Samstag, 3. Februar 2024

Matthäus, der Analphabet – Caravaggio in der Contarelli-Kapelle von San Luigi dei Francesi (2)


Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602); Rom, San Luigi dei Francesi/
Contarelli-Kapelle (für die Großansicht einfach anklicken)
Im Juli 1600 hatte Caravaggio zwei Ölgemälde für die Seitenwände der Contarelli-Kapelle in San Luigi dei Francesi fertiggestellt – es waren die Bilder, die ihn mit einem Schlag berühmt machten (siehe meine Posts „Heimgeleuchtet“ und Mord am Altar). Im Februar 1602 erhielt er dann einen weiteren Auftrag für diese Kapelle: Er sollte ein Altarbild malen, und zwar einen Matthäus mit dem Engel
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599), Kriegsverlust
Auf diesem Gemälde, das wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg in Berlin verbrannt ist, war ein bäurisch anmutender Evangelist in einfachem Kittel zu sehen, ein bärtiger Kahlkopf, barfüßig, von gedrungener Gestalt, mit muskulösen Armen und Beinen. Matthäus, in leichter Aufsicht und einem nicht näher bestimmten Umraum dargestellt, hat sich auf einem klappbaren Lehnstuhl (einem sogenannten Sgabello di Savonarola) niedergelassen. Sein kurzes, von der frühen Forschung als dunkelgrün beschriebenes Gewand entblößt seine Beine weit über die Knie, die auch durch den hellroten, über dem Stuhl liegenden Umhang nicht bedeckt sind. Die Stirn angestrengt in Falten gelegt, die Augen weit aufgerissen und die nackten Beine übereinandergeschlagen, liegt ein Foliant auf seinem linken Oberschenkel, auf dem deutlich hebräische Schriftzeichen zu erkennen sind. Alle Muskeln sind angespannt, am rechten Arm treten sogar die Adern hervor; die Finger liegen derart zusammengepresst auf der Buchseite und halten die Feder so flach, dass Matthäus als ebenso ungeübter wie unbeholfener Schreiber erscheint. Der linke Fuß wirft einen kräftigen Schatten und streckt sich uns so weit entgegen, dass er die „ästhetische Grenze zu durchstoßen scheint: „Dieser Effekt wird dadurch hervorgerufen, dass sich die Bildgrenzen eng um die Figuren legen, sodass sich die Dynamik des Bildes über die vordere Bildgrenze hinaus in den Raum des Betrachters erstreckt“ (Müller 2021, S. 5). 
Neben Matthäus steht ein hell gewandeter jugendlicher Engel in anmutigem Kontrapost und mit großen weißen Schwanenflügeln, der ganz ähnlich auch auf Caravaggios früherem Gemälde Die Heilige Familie auf der Flucht als Musikant erscheint. Das verlorene Bild aus Berlin bezieht seinen besonderen Reiz aus der direkten Gegenüberstellung des grobschlächtigen Evangelisten mit der androgynen Zartheit des Engels, der ihm zur Seite getreten ist. Er hat die Augen halb geschlossen und den Mund, in dem sich die Zunge abzeichnet, leicht geöffnet; sein transparenter Umhang entblößt das linke Bein bis weit über die Hüfte und gibt den Blick auf den Bauchnabel frei. „Nimmt man die Schrittstellung und Körperwendung des Engels beim Wort, so scheint diese Haltung noch den Schwung der soeben erfolgten Herabkunft auszudrücken, die unmittelbare göttliche Reaktion auf das Stocken der Inspiration bei Matthäus“ (Schauerte 2007, S. 248).
