Dienstag, 29. August 2023

Ohne Ausweg – Felix Nussbaums „Selbstbildnis mit Judenpass“ (1943)

Felix Nussbaum: Selbstbildnis mit Judenpass (1943); Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus
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Wohl im August 1943 vollendete der damals 39-jährige deutsche Maler Felix Nussbaum ein Selbstporträt, das ihn weltberühmt machen sollte. Es zeigt ihn mit dem auf seinem Mantel aufgenähten Judenstern und seinem Fremdenpass, auf den das Wort „Jude“ auf flämisch und französisch gestempelt ist („JUIF – JOOD“). Es ist die belgische, zweisprachige Version eines „Judenpasses“, mit dem die deutschen NS-Besatzer zwischen 1940 und 1945 alle jüdischen Menschen quer durch Europa stigmatisierten, um sie so für Verfolgung, Deportation und Vernichtung zu erfassen. Das Passbild auf dem Ausweispapier zeigt Nussbaums Ebenbild; deutlich lesbar sind auch die übrigen Eintragungen. Als Nationalität ist – entsprechend der offiziellen Anordnung – „sans“ (ohne) angegeben. Wie zur Bestätigung dieser erzwungenen Heimatlosigkeit ist die Angabe zu seinem Geburtsort Osnabrück bis zur Unkenntlichkeit verwischt.

Nach einer erfolgreichen Karriere als junger Künstler in Berlin und einem Stipendium in Rom kehrte Nussbaum 1933 von dort nicht in das nationalsozialistische Deutschland zurück, sondern hielt sich mit seiner Lebensgefährtin Felka Platek im Exil in Italien, Frankreich und ab 1937 in Brüssel auf, wo das Malerpaar heiratete. Zwei Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 8. Mai 1940 wurde Felix Nussbaum von den belgischen Behörden als deutscher Ausländer verhaftet und in das südfranzösische Internierungslager Saint-Cyprien gebracht. Wegen der Haftbedingungen dort bat er die französische Lagerführung um Rückführung nach Deutschland; unterwegs konnte er in Bordeaux fliehen. Er kehrte nach Brüssel zurück, wo Felka Platek geblieben war. Bis 1943 konnte Nussbaum sich trotz der deutschen Besetzung relativ frei bewegen, seine Malutensilien kaufen und in seiner Wohnung leben und arbeiten. Aber ab 1943 war es für ihn als Jude kaum mehr möglich, sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Seine Frau und er bezogen ein Versteck in der Mansarde ihres Wohnhauses. Nussbaum organisierte sich ein Atelier und tauschte dort Bilder gegen Lebensmittel.

Genau in dieser Umbruchzeit entstand das bekannte Selbstbildnis, das ihn mit Hut und Mantel zeigt, vor der Ecke einer hohen grauen Mauer, die die Bildfläche regelrecht abriegelt. Nussbaum porträtiert sein nach rechts gewendetes Gesicht im Halbprofil; die Hutkrempe verschattet seine Stirn, der Mantelkragen ist aufgestellt, der Kopf über die linke Schulter uns zugewendet, die Augen mit den hochgezogenen Brauen blicken den Betrachter direkt an. Er wirkt abgemagert und ist so nah an uns herangerückt, dass wir seine Bartstoppeln erkennen. Es ist ein Selbstporträt, „aber eigentlich können wir sein Stehen und Umwenden nicht als ein statuarisches Posieren auffassen, eher als flüchtiges, zur Seite vorbeistrebendes Weitergehen“ (Rebel 2008, S. 72). Den Aufschlag seines Mantels hat Nussbaum zurückgeschlagen, um seinen Judenstern zu zeigen, den Fremdenpass hält er in der erhobenen linken Hand – als hätten wir, die Betrachter, ihn aufgefordert, sich auszuweisen.

