale Wahrzeichen der Legitimität seiner weltlichen Herrschaft ließ Papst Paul III. Farnese die kolossale Statue am 18. Januar 1538 auf dem Kapitolinischen Hügel aufstellen. Der Reiter steht im Zentrum einer nach Entwürfen Michelangelos errichteten Platzanlage, der sich zur Mitte anhebt und dessen Bodendekor vom Sockel der Figur sternförmig ausstrahlt. 
Die von Michelangelo entworfene Platzanlage auf dem Kapitol mit dem Marc Aurel im Zentrum
Ross und Reiter sind 424 cm hoch, die Länge des Pferdes misst 384 cm; das Standbild hat also fast doppelte Lebensgröße, wobei – ein bei vielen Reiterstatuen zu beobachtender Kunstgriff – die Figur des Kaisers gegenüber dem Pferd proportional viel zu groß ist. Wahrscheinlich krümmte sich früher unter dem erhobenen rechten Vorderhuf des Pferdes ein besiegter Barbar. Gerade der Gegensatz zwischen dem am Boden kauernden Unterlegenen und der so ruhigen, herrscherlichen Pose Marc Aurels verdeutlicht die zentrale Aussage des Standbilds: Der siegreiche Kaiser gebietet Frieden. 
Dem entspricht auch die Kleidung Marc Aurels: Er ist waffenlos und trägt auch nicht, wie für einen triumphierenden Feldherrn selbstverständlich, einen reliefverzierten Metallpanzer mit Lederlaschen an den Schultern, sondern eine weit geschnittene kurze Tunika. Darüber hat er den Feldherrnmantel (paludamentum) geworfen, der an der rechten Schulter von einer großen runden Brosche (fibula) gehalten wird und bis weit auf den Pferdekörper herabfällt. An den Füßen trägt der Kaiser nicht die Feldherrnstiefel, sondern die zivilen Senatorenschuhe (calcei senatorii). Seine Unterschenkel sind nackt, die Oberschenkel werden zum Teil von der herabhängenden Tunika bedeckt, die ein breiter Stoffgürtel zusammenhält. Selbst die in die Zipfel der Tunika eingenähten Bleikügelchen, die den Stoff nach unten ziehen und schön fallen lassen, sind dargestellt. Die Bekleidung des Kaisers ist die sogenannte kleine Uniform, das heißt die bei Paraden und nicht kriegerischen Anlässen übliche Feldherrntracht. Sein einziger Schmuck ist ein einfacher, unverzierter Fingerring. 
Das Gesicht des Kaisers wird von krausem Kopfhaar, in füllige Buckellocken untergliedert, und einem dichten Bart umrahmt; dicke Oberlider hängen tief auf die Augäpfel herab. „Die hochgewölbten Augenbrauen und das dabei nahezu unbewegte Gesicht rufen den für Bildnisse Marc Aurels so charakteristischen Ausdruck von Ruhe, Unerschütterlichkeit und Distanziertheit hervor“ (Fittschen 1985, S. 72). 
Antike Bildnisbüste des griechischen Philosophen Platon; Rom, Sala delle Muse
in den Vatikanischen Museen
Den langen Vollbart werden die Zeitgenossen des Kaisers als Hinweis auf seine philosophischen Neigungen verstanden haben – Marc Aurel war ein Anhänger der Stoiker. Schon im 1. Jahrhundert n.Chr., als Bartlosigkeit in der gebildeten Welt üblich war, trugen Römer, die sich für die griechische Philosophie begeisterten, lange Bärte. Sie wollten sich auch äußerlich den durchweg bärtigen großen griechischen Philosophen angleichen, deren Porträts bekannt und in zahllosen Kopien vielerorts aufgestellt waren. „Der Bart sollte darüber hinaus auch die Verachtung für Eitelkeit und zeitraubende Körperpflege ausdrücken“ (Wünsche 1999, S. 62).
Galt jahrhundertelang als Statue Kaiser Konstantins
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Der rechte Arm Marc Aurels, der sich unterhalb der Schulterhöhe ausstreckt, wirkt mit den nach oben geöffneten Fingern, als würde er sich gerade sanft heben. Der Kaiser blickt in die Richtung der weisenden Hand, und auch das Pferd wendet seinen Kopf dorthin. Es schreitet in der Gangart des kurzen bzw. versammelten Trab: die behende, aber nur wenig ausgreifende Schrittfolge, „bei der Vorder- und Hinterhand der einen Seite zueinander, die der anderen auseinander treten, während die Vorderhand angewinkelt erhoben und die vorgreifende Hinterhand im Begriff ist, sich vom Boden zu lösen“ (Baumstark 1999, S. 99).