Der mit langem gelockten Haar versehene Engel hat die Fingerspitzen seiner Rechten mit leichtem Druck auf die klobige Hand des Evangelisten gelegt, um ihm beim Niederschreiben der allzu groß geratenen hebräischen Buchstaben die Hand zu führen. Nimmt Matthäus den himmlischen Boten überhaupt wahr? Ungläubig, ja fast erschrocken starrt er auf die Schriftzeichen, die da fast ohne eigenes Zutun auf der weißen Seite erscheinen. Es ist der Anfang des Stammbaums Jesu zu erkennen, der Abraham und David als Vorfahren Christi nennt und damit die „Königslinie“ seiner Herkunft betont (Matthäus 1,1). In der altkirchlichen Literatur wird davon gesprochen, dass Matthäus sein Evangelium auf Hebräisch verfasst habe. Allerdings liegen uns heute keine hebräischen Urtexte des Matthäus-Evangeliums vor – überliefert ist nur eine Fassung auf Griechisch.
Die Buchseiten sind die Fläche im Bild, die Caravaggio am stärksten aufgehellt hat. Sie befindet sich im Schnittpunkt der Bilddiagonalen; genau genommen liegt das geometrische Zentrum des Gemäldes exakt an jener Stelle, an der die Schreibhand des Matthäus das Papier berührt. Als zweites wesentliches Kompositionsprinzip sei auf die gegengleich geschwungenen Körperkonturen der beiden Figuren hingewiesen, die, von den Köpfen ausgehend, über Schultern und Oberschenkel bis hinab zu den Knien fast ein Vollrund beschreiben. „Die Mittelsenkrechte hingegen ist durch die Überschneidung der beiden Gesichtskonturen, den rechten Arm des Engels und wiederum durch die Schreibhand des Evangelisten angedeutet. Der linke Unterschenkel des Heiligen mit der leichten Untersicht seiner Fußsohle (...) bildet Fortsetzung und Abschluss dieser Linie und ist auf diese Weise tatsächlich der dem Betrachter am unmittelbarsten entgegentretende Bildgegenstand“ (Schauerte 2007, S. 249).
Caravaggio: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1594); Rom, Galleria Doria Pamphilj
Jutta Held ist der Meinung, Caravaggio gebe mit dem Motiv des Engels, der dem Evangelisten die Hand führt, Matthäus als Analphabeten zu erkennen (Held 2007, S. 93). Sein rustikaler Charakter, seine Schwerfälligkeit und sichtbare Mühe beim Schreiben unterstreichen seine Unwissenheit. Für Troy Thomas verunglimpft Caravaggio Matthäus aber keineswegs als Einfaltspinsel: „Caravaggio has not gratuitously made an image of an ignorant or stuipid saint. Matthew serves as a model of humility, freely accepting his need of divine guidance“ (Thomas 1985, S. 647). Die göttliche Inspiration und Hilfe manifestiert sich hier in einem sehr direkten, handgreiflichen Akt. „The point of the angels helping gesture is to stress the divine origin of the New Testament and the saints need of supernatural aid“ (Thomas 1985, S. 639).  
Sandro Botticell: Madonna des Magnifikat (1480/81); Florenz, Uffizien
Caravaggio hat die herkömmliche Beziehung zwischen erwachsenem Lehrer und kindlichem Schüler umgekehrt – Irving Lavin erkennt darin einen Rückgriff auf Sandro Botticellis Madonna des Magnifikat aus den Uffizien. Auf diesem Tondo schreibt Maria mit der Hilfe ihres Sohnes ihren berühmten Lobgesang nieder (Lukas 1,46-55).  
Ein derart ungebilderter Evangelist wie Caravaggios Matthäus war den gelehrten Geistlichen von San Luigi dei Francesi möglicherweise nicht recht – denn das Bild wurde abgelehnt. Der Marchese Vincenzo Giustiniani hingegen übernahm das Gemälde sofort in seine Privatsammlung und finanzierte dafür eine zweite Fassung von Caravaggio, die bis heute als Altarbild der Kapelle dient.
