Caravaggio: Das Emmausmahl (1601); London, National Gallery |
Die Emmausgeschichte, die ausführlich im Lukas-Evangelium
erzählt wird (24,13-35), gehört zu den Begegnungen des auferstandenen Christus
mit seinen Jüngern. Caravaggio (1571–1610) schildert allerdings nicht den Gang
in das zwei Stunden von Jerusalem entfernte Emmaus, bei dem sich Jesus zwei
seiner Jünger zugesellt, die ihn für einen Fremden halten. Der italienische
Barockmaler zeigt vielmehr den dramatischen Höhepunkt der Erzählung. Als die
drei Männer am Abend in einem Gasthaus einkehren, nimmt Jesus das Brot, dankt
dafür, bricht es und gibt es den beiden anderen: „Da wurden ihre Augen geöffnet,
und sie erkannten ihn“ (Lukas 24,31; LUT).
Caravaggio hat Christus mit seinen beiden
Jüngern – naturalistisch dargestellte, lebensgroße Halbfiguren – an einem
bildparallel angeordneten Tisch platziert. Über einem reich ornamentierten
Teppich ist ein weißes Leinentuch gebreitet, auf dem sich Speisen und Getränke
befinden, die mit stilllebenhafter Präzision wiedergegeben sind. Christus
segnet mit der ausgestreckten Rechten das vor ihm liegende gebrochene Brot, über das er auch seine linke Hand hält. In diesem Moment öffnen sich den Jüngern die Augen,
und sie begreifen, wie vom Donner gerührt, mit wem sie das Mahl teilen.
Links im Vordergrund sitzt der namentlich
genannte Kleopas in einem schräg gestellten, vom Bildrand angeschnittenen Scherenstuhl.
Er blickt staunend, fast erschreckt mit weit aufgerissenen Augen auf das
Geschehen und stützt sich, weil er im Begriff ist aufzuspringen, auf die
Armlehnen. Sichtbares Zeichen seiner jähen Bestürzung und Anspannung ist
darüber hinaus der scheinbar in genau diesem Moment aufplatzende Stoff an
seinem Ellenbogen. Der zweite Jünger sitzt am rechten Tischende; Caravaggio hat seine braune Weste mit einer Jakobsmuschel versehen, um dem ursprünglich nicht genau benannten Jünger eine eindeutige Identität zu geben – er ist nun als Jakobus der Ältere erkennbar.
Jakobus streckt
beide Arme in einer plötzlichen Gebärde der Länge nach aus und starrt wie vom
Schlag getroffen auf das gebrochene Brot. Dabei
scheinen die Ellenbogen des Kleopas und die linke Hand des Jüngers
rechts regelrecht die Bildgrenze zum
Betrachterraum hin zu durchstoßen. Gleichzeitig wird der Blick des
Betrachters durch den in die Bildtiefe stierenden Kleopas und die
Diagonale der ausgebreiteten Arme seines Gefährten rechts auf das
Antlitz Christi gelenkt – das im Zentrum des Gemäldes in hellem Licht erstrahlt. In diesem Moment ist auch der Wirt hinzugetreten; seine Ruhe kontrastiert mit den heftigen Reaktionen der beiden Jünger. Anders als ihnen hat sich Christus dem ahnungslosen Mann offensichtlich nicht offenbart, als er das Brot segnet – sonst hätte er als Zeichen der Ehrfurcht seine Mütze abgenommen.
Das jugendlich füllige, bartlose Gesicht Jesu,
das vom Schatten des Wirtes umrahmt wird, lehnt sich an frühchristliche
Christusbilder an – was schon die Zeitgenossen irritierte. Charles Scribner III hat als mögliche Quelle Caravaggios auf den Junius-Bassus-Sarkophag hingewiesen, der 1595 in Rom ausgegraben wurde: Dort thront ein jugendlich-bartloser Christus zwischen zwei Aposteln. „It is, to be sure, fruitless to attempt to identify any one monument as Caravaggio’s Early Christian model – so many of were available. The true source was the distinctive type, and its Early Christian status provided historical justification“ (Scribner III 1977, S. 379).
Sarkophag des Junius Bassus, Christus zwischen zwei Aposteln (359 n.Chr.); Rom, Schatzkammer von St. Peter |
Lorenzo Pericolo wiederum verweist als Vorbild für Caravaggios Auferstandenen auf Leonardo da Vincis Mailänder Abendmahl. Dabei besteht für ihn die besondere Ähnlichkeit der beiden Christusfiguren vor allem in der Segensgeste: „both seem deeply engrossed in the intense and highly contemplative act of blessing and consecrating the bread, as incated by their half-closed, downcast eyes, and their parted, whispering lips“ (Pericolo 2011, S. 276).