Marc Aurel sitzt völlig entspannt, fast lässig auf dem muskulösen Tier. Seine Beine sind vom Pferdekörper abgestreckt, weder mit Schenkeldruck noch mit kräftigem Zügeldruck dirigiert er das Ross. Die linke, zügelführende Hand ist nämlich nach oben geöffnet und muss früher ein Attribut getragen haben, möglicherweise eine Schriftrolle oder die Statuette einer Siegesgöttin. Die Zügel, die verloren sind, liefen einst wohl um Ring- und Zeigefinger. „Mit einem Wort: Den Künstler interessierte nicht der natürliche Vorgang des Reitens, er wollte mit dieser Pose Erhabenheit und herrscherliche Überlegenheit des Kaisers ausdrucken“ (Wünsche 1999, S. 60).  
Marc Aurel sitzt auf einer Reitdecke, unter der zur Polsterung drei dicke Lederschichten liegen; sie sind an den Rändern in Halbmond-, Treppen- und Zickzackform geschnitten. Dieser „Sattel“ ist mit einem Gurt unter dem Pferdebauch festgezurrt; zwei weitere Gurte, die um die Pferdebrust und den Schwanzansatz führten, sind nicht erhalten. Die Antike kannte den uns so geläufigen festen Sattel noch nicht – er wurde erst im Mittelalter entwickelt.
Der Kaiser von links – die Zügel muss man sich dazudenken
Das Pferd selbst hat einen mächtigen, gedrungenen Körper, der von relativ schlanken, aber sehr sehnigen Beinen getragen wird. Die kräftige Mähne ist ungestutzt, nur die Stirnhaare wurden über dem Kopf zusammengebunden; die Spitze dieses Haarbüschels fehlt heute. Das linke, innen fein behaarte Ohr ist in höchster Aufmerksamkeit nach vorne gerichtet, das rechte wendet sich nach hinten; Adern und Sehnen drücken sich durch die Haut, die Nüstern sind gebläht, die Lefzen über dem leicht geöffneten Mund zurückgezogen. An der Kandare sind noch die Ansatzstellen der Zügel zu sehen; die großen Schmuckscheiben und -platten des Zaumzeugs trugen ursprünglich weitere Verzierungen, worauf die Befestigungslöcher hinweisen. 
Der Pferdekopf mit hochgebundenem Haarbüschel auf der Stirn, nach vorne gewendetem linken Ohr und Schmuckplatten im Zaumzeug (für die Großansicht einfach anklicken)
Nach einem Bombenanschlag auf den Senatorenpalast (1979) wurde auch das Standbild auf eventuelle Schäden untersucht. Dabei stellte man fest, dass es zwar nicht betroffen, aber doch gründlich restaurierungsbedürftig war – es litt unter heftigem Bronzefraß. Die siebenjährige Restaurierung war erfolgreich: Heute bietet sich die Statue wieder mit der ganzen Schönheit ihrer grüngoldenen Patina dar. Seit 1990 steht das Original in einem für die Statue überdachten Hof des Konservatorenpalasts der Kapitolinischen Museen. Auf dem von Michelangelo extra für die Statue geschaffenen Postament mitten auf dem Kapitolsplatz befindet sich heute eine Bronzekopie.
Hach, die Kopie isses einfach nicht ...
Reiterstatuette Karls des Großen (um 870); Paris, Louvre
Die figürlichen Nachbildungen des Marc Aurel sind, wie bereits erwähnt, überaus zahlreich. Am Beginn steht die berühmte Reiterstatuette Karls des Großen aus dem Dom von Metz (um 870; Höhe 24 cm; heute im Louvre). Bei dem fränkischen Herrscher sind Arme und Hände allerdings umgeformt, um Reichsschwert und -apfel zu halten. Der Dresdner Marc Aurel von Antonio Filarete (1400–1469) gehört zu den berühmtesten Kleinbronzen der Frührenaissance (um 1440/45; Höhe 38,2 cm). Der Gestus der rechten Hand scheint dem Künstler noch unverständlich gewesen zu sein: Er führte den Arm zu hoch, in der Vorderansicht wirkt die ausgestreckte Rechte daher abwehrend. Hinzugefügt hat Filarete einen Prunkhelm unter dem erhobenen, heute abgebrochenen rechten Vorderfuß des Pferdes.
Antonio Filarete: Marc Aurel (um 1440/45); Dresden, Staatliche Kunstsammlungen
Aus der Fülle weiterer Beispiele seien noch auf einige bedeutsame hingewiesen:
– das Reiterdenkmal für Kaiser Joseph II. (1741–1790) vor dem Gebäude der Wiener Hofbibliothek; ausgeführt wurde das klassizistische Bronzestandbild zwischen 1795 und 1807 von Franz Anton Zauner (1746–1822). Der Bildhauer zeigt den Kaiser in antikisierender Feldherrntracht: Diese Anspielung auf das antike Rom, der ausgestreckte Arm und die Haltung des Pferdes zeigen deutlich die Auseinandersetzung mit dem Marc Aurel.  
Franz Anton Zauner: Joseph II. (1795-1807); Wien, Josephsplatz
– das Reiterstandbild des Kurfürsten Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg auf dem Düsseldorfer Marktplatz, ein Werk des flämischen Barock-Bildhauers Gabriel Grupiello (1644–1730), 1703 begonnen und 1711 aufgestellt, heute eines der Wahrzeichen der Landeshauptstadt.
Gabriel Grupielle: Jhann Wilhelm von Pfalz-Neuburg (1703–1711); Düsseldorf, Marktplatz
 