Felix Nussbaum: Selbstbildnis an der Staffel (1943); Osnabrück,
Felix-Nussbaum-Haus (für die Großansicht einfach anklicken)

Das sogenannte Selbstbildnis mit Judenpass ist das letzte in einer Reihe von Selbstporträts, die in diesen Jahren entstanden. Anders als in den vorhergehenden Selbstbildnissen stellt Nussbaum sich hier erstmals in seiner von außen, durch NS-Gesetzgebung und Propaganda aufgezwungenen jüdischen Identität dar. Der Maler hat sich im Halbdunkel einer städtischen Hinterhofsituation porträtiert. Die hohe Mauer rahmt das Selbstbildnis und fokussiert den Betrachterblick auf den Vordergrund. Oberhalb der Mauer – dieser Teil des Bildes nimmt nur ein Viertel der Leinwand ein – bricht die geschlossene dunkle Wolkendecke auf, und das Blau des Himmels zeigt sich; links oben hat Nussbaum ein Wohnhaus mit einem erleuchteten Fenster hinzugefügt, rechts daneben noch einen Telegrafenmast, Blütenzweige und einen Stamm mit abgeschnittenen Ästen Dazwischen und weiter rechts kreisen Vögel am Himmel.

Sind hier Hoffnungsschimmer angedeutet?  Wohl blühen Zweige vor dem düsteren Himmel und treiben die beschnittenen Äste erneut aus, wohl brennt hinter einem Fenster Licht, wohl zeigt sich Himmelsblau – aber die Mauer, vor der Nussbaum steht, überragt ihn deutlich und ist durchgehend geschlossen. Sie bietet keinen Durchlass, keine Fluchtmöglichkeit. Die düsteren Farben der Mauer und des wolkenverhangenen Himmels entsprechen der ständigen Bedrohung des Malers, entdeckt und verhaftet zu werden. Fatalismus dominiert das Bild. Nussbaums Selbstporträt veranschaulicht beklemmend seine verzweifelte Situation in ihrer ganzen Ausweglosigkeit – und es wird darüber hinaus zum Mahnmal, weil sich der Künstler mit dem Schicksal aller heimatlos gewordenen, verfolgten Juden während des Nazi-Regimes identifiziert. Das Martyrium der Nussbaums in ihrem Dachgeschoss dauerte bis zum Juni 1944: Dann wurden sie denunziert und mit dem letzten Transport vom Sammellager Mecheln nach Auschwitz deportiert, wo man sie ermordete. Felix Nussbaums direkter, anklagender Blick auf seinem Selbstporträt mit Judenpass macht uns zu Mitwissern.

 

Literaturhinweise

Kaumkötter, Jürgen Joseph: Felix Nussbaum und die Holocaust-Kunst. „Selbstbildnis mit Judenpass“. Wallstein Verlag, Göttingen 2023;

Neugebauer, Rosamunde (Hrsg.): Zeit im Blick. Felix Nussbaum und die Moderne. Rasch Verlag, Bramsche 2004;

Rebel, Ernst: Selbstporträts. TASCHEN Verlag, Köln 2008, S. 72;

Steinkamp, Maike: Felix Nussbaum, Selbstbildnis mit Judenpass, 1943. In: Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen, Valeska (Hrsg.): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Philipp Reclam, Stuttgart 2005, S. 164.