Blick in die Contarelli-Kapelle; Rom, San Luigi dei Francesi
Sybille Ebert-Schifferer ist einmal mehr anderer Ansicht – sie geht von einer umgekehrten Chronologie der Ereignisse aus. Caravaggios erste Fassung des Matthäus mit dem Engel sei im Mai 1599 als vorläufiges Altarbild in der Contarelli-Kapelle aufgestellt worden. Die Kapelle scheint damals wohl noch ein Provisorium gewesen zu sein, nur mit Deckenfresken geschmückt, obwohl der Kardinal Matteo Contarelli bereits 1585 gestorben war. Damit die von ihm testamentarisch verfügten Seelenmessen gelesen werden konnten, musste ein geweihter Altar vorhanden sein – am 1. Mai 1599 jedenfalls wurde die Kapelle für Messfeiern freigegeben. Am 23. Juli 1599 unterschrieb Caravaggio dann den Vertrag für die beiden Seitenbilder, nämlich die Berufung des Matthäus und das Martyrium des Matthäus. Im Februar 1603 wurde schließlich sein endgültiges Altarbild in der Kapelle angebracht, die erste Fassung erhielt, wie schon erwähnt, Vincenzo Giustiniani für seine Privatsammlung.
Thomas Schauerte wiederum gibt zu bedenken, ob der Berliner Matthäus mit dem Engel möglicherweise gar nicht für die Contarelli-Kapelle angefertigt wurde – sondern von Anfang an für Vincenzo Giustiniani: Der leidenschaftliche Sammler habe wahrscheinlich zur fraglichen Zeit vier der damals führenden Maler Roms beauftragt, für ihn jeweils einen der Evangelisten zu malen. „Dabei wäre die Wahl bei dem ikonographisch anspruchsvollsten ersten unter den Evangelisten auf Caravaggio gefallen. Träfe dies zu, dann müsste der Matthäus Giustiniani überhaupt nicht mit der Ausstattung der Contarelli-Kapelle in Zusammenhang gebracht werden“ (Schauerte 2007, S. 260). Die Erstfassung sei viel zu klein für die Wandfläche über dem Altar gewesen. Während die zweite Fassung mit 296,5 auf 195 cm die passenden Maße aufweise, fehle der ersten mit nur 223 cm nicht weniger als ein gutes Viertel der erforderlichen Höhe und ca. 12 cm in der Breite. Lothar Sickel bemerkt darüber hinaus, dass nur das heutige Altarbild die perspektivisch korrekte Untersicht für den Betrachter bietet, während dem Gemälde aus der Sammlung Giustiniani dieses Merkmal völlig fehle (Sickel 2003, S. 109).
Raffael: Jupiter und Cupido (1518); Rom, Wandfresko in der Villa Farnesina
Antike Büste des Sokrates; Rom, Musei Capitolini
Für die Sitzhaltung seines Ur-Matthäus hat Caravaggio wohl auf Raffaels Jupiter in der Gartenloggia der Villa Farnesina zurückgegriffen. In gleicher Weise wie Matthäus hat Jupiter hier die Beine übereinandergeschlagen und zeigt dem Betrachter die Fußsohle; auch die Darstellung körperlicher Nähe stimmt überein. Diese Verknüpfung mit dem eindeutig homoerotisch getönten Wandfresko (die Szene basiert auf einer Episode aus dem Roman Der goldene Esel von Apeleius) ist für Thomas Schauerte ein weiteres Argument dafür, dass der Matthäus Giustiniani wohl kaum als Altarblatt vorgesehen war – er wäre dafür schlichtweg zu frivol gewesen; in einer Sammlung dagegen „relativierte sich dieses Problem natürlich“ (Schauerte 2007, S. 268). Auch Valeska von Rosen verweist darauf, dass Caravaggio die Figur des Engels erotisch einfärbt und was an ihm Anstoß erregt haben mag: „sein durchsichtiges und unter dem Aspekt der Verhüllung wenig effizientes Gewand, durch das sich das Knie des manieriert abgewinkelten Beins abzeichnet, der geöffnete Mund und die sichtbare Zunge – kurz seine lascività, die durch das Motiv des Anschmiegens an den Apostel noch verstärkt wird“ (von Rosen 2009, S. 273).
