Mittwoch, 23. September 2015

Der angespiene König – Caravaggios „Dornenkrönung Christi“


Caravaggio: Dornenkrönung Christi (1602/03); Wien, Kunsthistorisches Museum
Nach seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane und dem Verhör vor dem Hohen Rat wird Christus dem römischen Statthalter Pilatus ausgeliefert – damit der den unliebsamen jüdischen Rabbi verurteilt und hinrichten lässt. Obwohl Pilatus keine Schuld an Jesus finden kann, gibt er schließlich dem Drängen der Menge nach und befiehlt, Christus zu geißeln und zu kreuzigen. In den Evangelien (Matthäus 27,27-31; Markus 15,16-20; Johannes 19,1-7) wird die Geißelung nur kurz erwähnt, auf die folgende Verspottung Jesu als König der Juden gehen die Texte genauer ein. Dazu gehört auch die Dornenkrönung Christi, die Caravaggio (1577–1610) in seinem Gemälde aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien dargestellt hat.
Auf engstem Raum zusammengedrängt und dicht an den Vordergrund herangerückt, ragen vier Figuren vor dem Betrachter auf. Im Zentrum des Bildes sitzt die nackte, von einem leuchtend roten Mantel umhüllte Gestalt Christi. Zwei Schergen, der eine unmittelbar hinter ihm, der andere rechts von ihm stehend, drücken ihm mit Hilfe von Rohrstöcken die Dornenkrone aufs Haupt. Der Gewalt seiner Peiniger nachgebend, beugt Christus Kopf und Oberkörper nach vorne, sein langes Haar fällt herab, Blut rinnt ihm über Stirn und Wange. Jesu Hände liegen gefesselt aufeinander und halten das Schilfrohr-Zepter, das ihn verhöhnen soll. Auf der linken Seite beobachtet ein bildeinwärts stehender Soldat in Rüstung die Misshandlung Jesu. Sie erfolgt ohne Zweifel auf sein Geheiß, denn durch seinen Federhut ist er als Offizier gekennzeichnet. Sein im Dunkel aufscheinendes rechtes Auge und die scharf beleuchtete Ohrmuschel signalisieren, dass er die Schändung aufmerksam, aber regungslos verfolgt. Die rechte Hand stützt er auf eine Holzschranke, mit der Caravaggio die Bildgrenze markiert. Die vom Licht getroffenen, kalt schimmernden Rüstungsteile und die weißen Federn des Offiziers bilden einen scharfen Kontrast zu den entblößten Oberkörpern der anderen drei Figuren. Wie in der Gefangennahme Christi (siehe meinen Post „Malerei mit dem Scheinwerfer“) demonstriert der Barock-Maler hier seine Meisterschaft, Lichtreflexe auf einem Harnisch wiederzugeben.
Caravaggio: Gefangennahme Christi (1602); Dublin, National Gallery of Ireland
Das für Caravaggio typische „Scheinwerferlicht“ modelliert die Figuren in kräftigem Helldunkel. Die Komposition wird von Diagonalen bestimmt, die sich in der Gestalt Christi kreuzen. Die abgestumpft wirkenden Folterknechte, „deren physische Anstrengung in der komplexen Torsion ihrer Körper zum Ausdruck kommt, und die teilnahmslose Präsenz des Offiziers kontrastieren wirkungsvoll mit dem in sich ruhenden, sich still in sein Schicksal fügenden Christus“ (Schütze 2009, S. 157).
Abgestumpfte Folterknechte, die nicht wissen, was sie da tun
Dass Jesus von den drei Männern so bedrängend nah umstanden, ja regelrecht umzingelt wird, verstärkt den beklemmenden Charakter der Szene. Der Schriftsteller Navid Kermani bezeichnet in seinem Buch Ungläubiges Staunen die Gleichgültigkeit der Handlanger, denen Pilatus Christus überantwortet hatte, als die tiefste Erniedrigung Jesu: „Allein aus Zweigen eine Krone zu flechten und mit Stöcken so fest in den Schädel zu drehen, daß sich die Dornen in die Schädeldecke bohren, Blut auf die Wangen und den Rücken spritzt und die Krone bei heftigem Kopfschütteln dennoch feststeckt – das geht nicht in ein paar Minuten, das