Dienstag, 22. August 2023

Die Porträtkunst des Hans Memling


Hans Memling: Bildnis eines Mannes (um 1475/80); Venedig, Galleria dellAccademia
Im Jahr 1465 ließ sich Hans Memling (um 1435–1494) in Brügge nieder und begann dort, wie andere zugewanderte Maler, allen voran Jan van Eyck und Petrus Christus, eine erfolgreiche Laufbahn als selbstständiger Künstler. Die Entscheidung für Brügge, ein herausragendes internationales Handelszentrum, war sicherlich beeinflusst durch die Aussicht auf vielfältige Aufträge seitens der zahlreichen ausländischen Kaufleute, die in der Stadt ansässig waren oder sich vorübergehend dort aufhielten.
Unter den von Memling für ausländische Kunden geschaffenen Werken erfreuten sich Porträts der größten Beliebtheit, und zwar insbesondere bei den Italienern. Kleinformatig, tragbar und persönlich, besaß ein Bildnis doppelte Attraktivität: Es hielt nicht nur die äußere Erscheinung seines Besitzers fest, sondern diente auch als Erinnerung an dessen Aufenthalt in Brügge. Einige der Auftraggeber Memlings entschieden sich dafür, ihre Bildnisse in halbfigurige Andachtstriptychen oder -diptychen einfügen zu lassen. Die Mehrheit seines Klientels bevorzugte jedoch die einfachere – und preisgünstigere – Alternative des autonomen Porträts. Mehr als ein Drittel vom Memlings erhaltenem Œuvre  besteht aus Bildnissen – wir kennen 36, die Porträtfiguren auf Altarbildern nicht mitgerechnet. Da alle Bildnisköpfe in Dreiviertelansicht wiedergegeben werden, nimmt das Gesicht in der kleinen Bildfläche breiten Raum ein. Memling verleiht seinen Porträtfiguren eine erstaunliche Plastizität, sodass sie auch mit dem florentinischen Büstenporträt in Marmor verglichen wurden.
Hans Memling: Bildnis eines betenden jungen Mannes (um 1485); Madrid,
Museo Thysssen-Bornemisza (für die Großansicht einfach anklicken)
Mino da Fiesole: Porträtbüste des Piero de’ Medici (um 1453); Florenz, Bargello
Memlings wichtigster Beitrag zur Porträtmalerei bestand – neben seiner erstaunlichen Fähigkeit, das Äußere festzuhalten und Ähnlichkeit zu erzielen – im Einsatz des Landschaftshintergrunds. Er tut sich manchmal jenseits eines Fensters auf, wie etwa im Porträt aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza; häufiger jedoch erstreckt er sich hinter dem Porträtierten, und zwar entweder vor offenem Himmel oder durch den Bogen einer Loggia. Die Hände ruhen meist auf einer Brüstung oder auf dem Rand eines Bilderrahmens, die Schultern sind oft an den Seiten beschnitten, was den Eindruck des „Heranzoomens“ mittels eines Kameraobjektivs vermittelt, „so als ob der Portraitierte in einem vom Bilderrahmen selbst gebildeten Fenster erscheinen würde“ (Nuttall 2005, S. 75).
Nahsicht auf Büste und Angesicht der Person und Fernsicht auf die Landschaft werden von Memling perfekt kombiniert. „Bildausschnitt, landschaftliche Erweiterung und skulpturaler Realismus sind die drei Komponenten von Memlings originellem Schaffen in einem Genre, das sich nach ihm zu einer der wichtigsten Kunstformen der abendländischen Malerei entwickeln sollte“ (De Vos 1994, S. 366).
Hans Memling: Bildnis eines Mannes (um 1470/75); New York, The Frick Collection
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Rogier van der Weyden: Braque-Triptychon, rechter Flügel
mit Maria Magdalena (um 1452/53); Paris, Louvre
Die Inspiration für Memlings Porträts mit Landschaftsausblick dürfte in der  religiösen Malerei zu suchen sein: Als Vorbild könnte Rogier van der Weydens Braque-Triptychon (um 1452/53) mit seinen Halbfiguren vor einer offenen Landschaft gedient haben (siehe meinen Post
Garanten der Erlösung). Sehr wahrscheinlich ist, dass Memling in Brügge mit van der Weyden zusammengearbeitet hat. Dessen weibliche Porträts dürften auch die Prototypen gewesen sein für Memlings weibliche Bildnisse in Brügge oder Paris. Die Inschriften in Trompe-l’œil-Manier auf einigen erhaltenen Rahmen sind wiederum von Jan van Eyck (um 1390–1441) angeregt, so etwa die metallisch und aufgelegt wirkenden Buchstaben und Ziffern auf dem Bildnis einer jungen Frau in Brügge.
Rogier van der Weyden: Porträt einer Dame (um 1460),
Washington, National Gallery of Art
Hans Memling: Bildnis einer alten Frau (1470/72); Paris, Louvre
Hans Memling: Bildnis einer jungen Frau (1480); Brügge, Musea Brugge
Jan van Eyck: Margareta van Eyck (1433); Brügge, Groeningemuseum
Im späten 15. Jahrhundert müssen Memlings Zeitgenossen den kombinierten visuellen Effekt von gefälligen Landschaftsdetails und verblüffend präzise wiedergegebener Haut, Haar und Kleidung in dessen Bildnissen als Inbegriff von Perfektion empfunden haben.
Piero della Francesca: Federigo da Montefeltro und seine Frau Battista Sforza (1472/73);
Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