Die Gesichtszüge des Evangelisten wiederum entsprechen dem damals durch antike Porträtbüsten bekannten Kopf des Sokrates. „The bowling-ball head, wide-set, bulging eyes, blunt nose and the stocky gnarled body – all unmistakably conform to the image of Socrates as we know it from many ancient sources that describe his Silenius-like features and unrefined manners, and from preserved portraits“ (Lavin 1974, S. 70). Der griechische Philosoph galt als prä-christliches Exempel menschlichen Nichtwissens, dem sein Daimon – in der Renaissance wie ein Engel dargestellt – die himmlische Weisheit übermittelte; da Sokrates nichts Schriftliches hinterlassen hat, glaubte man sogar, er sei des Schreibens unkundig gewesen“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 123).
Caravaggio: Hieronymus übersetzt die Bibel ins Lateinische (1606); Rom, Galleria Borghese
Der neue Matthäus entspricht mit seinem schmalen Kopf, dem schlanken Körper und einem vom Alter gezeichneten Gesicht ganz dem Gelehrtentypus, wie er z. B. aus vielen Darstellungen des Bibelübersetzers und Kirchenvaters Hieronymus bekannt ist. Er ist außerdem im Aussehen an das der Apostel-Gestalten auf den Seitenbildern angeglichen. Caravaggio hat ihn mit einem Heiligenschein versehen und in ein antikisierendes Gewand gehüllt, dessen leuchtende Orange- und Rottöne die Farbigkeit des ganzen Bildes dominieren. Lebensgroß kniet Matthäus mit einem Bein auf einem Schemel vor einem schräg in den Bildraum gestellten Tisch, die Feder in ein Tintenfass tauchend. „So ist er professioneller ausgerüstet als Caravaggios erster Matthäus, der das große Buch unbeholfen auf den Knien balancierte“ (Held 2007, S. 95). 
Eilig hat sich Matthäus an den Tisch begeben, um die Worte des himmlischen Boten niederzuschreiben. Er wendet den Kopf dem heranfliegenden Engel zu, wobei seine hell erleuchtete Stirn die göttliche Inspiration verdeutlicht; während sein linkes Knie auf einem hölzernen Hocker ruht, stützt er sich mit dem rechten Bein ab: Matthäus hat sich noch nicht einmal Zeit genommen, Platz zu nehmen. „So wie Matthäus bei seiner Berufung ,stante pede folgt, so umstandslos notiert er im Inspirationsgemälde die Worte des Himmlischen ohne jede Verzögerung (Müller 2021, S. 2). 
Deutlich unterscheiden sich Caravaggios Erst- und Zweitfassung in der gesteigerten „dramatischen Ereignishaftigkeit“ (Barasch 1998, S. 185). Engel und Evangelist verharren im ersten Bild in verhältnismäßiger Ruhe – nur die schreibende Hand des Matthäus und die führende des Engels rufen in der Vorstellung des Betrachters eine milde Bewegung wach. Demgegenüber hat die Zweitfassung den Duktus des Plötzlichen, Überraschenden, Hastigen, der sich in den heftigen Bewegungen der beiden Gestalten äußert. Das sich bauschende Gewand des Engels verleiht der Komposition zusätzliche Dynamik; seine Figur ist so scharf verkürzt, dass die Beine kaum sichtbar sind. „Solch extreme Verkürzung hat schon alleine den Ausdruckscharakter des Dramatischen an sich“ (Barasch 1998, S. 185).  
Das weiße Tuch hüllt den himmlischen Gesandten wie eine Wolke ein und endet in einem Knoten, dessen Zipfel auf Matthäus weist. Mit einer typischen Geste des Aufzählens informiert er den Evangelisten vielleicht gerade über die Genealogie Christi, mit der Matthäus-Evangelium beginnt. Aufmerksam hört Matthäus zu. „Allerdings nimmt er die Nähe des Himmlischen nicht visuell, sondern lediglich dessen Stimme wahr. Das Göttliche befindet sich jenseits der Sichtbarkeit(Müller 2021, S. 2). Sowohl der Evangelist wie auch der jungenhaft anmutende Engel wirken, als seien sie nach lebenden Modellen entstanden: Wie so oft schon beschrieben, „kommt das Heilige bei Caravaggio wirklichkeitsnah und geradezu alltäglich daher (Müller 2021, S. 2). 