– das 1875 aufgestellte Carl-August-Denkmal
von Alfred von Donndorf (1835–1916) in Weimar. Der Großherzog war der wichtigste Förderer Goethes; das Standbild zeigt ihn in der Uniform eines preußischen Generals, der als Sieger aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon nach Weimar zurückkehrt.
– Von Donndorf schuf auch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal  über dem Hengsteysee bei Hohensyburg. Zwischen 1893 und 1902 errichtet, erinnert es an den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und den siegreichen Feldherrn-Kaiser. 
Adolf von Donndorf: Großherzog Carl-August (1875); Weimar, Platz der Demokratie

Beide Kaiser, beide Feldherrn: Marc Aurel und Wilhelm I.
– das 1913 errichtete Reiterdenkmal des Prinzregenten Luitpold von Bayern, geschaffen von 
Adolf von Hildebrand (1842–1921). Das Standbild befindet sich in der nach dem Prinzregenten benannten Straße vor dem Bayerischen Nationalmuseum in München. 
Adolf von Hildebrand: Prinzregent Luitpold von Bayern (1821–1912);
München, Luitpoldtraße

Literaturhinweise

Baumstark, Reinhold: Das Nachleben der Reiterstatue. Vom caballus Constantini zum exemplum virtutis. In: Marc Aurel. Der Reiter auf dem Kapitol. Hirmer Verlag, München 1999, S. 78-115;
Fittschen, Klaus/Zanker, Paul: Katalog der römischen Porträts in den Capitolinischen Museen und den anderen kommunalen Sammlungen der Stadt Rom. Bd. I.: Kaiser- und Prinzenbildnisse. Philipp von Zabern, Mainz 1985, S. 72ff.;
Gramaccini, Norberto: Die Umwertung der Antike – Zur Rezeption des Marc Aurel in Mittelalter und Renaissance. In: Herbert Beck/Peter C. Bol (Hrs.); Natur und Antike in der Renaissance. Liebieghaus – Museum alter Plastik, Frankfurt am Main 1985, S. 51-83;

Wünsche, Raimund: Der Kaiser zu Pferd. Zum Erscheinungsbild des Marc Aurel. In: Marc Aurel. Der Reiter auf dem Kapitol. Hirmer Verlag, München 1999, S. 58-77.

(zuletzt bearbeitet am 14. März 2024)

Dienstag, 20. Februar 2024

„Er lud auf sich unsre Schmerzen“ – Die „Kreuztragung Christi“ von Matthias Grünewald

Matthias Grünewald: Kreuztragung Christi (um 1523/25);
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

Die beiden Gemälde der Kreuztragung und der Kreuzigung Christi von Matthias Grünewald (14890–1528) bildeten ursprünglich die Vorder- und Rückseite einer großen Tafel, die vermutlich als Altarbild diente und sich, seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar, in der Pfarrkirche St. Martin in Tauberbischofsheim befand. 1882 wurde sie von dem Sammler Edward Habich erworben, der sie ein Jahr später bei einer Restaurierung spalten ließ. 1900 erwarb die Großherzogliche Kunsthalle Karlsruhe die beiden Tafeln, wo sie seither zu den bedeutendsten Ausstellungsstücken der Mittelaltersammlung gehören. Die Tauberbischofsheimer Gemälde werden dem Spätwerk Grünewalds zugerechnet und somit in die Zeit zwischen 1523 und 1525 datiert. Beide Werke sollen hier vorgestellt werden, zunächst die Kreuztragung Christi, in einem späteren Post dann die Kreuzigung.

Christus ist unter der Last des riesigen Kreuzes, dass er selbst nach Golgatha zu tragen gezwungen wird, auf die Knie gestürzt. Mit kraftlosen Händen versucht er den Querbalken festzuhalten, der ihm von der linken Schulter gleitet. Das fahle, erbarmungswürdige Antlitz Jesu unter der Dornenkrone bildet genau auf der Schnittstelle der beiden Bilddiagonalen das Zentrum des Gemäldes und wird zusätzlich durch den unmittelbar hinter ihm aufragenden Pfeiler der Architektur im Hintergrund betont. Was wir hier vor uns haben, ist die künstlerische Umsetzung eines in mittelalterlichen Passionstraktaten vielfach aufgegriffenen Jesaja-Zitates: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet“ (Jesaja 53,2-3; LUT). Geschaffen hat sie Matthias Grünewald, dessen Isenheimer Altar zu den bekanntesten christlichen Kunstwerken überhaupt gehört. Auch dort ist der geschundene Gottessohn das zentrale Darstellungsthema (siehe meinen Post „Illum oportet crescere“). 

Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1523/25);
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Vier Peiniger drangsalieren Jesus: Links zerrt ihn ein mit gelber Kappe und grauem Knüppel ausgestatteter Häscher am Gewand; rechts kniet ein mit Hellebarde und Schwert bewaffneter Büttel, der Christus anblickt und ihm Grimassen schneidet. Dahinter holen zwei weitere Knechte kraftvoll zum Schlag gegen den Gestürzten aus. Der mit einem Turban bekleidete Scherge scheint schreiend, wie sein offener Mund zeigt, auf Christus zuzustürzen, um ihm einen Hieb zu versetzen. Der Peiniger rechts benützt die sich gabelnde Rute eines Dornstrauchs, um auf sein Opfer einzuschlagen; sein Gesicht wird vom Kreuzbalken verdeckt, „wodurch er gleichsam die anonyme, blinde Aggression verkörpert“ (Mack-Andrick 2007, S. 244). Mit seiner Linken hält er den Strick, mit dem er den Delinquenten weiterzerren wird. Die vier Angreifer sind in Kostüme der Zeit um 1520 gekleidet, die ein kräftiges, grelles Kolorit aufweisen. Giftige Grün- und Gelbtöne sowie ein aggressives Rot herrschen vor und können als farbige Attribute der Männer verstanden werden. Die Männer wollen den Zusammengebrochenen wieder hoch- und vorantreiben, durch das rechte Stadttor hinaus zur Schädelstätte, die in der Ferne an zwei aufragenden Kreuzen erkennbar ist. Dass dies das Ziel des Zuges ist, verdeutlicht unmissverständlich die nach rechts oben weisende Schräge des Querbalkens, der das Auge des Betrachters folgt.

Matthias Grünewald: Verspottung Christi (um 1504);
München, Alte Pinakothek

Darstellungen der Kreuztragung Christi waren seit dem 12. Jahrhundert oft figuren- und szenenreiche Bilder mit betonter Bewegungsrichtung. Der qualvolle und von vielen Personen begleitete Gang Christi nach Golgatha spielte sich meist auf freiem Feld vor den Stadtmauern Jerusalems ab. Grünewald beschränkt sich in seinem Gemälde dagegen auf den Fall Christi unter dem Kreuz. Und er zeigt Jesus völlig allein, in größter Verlassenheit: Keine Mutter, keiner der Jünger steht ihm bei, keine Magdalena weint um ihn, keine Veronika wischt ihm den Schweiß ab, kein Simon von Kyrene hilft ihm, das Kreuz zu tragen. Die Reduktion dient Grünewald dazu, sein Gemälde zu einer Art Andachtsbild zu verdichten. Der Weg nach Golgatha wird bei ihm „durch die zentrierende Komposition angehalten, so dass das Geschehen wie eingefroren dem Betrachter zur verinnerlichten Betrachtung präsentiert wird“ (Mack-Andrick 2007, S, 242). Dabei übernimmt Grünewald auch Figuren und Szenen aus anderen Passionsmomenten: So stammt der rechts kniende Landsknecht, der den Zug nach Golgatha aufhält, von vergleichbaren Spöttern aus „Geißelungen“ oder „Verspottungen“. Eine solche Übernahme charakteristischer Typen aus dem Passionsgeschehen lässt sich schon bei Grünewalds früher Verspottung Christi beobachten (siehe meinen Post „Ein Frühwerk von Matthias Grünewald“), wo er den sonst für Kreuztragungen üblichen „Seilzieher“ anstelle eines knienden Spötters einbezog.

Meister der Karlsruher Passion: Kreuztragung Christi (um 1450),
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

Wie bei vielen anderen mittelalterlichen Darstellungen der Kreuztragung wird Christus von Grünewald im Maßstab deutlich größer abgebildet und damit hervorgehoben, ja regelrecht monumentalisiert. Die gleiche Bildstrategie wird z. B. auf der Kreuztragung Christi der Karlsruher Passion eingesetzt (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“), ebenso von Hans Multscher (1400–1467) auf der entsprechenden Tafel seines Wurzacher Altars. Auf allen drei Gemälden wird das leidvolle, von der Anstrengung gezeichnete Haupt Christi mit den deformierten Gesichtern seiner mitleidlosen Peiniger kontrastiert. Diese drastische Gegenüberstellung gehört zu den zentralen Darstellungsverfahren der mittelalterlichen Passionsschilderungen. Gleichzeitig erzeugen die beiden früheren, noch im 15. Jahrhundert entstandenen Tafeln „durch die von der Vielzahl der Schergen mit ihren bedrohlichen Waffen verursachte Enge das Gefühl von Beklommenheit und Ausweglosigkeit (Mack-Andrick 2007, S. 242). Die gleiche Wirkung wird von Grünewald durch die architektonische Beengtheit seiner Komposition hervorgerufen.