In Italien pflegten die Porträtmaler immer noch die strenge Profilansicht, die nördlich der Alpen längst überholt war. Im Norden hatten die Künstler seit etwa 1430 die Dreiviertelansicht entwickelt. Sie nahmen die Hände des Dargestellten mit ins Bild auf und führten neue Elemente wie etwa Brüstungen ein, mit deren Hilfe sich die Illusion schaffen ließ, die Figur befände sich in der Verlängerung des Raumes, in dem sich auch der Betrachter befindet. Den Realismus der Maler jenseits der Alpen bewunderten die italienischen Kunstkenner schon seit Mitte des 15. Jahrhunderts, doch erst in den 1470er Jahren, als niederländische Vorlagen immer größere Verbreitung fanden, begann die Dreiviertelansicht das herkömmliche Profilbildnis in Italien zu verdrängen.
Sandro Botticelli: Bildnis eines jungen Mannes mit einer Medaille des Cosimo
de’ Medici (1474); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Dieser Prozess fand verblüffend schnell statt. Einige Künstler, allen voran Antonello da Messina und die Venezianer, bevorzugten den tief dunklen Hintergrund aus den Porträts Jan van Eycks und anderer früherer Maler. Doch weit häufiger wurde auf Hans Memling zurückgegriffen. Eines seiner bevorzugten Gestaltungsmittel – die Platzierung des Porträtierten in einem Innenraum mit Fenster, hinter dem sich eine Landschaft öffnet scheint in Florenz besonders beliebt gewesen zu sein, wo die Künstler zahlreiche Versionen dieses „inneren Außenraums“ (Nuttall 2005, S. 80) in ihre Bildnisse integrierten. Es war aber der Memling eigene Porträttypus mit reinem Landschaftshintergrund, der den größten Anklang fand. Tatsächlich gibt es im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Italien kaum einen Porträtmaler, der diesem Vorbild nicht gefolgt wäre – so z. B. Sandro Botticelli in seinem Bildnis eines jungen Mannes mit einer Medaille des Cosimo de’ Medici. (siehe meinen Post Das italienische Porträt der Frührenaissance). Außer allgemeinen Anklängen an Memling – wie dem Kopf mit dem gelockten Haar vor dem Hintergrund des Himmels und der lichten Landschaft in der Ferne – weist Botticellis Bildnis, in dem der Porträtierte eine Porträtmedaille präsentiert, eine verblüffende Parallele zu Memlings Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros auf.
Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros
(1473/74); Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten
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Zu Memlings treuesten Anhängern zählte Pietro Perugino (um 1450–1523). Das
Porträt des florentinischen Kaufmanns Francesco delle Opere von 1494 belegt eindrucksvoll, wie weitreichend der italienische Künstler Memlings Bildideen verarbeitet hat. 
Pietro Perugino: Bildnis des Francesco delle Opere (1494); Florenz, Uffizien
Vermutlich ermutigt durch seinen Meister Perugino, widmete sich auch Raffael eingehend dem Studium Memlings. Seine Virtuosität in der Nachahmung von dessen Stil, der um 1500 in Italien immer noch das Maß aller Dinge bildete, „stellt unzweifelhaft das Ergebnis einer unmittelbaren Beschäftigung mit Memlings Werk dar“ (Nuttall 2005, S. 86). Als Beispiel sei hier die Junge Frau mit dem Einhorn aus der Galleria Borghese genannt.
Raffael: Junge Frau mit dem Einhorn (um 1506), Rom, Galleria Borghese
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Zum Schluss soll noch ein Memling-Porträts etwas genauer in den Blick genommen werden, und zwar das Bildnis eines Mannes mit Brief. Vor einer weiten Hügellandschaft, die links durch einen Weg erschlossen wird, während rechts ein See und in der Ferne ein Schloss zu sehen sind, zeigt der Künstler das Brustbild eines schwarz gewandeten Mannes mit ebenfalls schwarzer Kappe. Statt der traditionellen Dreiviertelansicht wählt Memling für das Antlitz des Unbekannten die stärker frontal orientierte Siebenachtelansicht. Zusammen mit dem Antwerpener Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros ist diese Tafel das einzige erhaltene Porträt Memlings, auf dem der Blick des Dargestellten unmittelbar aus dem Bild gerichtet wird. Beide Tafeln gelten deswegen als autonome Bildnisse. Sie verbindet auch die ähnliche, kalligraphische Wolkenbildung. 
Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit Brief (um 1475);
Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
Das Porträt aus Florenz ist allerdings durch einen schmalen Brüstungsstreifen vom Betrachter geschieden, der vermutlich ursprünglich direkt in den – verlorenen – Originalrahmen überging. Die linke Hand des Mannes ruht auf diesem Brüstungsstreifen, Daumen und Zeigefinger halten ein gefaltetes Schriftstück, vermutlich einen Brief. Das Porträt ist wahrscheinlich um 1475 nach Italien gelangt – deswegen ist es überaus plausibel, dass Memling das Bildnis im Auftrag eines in Brügge residierenden Geschäftsmanns aus Italien geschaffen hat.