ist ein ausgedehntes, handwerklich übrigens auch kunstvolles Spektakel, dem die Schar der Kriegsknechte grölend, applaudierend, anfeuernd zuschaut, eine Stunde vielleicht oder noch länger. Und Jesus hat mit ihnen nichts zu tun, das ist das Schlimmste, ist ihnen so fremd, so gleichgültig wie ein Gegenstand, den sie auf der Straße auflesen, ein zufällig gefundenes oder vielmehr zugeworfenes Spielzeug“ (Kermani 2015, S. 41/42). Kermanis Text ist eine Abbildung von Caravaggios Dornenkrönung Christi beigefügt – die seine Beschreibung allerdings konterkariert. Denn die Einsamkeit und Demütigung Jesu bleibt keineswegs unbeobachtet, sie ist nicht abgrundtief – wir als Betrachter des Bildes schauen zu, und wir sind dabei alles andere als teilnahmslos. Caravaggios Gemälde ist eine deutliche Aufforderung zur compassio, zum einfühlenden Mit-Leiden.
Auch wenn sonst keiner zuschaut – wir sehen, was er leidet
Sybille Ebert-Schifferer verweist noch auf die vom einfallenden Licht betonte Nackenlinie Christi – sie sieht in ihr eine „Chiffre für Verletzlichkeit und Ergebenheit“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 167). Jesus sollte durch den Purpurmantel, die Dornenkrone und das Zepter aus Schilfrohr als König der Juden verspottet werden und dominiert doch durch seine Würde das Geschehen. Sein gesenkter Blick scheint ganz nach innen gerichtet, fast so, als würde er gar nicht wahrnehmen, was um ihn herum geschieht, sondern vielmehr über seine bereits im Alten Testament angekündigte Passion (Jesaja 53) und die Bedeutung des göttlichen Heilsplanes nachsinnen. Michael Fried hat an einem Detail des Bildes deutlich gemacht, dass Christus das ihm auferlegte Leiden bewusst annimmt und erträgt: Dem Sohn Gottes wird das Schilfrohr-Zepter zwar von den Folterknechten zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand gedrückt – aber er hält es ebenso willentlich wie zeichenhaft fest, denn seine Passion und sein Kreuzestod werden die Menschheit erlösen.
Bartolomeo Manfredi: Dornenkrönung Christi (1605/10); München, Schloss Schleißheim
Orazio Gentileschi: Dornenkrönung Christi (1613/15); Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
Dirck van Baburen: Dornenkrönung Christi (1622-1624); Utrecht, Museum Catherijneconvent
Valentin de Boulogne: Dornenkrönung Christi (1627/28); München, Alte Pinakothek
Die Soldatenfigur und die Konfrontation des wehrlosen Jesus mit den Schergen inspirierten zahlreiche Nachfolger, die „Caravaggisten“, zu Varianten, in denen oft die Bedeutung der Nackenlinie aufgegriffen wurde – so z. B. von Bartolomeo Manfredi (1582–1622) auf seiner Dornenkrönung Christi im Münchner Schloss Schleißheim, von Orazio Gentileschi (1563–1639), Dirck van Baburen (1595–1624) oder Valentin de Boulogne (1591–1632), deren Versionen in Utrecht, Braunschweig und der Münchner Alten Pinakothek zu sehen sind.

Literaturhinweise
Eclercy, Bastian: Erfahrungshorizont Rom. Die Musikantenbilder Caravaggios und der italienischen Caravaggisten. In: Jochen Sander u.a. (Hrsg.), Caravaggio in Holland. Musik und Genre bei Caravaggio und den Utrechter Caravaggisten. Hirmer Verlag, München 2009, S. 19-35;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Fried, Michael: The Moment of Caravaggio. Princeton University Press, Princeton and Oxford  2010, S. 86-96;
Kermani, Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 38-43;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009;
Squarzina, Silvia Danesi: Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie. Electa; Mailand 2001, S. 288-292.

(zuletzt bearbeitet am 4. April 2020)