Hans Multscher: Kreuztragung Christi (1437); Berlin, Gemäldegalerie

Das Motiv der Schergen, die auf Jesus einschlagen, begegnet in der Bildtradition häufig; oft wird der Erlöser auch mit einem Stock oder mit dem Knauf eines Schwertes gestoßen. Aber es tritt niemals derart markant und beinahe ausschließlich in Erscheinung wie bei Grünewald. „Man darf fast sagen: Es wird hier nur geschlagen!“ (Arndt/Moeller 2002, S. 50). Der Eindruck heftigster Aggression wird verstärkt die symmetrisch-konzentrische Struktur der Gruppe: Von links wie von rechts bedrängen je zwei Schergen den völlig erschöpften Heiland, der ihren Tätlichkeiten schutzlos ausgeliefert ist. Nichts lenkt den Betrachter ab von der furchtbaren Marterung Christi, die sich vor seinen Augen als nicht enden wollendes Geschlagenwerden vollzieht. Grünwalds Anordnung der Figuren bewirkt, „dass man diese Szene nicht als vorübergehende Phase eines übergreifenden Geschehens, sondern wie einen Dauerzustand erlebt“ (Arndt/Moeller 2002, S. 52).

Christi Blick ist gen Himmel gerichtet, was als stummer Dialog mit Gottvater und demütiges Einwilligen in seinen Heilsplan gedeutet werden kann. Der „himmelnde Blick“, der sich als pathoserfüllte mimische Konvention vor allem im 17. Jahrhundert großer Beliebtheit bei Christus- und Heiligendarstellungen erfreute, wird hier bereits bei Grünewald eingesetzt. Aber dieser Blick verweist gleichzeitig auch auf die Inschrift des Architravs über Christus. Es ist die Bibelstelle Zitat aus Jesaja 53,5: „ER IST VMB VNSER SVND WILLEN GESCLAGEN“. (In der Luther-Übersetzung von 2017 lautet der vollständige Vers: „Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“) Damit wird das augenblickliche Leiden Christi und sein bevorstehender Kreuzestod mit der alttestamentlichen Prophetie verknüpft und zum Sühneopfer Christi für die Menschheit und zur Erfüllung des göttlichen Ratschlusses erklärt. „Wer diese Kreuztragung betrachtet, sieht den Schrecken äußerster Todesnot, zugleich liest er, dass eben dies seine Rettung sei, auf die er vertrauen kann. So lässt das Bibelzitat ihn erkennen, was auf dem Bild eigentlich gemeint ist, Wort und Bild zusammen werden zur Quelle der Selbsterkenntnis einerseits, der Heilshoffnung andererseits“ (Arndt/Moeller 2002, S. 48). Das Leiden Christi „vumb unser sund willen“ ist vom Betrachter mitverschuldet, doch macht das alte Prophetenwort im selben Zug den Heilsplan Gottes erkennbar. Letzten Endes ist es das Ziel des Schreckensbildes, Trost zu vermitteln.

Dirk Jacobsz Vellert: Die Vision des hl. Bernhard (1524); Kupferstich

Die Szene spielt sich zwischen zwei durch eine Art Portikus verbundenen Toren ab. Unter dem Haupt Christi erscheint wie eine Bekrönung vor dem leuchtend blauen Himmel ein majestätischer Rundbau, der entweder als der Tempel Salomos oder als Grabeskirche gedeutet wurde. Die Architektur hat Grünewald mit italianisierenden Element der Renaissance-Baukunst verziert (z. B. die kannelierte Kugel über dem Architrav oder das in lockerer Malerei gestaltete Dekor der Bogenarchivolte rechts). Hierfür gibt es wohl eine spezielle Vorlage, die Grünewalds Beeinflussung durch südniederländische Renaissance-Ornamentik zeigt: Ein Kupferstich von Dirk Jacobsz Vellert mit einer Darstellung der Vision des hl. Bernhard (1524) präsentiert die Figuren vor einer reich verzierten architektonischen Schauwand. Die linke Seite dieser Anlage ähnelt frappierend dem Hintergrund von Grünewalds Kreuztragung, bis hin zu dem hinter der Wand aufragenden Zentralbau (hier der Turm einer Kirche). Selbst die kannelierte Kugel über dem linken Pilaster findet sich prominent im Gemälde wieder, und auch die Ornamente in der Bogenarchivolte stimmen, wenn auch vereinfacht, annähernd überein.