Caravaggios Komposition ist durch eine fließende Bewegung gekennzeichnet, die an den Händen des Engels beginnt und im Bogen über dessen schwebendem Gewand zum Haupt des Evangelisten und weiter, an dessen Körper vorbei, in die rechte Bildecke führt. Die tänzerisch-elegante Körperhaltung des Engels mit ihren gegenläufigen Bewegungsrichtungen könnte Caravaggio ebenfalls von Raffael übernommen haben, nämlich wiederum von einem Fresko aus der Villa Farnesina und erneut seitenverkehrt: dem Triumph der Galatea. Und es gibt noch eine dritte Verbindung zu Raffael: Die Handhaltung des Engels ist der des Sokrates in der Schule von Athen sehr ähnlich.
Raffael: Triumph der Galatea (1506); Rom, Villa Farnesina
Raffael: Ausschnitt aus der Schule von Athen; Vatikan, Stanzen
Mit dem kippligen Schemel hat Caravaggio übrigens geradezu ein
Trompe-lœil geschaffen; er kragt mit einem Bein bedrohlich über die Bodenkante hinaus und „fällt von der Heftigkeit, mit der sich der nunmehr des Schreibens kundige Heilige mystisch inspiriert nach oben wendet, beinahe auf den Altar“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 132). Wie schon in der ersten Fassung des Matthäus wird die ästhetische Grenze scheinbar durchbrochen, indem Caravaggio die Kante des Tisches mit dem aufgeschlagenen Buch und den Holzschemel in den Betrachterraum hineinragen lässt. Vor allem der Hocker, der einen deutlichen Schatten auf die Standfläche wirft, suggeriert eine „Kontinuität zwischen Bild- und Betrachterraum und betont zugleich die Präsenz der Protagonisten“ (Schütze 2009, S. 112). Beabsichtigt ist dabei, die historische Distanz zwischen Heilsgeschichte und eigener Gegenwart zu überwinden, die Heilswahrheit also zu aktualisieren und sie wortwörtlich so nah wie möglich, beinahe physisch bedrängend an den Betrachter heranzurücken. Und: Drehte sich Matthäus um, um die Worte des Engels aufzuschreiben, würde sich sein Gewicht nach vorn verlagern, und er verlöre das Gleichgewicht. Dieser angedeutete Sturz ist zugleich auch Sinnbild für die Überwältigung durch die göttliche Botschaft.
Caravaggio: Emmausmahl (1601); London, National Gallery
Das Motiv des unsicheres Stands, der im nächsten Moment schon in einen Sturz umschlagen könnte, hat Caravaggio in seinem Londoner Emmausmahl nochmals verwendet (siehe meinen Post ,Brannte nicht unser Herz?): Über den reich gedeckten Tisch ragt eine Fruchtschale so weit hinaus, dass sie eigentlich herabfallen müsste – die jedoch stattdessen, scheinbar schwebend, stillsteht. Das Motiv einer sich umwendenden und zugleich aufblickenden Figur wiederum ist antiken Ursprungs und repräsentiert den inspirierten Dichter. „Was christliche und pagane Überlieferung dabei verbindet, ist der Versuch, Inspiration als spirituelles Ereignis im Inneren des Menschen darzustellen“ (Müller 2021, S. 8).