Literaturhinweis
De Vos, Dirk: Memling als Porträtmaler. In: Dirk De Vos, Hans Memling. Das Gesamtwerk. Belser Verlag, Stuttgart/Zürich 1994 S. 365-370;
Nuttall, Paula: Memling und das europäische Portrait der Renaissance. In: Till Holger-Borchert (Hrsg.), Hans Memling. Portraits. Belser Verlag, Stuttgart 2005, S. 68-91;
Richter, Kerstin: Unverwechselbar. Zur Porträt-Tradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden. In: Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.), Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 35-43.

(zuletzt bearbeitet am 23. August 2023)

Freitag, 18. August 2023

Porträt-Kunst der italienischen Spätrenaissance (2): Agnolo Bronzinos „Bildnis einer Dame in Grün“

Agnolo Bronzino: Bildnis einer Dame in Grün (um 1530/32); Windsor,
Windsor Castle/Royal Collection (für die Großansicht einfach anklicken)
Vor einem dunkelroten Hintergrund zeigt dieses Bildnis, gemalt von Agnolo Bronzino (1503–1572), entstanden um 1530/32 und heute in Windsor Castle aufbewahrt, eine junge Dame in Halbfigur, die ihre Hände vor dem Leib übereinandergelegt hat und den linken Arm auf ein nur angedeutetes Möbel stützt. Fast frontal präsentiert, scheint sie den Betrachter sehr aufmerksam, beinahe durchdringend zu mustern. Sie trägt ein fein plissiertes Untergewand, das am Kragen, an der mittleren Leiste und am Saum des Ärmels mit eleganten Stickereien in Schwarz verziert ist, darüber ein grünes Kleid mit grau-beigen Streifenapplikationen und gerüschten Puffärmeln, an die engere Unterärmel aus geschlitztem Leder angenäht sind. Der Ausschnitt des Kleides wird von zwei aufgesetzten Zierstreifen umrahmt; ein dritter in Blau verdeckt den Übergang vom Oberteil, dem Mieder, zum ausgestellten Faltenrock.