 

Literaturhinweise

Achenbach-Stolz, Karin: Die „Kreuztragung“ von Matthias Grünewald aus restauratorischer Sicht. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 104-115;

Arndt, Karl/Moeller, Bernd: Die Bücher und letzten Bilder Mathis Gothart-Nitharts, des so genannten Grünewald. In: Rainhard Riepertinger u.a. (Hrsg.), Das Rätsel Grünewald. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2002, S.45-60:

Mack-Andrick, Jessica: Die „Kreuztragung“ des Tauberbischofsheimer Altars als Beispiel andachtsfördernder Bildstrategien. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 241-246;

Vetter, Ewald M.: Matthias Grünewald Tauberbischofsheimer Kreuztragung. Rekonstruktion und Deutung. In: Pantheon XLIII (1985); S. 40-53;

Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag, München/London/New York 2001, S. 185-186;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Freitag, 16. Februar 2024

Malerei mit dem Scheinwerfer – Caravaggios „Gefangennahme Christi“

Caravaggio: Gefangennahme Christi (1602); Dublin, National Gallery of Ireland
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Caravaggio (1571–1610), wie sich der lombardische Maurersohn Michelangelo Merisi nach dem Herkunftsort seiner Familie nannte, gilt als einer der Gründerväter der Barockmalerei. Seine wichtigste Erfindung, die ihn zu einem der einflussreichsten Künstler der europäischen Kunstgeschichte machte, ist die Helldunkel-Dramaturgie: Schräg und streuungsfrei einfallendes Licht betont vor allem die Körperlichkeit seiner Figuren – Muskeln, Haut, Falten, Blut – und belässt große Partien des Bildes im Schatten. Aus dem Dunkel tauchen Gesichter und Gesten der oft dichtgedrängten Gestalten wie Sandbänke auf – man spricht auch vom „Schlag- bzw. Scheinwerferlicht“ Caravaggios.
Caravaggio: Die Dornenkrönung Christi (1602/03); Wien, Kunsthistorisches Museum
Caravaggio: Christus an der Geißelsäule (um 1606); Rouen, Musée des Beaux-Arts et de la Céramique
Caravaggio: Der ungläubige Thomas (1603); Potsdam, Bildergalerie im Park Sanssouci: Hier posieren dieselben Männer als Hauptfiguren wie in der Gefangennahme Christi
In seinem Gemälde Gefangennahme Christi (1602) ist der schmerzliche Moment des nächtlichen Verrats durch Judas in die linke Bildhälfte verlegt. „Daraus ergibt sich eine Dynamik, die von den rechts heranströmenden Soldaten unterstrichen wird“ (Gianfreda 2005, S. 32). Die Bilderzählung wird auf diese Weise der gewohnten abendländischen Leserichtung von Gemälden, nämlich von links nach rechts, spiegelbildlich entgegengesetzt. Mit lebensgroßen, nah gesehenen Halbfiguren schildert der Maler gleichzeitig den Kuss, die Ergreifung Christi und die Flucht der Jünger. „Es wird gestoßen und gezerrt, gehalten und geflohen, was sich als permanentes Drängen nach links aus dem Bild hinaus vollzieht. Nur Christus steht unbeweglich da“ (Müller 2022, S. 68). Grelle Lichtreflexe auf den Rüstungen der Soldaten blenden uns, und doch herrscht tiefe Dunkelheit auf Caravaggios Bild.
Die Köpfe von sieben Personen befinden sich annähernd auf einer horizontalen Linie, sechs von ihnen sind im Profil dargestellt; nur Jesu Antlitz wird durch den Kuss zur Seite gedrängt und erscheint für den Betrachter en face. Auf engstem Raum ereignet sich das Geschehen, und es bereitet einige Mühe zu entdecken, welcher Körper welche Handlung ausführt. „Vor allem die Hände der Figuren führen ein Eigenleben und steigern den chaotischen Eindruck(Müller 2022, S. 57). Der Bildhintergrund ist nahezu völlig schwarz; wer aber direkt vor dem Bild steht, erkennt allerdings noch Zweige und Blätter eines Olivenbaums. 