Michelangelos Christus aus seinem „Jüngsten Gericht“ an der Stirnwand der Sixtina |
Leonardo da Vincis Christus aus seinem berühmten Abendmahl (1494-1497) |
Das berühmte Vorbild für die ausgebreiteten, in Verkürzung gezeigten Arme |
Caravaggio malerische Virtuosität lässt sich auch an Details der Kleidung erkennen: So sind etwa der kleine Spitzenkragen des Wirtes oder die Schleife am weißen Hüfttuch des rechten Jüngers minutiös herausgearbeitet. Seine Kunstfertigkeit zeigt sich aber vor allem an dem Stillleben, das auf dem Esstisch ausgebreitet wird: Die Keramikschalen, das Glas, die Karaffe und der Krug, das gebratene Huhn und die Brote sind alle vollendet in ihrer ganz eigenen Materialität erfasst. „Faszinierend ist das in der Wiedergabe der Gefäße und Speisen entfaltete Spiel des Lichts: die präzise beobachteten Reflexe und Schlagschatten, die Spiegelungen auf und Lichtbrechungen durch gefüllte Glasgefäße, die unterschiedlichen Abstufungen von transparenten, semitransparenten und opaken Körpern, von spiegelnden, glänzenden und matten Oberflächen“ (Pichler 2006, S. 133/134).
Der Obstkorb mit den Trauben und Äpfeln steht so labil auf der Tischkante, dass er jeden Moment herunterfallen und dem Betrachter vor die Füße kippen könnte. Caravaggio hat hier sein eigenes autonomes Früchtestillleben aus der Mailänder Brera abgewandelt (siehe meinen Post „Das Auge isst mit“).
Caravaggio: Früchtekorb (1595/96); Mailand, Pinacoteca Ambrosiana |
Caravaggio: Bacchus (1593/94); Florenz, Uffizien |
Caravaggio: Das Emmausmahl (1606); Mailand, Pinacoteca di Brera |
An die Stelle der spektakulären theatralischen Inszenierung, wie sie die erste Version zeigt, ist eine sehr viel stillere Interpretation getreten. „Alles ist reduziert, Tiefenräumlichkeit und Farbigkeit ebenso wie die Stilllebenelemente, und diese radikale Reduktion der Darstellungsmittel umfasst auch die malerische Ausführung, die sehr viel essenzieller geworden ist“ (Schütze 2009, S. 158).
Bartolomeo Cavarozzi: Emmausmahl (um 1615/25); Los Angeles, J. Paul Getty Museum |
Literaturhinweise
Bell, Janis C. Bell: Light and Color in Caravaggio’s Supper at Emmaus. In: artibus et historiae 31 (1995), S. 139-170;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 144-146;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 144-146;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer
Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 60-63;
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 261-266;
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 261-266;
Krüger, Klaus: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk. In: Jürgen Harten und Jean-Hubert Martin (Hrsg.), Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 24-35;
Pericolo, Lorenzo: Visualizing Appearance and Disappearance: Caravaggio’s Two Versions of the Supper at Emmaus. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 265-295;Pichler, Wolfram: Die Evidenz und ihr Doppel. Über Spielräume des Sehens bei Caravaggio. In: Vera Beyer u.a. (Hrsg.), Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S. 125-156:
Charles Scribner III: In Alia Effigie. Caravaggio’s London Supper at Emmaus. In: The Art Bulletin 59 (1977), S. 375-382;
Varriano, John: Caravaggio and the Decorative Arts in the Two Suppers at Emmaus. In: The Art Bulletin 68 (1986), S. 218-224;
Warma, Susanne J.: First Fruits, and the Resurrection: Observations on the Fruit Basket in Caravaggio’s London »Supper at Emmaus«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53 (1990), S. 583-586;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 1. Dezember 2024)
Varriano, John: Caravaggio and the Decorative Arts in the Two Suppers at Emmaus. In: The Art Bulletin 68 (1986), S. 218-224;
Warma, Susanne J.: First Fruits, and the Resurrection: Observations on the Fruit Basket in Caravaggio’s London »Supper at Emmaus«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53 (1990), S. 583-586;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 1. Dezember 2024)
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