Ihr braunes Haar hat die Frau unter einer ebenfalls grünen, mit Goldfäden reich gemusterten Wulsthaube (balzo) zusammengesteckt. Dort findet sich das Grün des Kleides wieder. Mit der linken Hand hält sie ein halb transparentes Stück Stoff, bei dem es sich vermutlich um einen Handschuh handelt. Den Zeigefinger an der marmorhaft blassen Linken ziert ein Ring.

Charakteristisch für das Porträt des Manierismus (also etwa der Zeitspanne zwischen 1520 und 1600) sind verzerrte Körperproportionen: Hals und Finger werden überlängt, während der Kopf verkleinert erscheint. Der Oberkörper ist oft in sich gedreht, was eine beinahe schraubenförmige Körperhaltung zur Folge haben kann. Bei der Dame in Grün sind diese Kennzeichen manieristischer Bildnisse etwas zurückhaltender eingesetzt und dafür umso raffinierter komponiert: Arm und Schulter bilden eine Raute, mit der die Figur fest in das Bildgeviert eingespannt ist. Die beigefarbenen Streifen der Ärmel führen den Blick des Betrachters von den Händen zum Kopf der Porträtierten und wieder zurück. Die rechte Schulter ist leicht nach vorne gedreht, das Haupt kaum merklich aus der En-face-Ansicht gewendet und leicht geneigt.

Agnolo Bronzino: Bildnis einer Dame in Rot (um 1533), Frankfurt,
Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Unmittelbar fortgeführt hat Bronzino diesen Porträttypus in seinem Frankfurter Bildnis einer Dame in Rot. Gerade in den Detailformen der physiognomisch durchaus unterschiedlichen Gesichter sind die Parallelen frappierend, etwa bei der Form des Mundes mit der schmalen Oberlippe, den deutlich betonten Mundwinkeln und der prononcierten Unterlippe. „In der Plissierung des Untergewandes hat der Maler im Städel-Bild aber einen noch virtuoseren Grad an Differenzierung erreicht“ (Eclercy 2016, S. 166).

Bronzino zählt, auch wenn sein Aktionsradius sich auf Florenz und das Großherzogtum Toskana beschränkte, neben dem europaweit agierenden Tizian (um 1488–1576) zu den führenden italienischen Porträtmalern des Cinquecento. 1530 wurde die Republik Florenz elf Monate lang von einem kaiserlich-päpstlichen Heer belagert, denn Karl V. hatte dem Medici-Papst Clemens versprochen, die Herrschaft seiner Familie in deren Heimatstadt wiederherzustellen. Die Florentiner mussten sich schließlich, durch Hungersnöte und Epidemien gezwungen, dem kaiserlichen Willen beugen: Allesandro de‘ Medici (1510–1537) wurde neuer Herzog von Florenz. Nach Ende der Belagerung ging Bronzino 1530 für zwei Jahre nach Pesaro an den Hof des Herzogs von Urbino, Francesco Maria I. della Rovere. Dort entwickelte er seinen stupenden, bis heute bewunderungswürdigen Detailrealismus, der sich durch ein beinahe obsessives Interesse für die Oberflächen-Texturen unterschiedlichster Stoffe und Materialien auszeichnet.

 

Literaturhinweise

Eclercy, Bastian: Agnolo Bronzino, Bildnis einer Dame in Grün, um 1530/32. In: Bastian Eclercy (Hrsg.), Maniera. Pontormo, Bronzino und das Florenz der Medici. Prestel Verlag, München 2016, S. 166;

Falciani, Carlo/Natali, Antonio (Hrsg.): Bronzino. Artist and Peot at the Court of the Medici. Mandragora, Firenze 2010, S. 256.