Dichter und Musen, Elfenbein-Relief (5. Jh.); Paris. Louvre
Dem Gegensatz zwischen Matthäus und dem Himmelsboten entspricht die Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit. Dabei verdeutlicht das Alter des Evangelisten die vergehende Zeit, während die Jugend des Engels Zeitlosigkeit veranschaulichen soll. In der Tat erscheint das um den Engel rauschende Tuch wie eine Zeitlupenaufnahme, während der in den Betrachterraum kippende Hocker Plötzlichkeit und Beschleunigung verbildlicht. „Dadurch wird eine anschauliche Differenz markiert, die uns als in der Kapelle stehende Betrachter in die Welt vergänglicher Momente versetzt, während wir nach oben in einen zeitlosen Raum blicken, der augenscheinlich anderen Gesetzen gehorcht (Müller 2021, S. 8).
Jürgen Müller verweist außerdem auf das deutlich erkennbare rechte Ohr des Evangelisten: „Achtet man nun auf das Gesicht des Engels, entdeckt man das zweite, um schließlich in dessen gebauschtem Gewand ein drittes, in Form einer Ohrmuschel in vergrößertem Format, wahrzunehmen (Müller 2021, S. 10). Damit nicht genug, durchstoße der Engel mit seinem Körper die mit dem schwebenden Gewand einhergehende Fläche auf eine Weise, als würde er einen imaginären Gehörgang verlassen. So werde auf das innere, spirituelle Hören angespielt. „Um dieses Konzept des inneren Hörens hervorzuheben, hat der Maler einen deutlichen formalen Hinweis gegeben, zeigt doch der letzte Teil des Engelgewandes auf das zweite, sichtbare und nur angedeutet Ohr des Evangelisten(Müller 2021, S. 10)
Guido Reni: Hieronymus und der Engel (1634/35); Wien, Kunsthistorisches Museum
Caravaggios zweiter Matthäus blieb nicht folgenlos: Um 1634/35 verwendete Guido Reni (1575–1642) die Komposition seitenverkehrt für seinen Hieronymus mit dem Engel: Auch hier erscheint ein Himmelsbote und vermittelt dem Kirchenvater mit vergleichbarer Gestik göttliche Inspiration für seine Bibelübersetzung.

Literaturhinweise
Barasch, Moshe: Die Inspiration des Evangelisten Matthäus in der Kunst der Reformation und der Gegenreformation. In: Moshe Barasch, Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, S. 174-195;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Harten, Jürgen: Bei Caravaggio. Die Annäherung des im Bild Erblickten an den Betrachter. In: Nike Bätzner (Hrsg.), Die Aktualität des Barock. Diaphanes, Zürich/Berlin 2014, S. 23-41;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (2. Auflage);
Müller, Jürgen: Das geöffnete Buch. Caravaggios Altargemälde Die Inspiration des Evangelisten Matthäus durch den Engel in der Contarelli-Kapelle und die Laienlektüre der Bibel. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2021 (urn:nbn:de:bvb:355-kuge-583-6);
Lavin, Irving: Divine Inspiration in Caravaggio’s Two St. Matthews. In: The Art Bulletin 56 (1974), S. 59-81;
Norris, Christopher: The Disaster at Flakturm Friedrichshain. A Chronicle and List of Paintings. In: The Burlington Magazine 94 (1952), S. 337-347;
Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien  zu Caravaggios römischem  Werk. Gorg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 100-108;
Schauerte, Thomas: Ein erfundener Skandal. Caravaggios „Matthäus Giustiniani“ und „Matthäus Contarelli“. In: Erich Garhammer (Hrsg.), BilderStreit. Theologie auf Augenhöhe. Echter Verlag, Würzburg 2007;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 111-112;
Sickel, Lothar: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2003, S. 109-131;
Troy, Thomas: Expressive Aspects of Caravaggio’s First Inspiration of Saint Matthew. In. The Art Bulletin 67 (1985), S. 636-652;
von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 269-296. 

(zuletzt bearbeitet am 25. März 2024)

1 Kommentar:

  1. Thomas LöffelholzNovember 07, 2014

    So anmutig elegant der Matthäus 1602 auch aunzuschauen ist, so menschlich vertraut erscheint mir die 1599er Fassung.
    Vielen Dank für diese schöne Gegenüberstellung.

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