Caravaggio hat Elemente aus verschiedenen Evangelien in sein Bild einfließen lassen. So berichtet einzig der Evangelist Johannes von der Laterne und den Fackeln (Johannes 18,3), während die fliehende Figur links im Bild nur von Markus erwähnt wird (Markus 14,51-52). Die Komposition selbst ist einem Holzschnitt von Albrecht Dürer aus dessen Kleiner Passion (1509) nachempfunden, vor allem der Soldat in zeitgenössischem Harnisch, der Christus an der Kehle packt. Lorenzo Pericolo verweist noch auf eine weitere mögliche Quelle: Lucas van Leydens Radierung Der Narr und das Mädchen (um 1520): „When inverted, the profile of the foolish lover, the position of his arm over the womans breast, and the motif of his rapacious cluth at her shoulder, evoke Caravaggios kissing scene. More relevant, the tilt of the ladys head in rebuking the old man, her averted eyes covered by heavy eyelids, and the sigh escaping from her parted lips undoubtedly compare with Christ’s expression in the Dublin painting“ (Pericolo 2011, S. 319).
Albrecht Dürer: Gefangennahme Christi (um 1509); Holzschnitt
Lucas van Leyden: Der Narr und das Mädchen (um 1520); Radierung
Von den Gesichtern der beiden gepanzerten Soldaten sehen wir so gut wie nichts – sie werden von ihren Helmen verdeckt; ein dritter lässt sich, kaum sichtbar, rechts oben im Hintergrund ausmachen. Christus ist in der Pose einer antiken Demosthenes-Statue dargestellt; Caravaggio dreht jedoch deren Handhaltung zu einer Geste, die von Kunsthistorikern meist als Ergebenheit in den Willen Gottes interpretiert wird. Im Gewühl der Gebärden – von der ausgestreckten Hand des flüchtenden Jüngers über den festen Griff des Judas bis hin zur Hand mit der Laterne – sind die verschränkten Finger Christi in dem Bereich unterhalb des Soldatenarms am markantesten und sorgfältigsten beleuchtet. Pericolo allerdings erkennt in der Geste Jesu eher tiefe Trauer und Verzweiflung, „for it traditionally expresses desperation before an irreparable event(Pericolo 2011, S. 322). Als Beleg führt er den Holzschnitt Pyramus und Thisbe des Dürer-Mitarbeiters Hans Schäufelein an (um 1510): „By entangling her hands, Thisbe communicates her despair before Pyramus dead body“ (Pericolo 2011, S. 323). Die verschränkten Hände verweisen zugleich, so Pericolo, voraus auf den Seelenschmerz von Maria und Johannes bei der Kreuzigung, der Kreuzabnahme, der Beweinung und der Grablegung Christi. Wie man die Gestik Jesu nun auch deuten möchte – seine Mimik jedenfalls lässt keinen Zweifel daran, dass er um sein zukünftiges Schicksal weiß. 
Jürgen Müller spricht von einer Gebärde existentieller Erstarrung“ (Müller 2022, S. 66), die gleichzeitig anzeige, dass Christus hier im Garten Gethsemane nur einen Augenblick zuvor gebetet habe und die Finger deshalb noch verschränkt sind. Judas hat die Schultern Jesu umfasst und nah zu sich herangezogen. Dem zudringlichen Kuss kann dieser nicht entkommen – seine Hände jedoch veranschaulichen seinen absoluten Widerwillen“ (Müller 2022, S. 63).
Standbild des Demosthenes (um 280 v.Chr.); Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek
Hans Schäufelein: Pyramus und Thisbe (um 1510); Holzschnitt
Der Umhang des panisch davonstürzenden Jüngers – der schon von einem Soldaten gepackt wird – bauscht sich hinter ihm in einem Bogen, der die Köpfe von Christus und Judas umschließt und hervorhebt. „Dabei hallt das rote Tuch gleich einer Ausweitung des Schreis des Fliehenden durch das Bild, es kommentiert – wie sonst die Rötung der Haut – die innere, psychische Regung auf das folgenreiche Geschehen, verkörpert das durch Angst und Schrecken zum Wallen gebrachte Blut, das nicht nur Christi Lippen, sondern auch das entblößte Ohr des Fliehenden dunkelrot färbt“ (Koos 2007, S. 78). Auch die hoch erhobene, geöffnete rechte Hand wiederholt und verstärkt die Form seines schreienden Mundes.
Albrecht: Dürer: Gefangennahme Christi (1508); Kupferstich
Albrecht Dürer: Gefangennahme Christi (1510); Holzschnitt
Bereits Albrecht Dürer zeigt die Episode aus dem Markus-Evangelium in miniaturisierter Form sowohl im Hintergrund seines Kupferstichs der Gefangennahme Christi als auch im Holzschnitt aus der Großen Passion von 1510. In beiden Arbeiten erkennt man, wie ein Scherge den Jüngling verfolgt und ihm das Gewand entrissen hat. Dürer betont vor allem das Motiv des aufgeblähten Mantels, das Caravaggio übernimmt.

Janusartig ist das Haupt Christi mit dem des entsetzten Jüngers verbunden, den viele Forscher mit Johannes identifizieren, dem Lieblingsjünger Jesu. Die beiden Männer scheinen wie aus einem Körper geschaffen (man beachte, wie das Haar des einen in das des anderen übergeht, ebenso die farbgleichen roten Umhänge). Pericolo sieht in dieser regelrechten Verschmelzung die Zerrissenheit Christi verbildlicht: „As an alter ego of the Savior, John visually suggests that a part of Christ would long to bolt and escape the loathsome embrace of Death, whereas another part of him thinks better of it, surrendering to Judas kiss and Gods will“ (Pericolo 2011, S. 326). Das erinnert zugleich an die vorangegangene Szene im Garten Gethsemane, wo Christus den himmlischen Vater anfleht, diesen Kelch (den Kelch der Passion; Matthäus 26,39) an ihm vorbeigehen zu lassen.
Die bildparallele Reihung der Figuren in der Gefangennahme Christi erinnert an ein Fresko von Caravaggios Landsmann Giotto (1266–1337) aus der Arena-Kapelle in Padua, das die gleiche Szene zeigt (siehe meinen PostOhnmächtig überlegen“). Vor allem der flüchtende Jünger am linken Bildrand, den ein Scherge am Mantel fasst, könnte von dort übernommen sein. 
Giotto: Gefangennahme Christi (um 1305); Padua, Arena-Kapelle
„Will der Betrachter das Geschehen richtig erfassen, muß er die Rolle des Mannes mit der Laterne hinten rechts einnehmen, der nicht flieht, sondern Zeuge bleibt und buchstäblich Licht in das Dunkel bringt: Es ist Caravaggio selbst“ (Ebert-Schifferer 2010, S. 147/148). Tatsächlich entspricht der Kopf des „Beleuchters“ dem, was wir über die äußere Erscheinung des Malers wissen. In dem Mann mit der erhobenen Laterne hat man darüber hinaus eine Anspielung auf den antiken Philosophen Diogenes gesehen: Der Überlieferung nach ging der Grieche am hellen Tag mit einer brennenden Laterne auf dem Athener Marktplatz umher und leuchtete den Menschen ins Gesicht. Auf die Frage, was er da treibe, antwortete er: „Ich suche einen Menschen.“ Caravaggio betont mit diesem Zitat nicht nur die Besonderheit Jesu, er weist damit auch voraus auf den Prozess vor Pilatus und dessen berühmten Ausspruch: „Seht, welch ein Mensch!“ (Johannes 19,5). Nicht zuletzt erinnert die erhobene Laterne, so Pericolo, an Caravaggios Werkstattpraxis: „the pose of live models in front of the painter illuminated by light coming usually from above (Pericolo 2011, S. 336).
Müller sieht dagegen in Caravaggios Kryptoporträt weit eher ein Eingeständnis schuldhafter Verstrickung, denn die Figur hebe die Laterne hoch, um den Schergen zu leuchten und vom Geschehen selbst nichts zu verpassen. Außerdem sei sie eindeutig auf der Bildhälfte der Häscher platziert. Damit präsentiere sich Caravaggio als Mittäter; die Inszenierung des Künstlers in der Gefangennahme Christi müsse als Selbstanklage“ (Müller 2022, S. 70) verstanden werden.
Posthumes Porträt Caravaggios von Ottavio Leoni (um 1614);
Florenz, Biblioteca Marucelliana

Literaturhinweise
Apesos, Anthony: The Painter as Evangelist in Caravaggios Taking of Christ. In: Aurora 11 (2010), S. 21-56;
Benedetti, Sergio: Caravaggio’s ‘Taking of Christ’, a masterpiece rediscovered. In: The Burlington Magazine 135 (1993), S. 731-741;  
Cottrell, Philip: The kid stays in the picture: John, Judas and the Malchus episode in Caravaggios Taking of Christ. In: Carla Briggs u.a. (Hrsg.), Art History after Françoise Henry. 50 Years at UCD – 1965-2015. Gandon Editions, Dublin/Cork 2016, S. 58-71;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Fiore, Kristina Herrmann: Caravaggio’s Taking of Christ’ and Dürer’s Woodcut of 1509. In: The Burlington Magazine 135 (1995), S. 24-27;
Fried, Michael: The Moment of Caravagio. Princeton University Press, Princeton and Oxford 2010, S. 209-217;
Gianfreda, Sandra: Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2005, S. 17-37;
Koos, Marianne: Haut als mediale Metapher in der Malerei von Caravaggio. In: Daniela Bohde/Mechthild Fend (Hrsg.), Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2007, S. 65-85;
Müller, Jürgen: Der Judaskuss der Malerei: Caravaggios Dubliner Gefangennahme Christi in neuer Deutung. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 85 (2022), S. 57-81; 
Pericolo, Lorenzo: Zuccari’s Lantern: The Blind Spot of Painting in Caravaggio’s The Taking of Christ. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 311-341;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.

(zuletzt bearbeitet am 16. Februar 2024)