Donnerstag, 10. August 2023

Garanten der Erlösung – Rogier van der Weydens Braque-Triptychon

Rogier van der Weyden: Braque-Triptychon, Mitteltafel (um 1452/53); Paris Louvre
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Triptychen – aus drei einzeln gerahmten Tafeln zusammengesetzte Gemälde – sind im Werk Rogier van der Weydens (1399/1400–1464) neben den Porträts die wichtigste Bildgattung. Neun eigenhändige Triptychen haben sich erhalten; bei den meisten handelt es sich um private Andachtstriptychen mit beweglichen Flügeln, die von reichen Bürgern, Adeligen und Herrschern in ganz Europa in Auftrag gegeben wurden. Bereits vorgestellt habe ich Rogiers Johannesaltar in Berlin (siehe meinen Post „,Siehe, ich will meinen Boten senden‘“), den Münchner Bladelin-Altar (siehe meinen Post „Alle Welt huldigt dem Kind“) sowie das Kreuzigungstriptychon im Wiener Kunsthistorischen Museum (siehe meinen Post „Aus eins mach drei“). Dem soll sich diesmal das Braque-Triptychon im Louvre anschließen, das um 1452/53 entstanden sein dürfte

Fünf Halbfiguren in Isokephalie nebeneinander aufgereiht
Auf diesem relativ kleinen Triptychon (Mitteltafel 41 x 68 cm, Flügel je 41 x 34 cm) sind friesartig fünf Figuren nebeneinander dargestellt, wobei die Seitenflügel mit der Mitteltafel über eine durchgehende weitläufige Hintergrundlandschaft verbunden sind. Über den Köpfen der Figuren und in der Höhe ihrer Münder schweben Sprechtexte. Auf der linken Tafel weist Johannes der Täufer mit seinem rechten Zeigefinger auf den im Bildzentrum frontal präsentierten Christus und spricht dabei das Ecce Agnus Dei: „ Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Johannes 1,29; LUT). In seiner Linken hält er als letzter der Propheten das Alte Testament. Das in Leder gebundene und mit zwei Schließen versehene Buch stützt er auf den unteren Bilderrahmen. Wie auf Rogiers Medici-Madonna in Frankfurt trägt der Täufer einen Gürtel aus geflochtenen Dornenzweigen, ein Vorzeichen der Dornenkrone Christi. Im Landschaftshintergrund, in dem sich zeitgenössische burgundische Kleinfiguren zu Fuß oder zu Pferd erkennen lassen, sind die Predigt des Johannes (im Wald hinter seiner linken Schulter) sowie auf der anderen Seite die Taufe Christi dargestellt.

Johannes der Täufer, linker Seitenflügel
Rogier van der Weyden: Medici-Madonna (1453/60); Frankfurt, Städel Museum
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Die fünf Halbfiguren sind wie Heiligenbildnisse aufgereiht. Sie erinnern an die Ikonenfriese italienischer Altarbilder, die Rogier 1450 auf seiner Pilgerreise nach Italien kennenlernen konnte. Die Mitteltafel des Braque-Triptychons ähnelt dem Bildtypus der Deesis, bei dem Christus als Weltenrichter oder Triumphator umgeben ist von den Fürbittern Maria und Johannes der Täufer. Rogiers Christus segnet als Erlöser die Welt – sie wird symbolisiert durch die goldene Kugel mit dem Kreuz, dem festen Attribut des Salvator mundi. „Das maskenhafte, flächig wirkende Gesicht bezeichnet seine ewige Gestalt“ (Belting/Krise 1994, S. 187), so wie es Jan van Eyck (1390–1441) in seinem Christusporträt wiedergegeben hat. Der Text Christi lautet: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist“ (Johannes 6,51; LUT). Sein Haupt wird hinterfangen von einem abendlichen, orange-gelben Nimbus, der an den Himmel mit der untergehenden Sonne in der Rogiers Brüsseler Pietà. „Das Licht ist hier jedoch göttlicher Natur, denn es spiegelt sich nicht im Wasser“ (De Vos 1999, S. 268).

Kopie nach Jan van Eyck: Christusporträt (um 1500); München, Alte Pinakothek

Rogier van der Weyden: Pietà (um 1441); Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique

Johannes der Täufer ist von Rogier allerdings durch den gleichnamigen Evangelisten ersetzt worden. Er vollzieht seinerseits eine segnende Geste über einem Kelch, den er in der linken Hand hält. Eines seiner Attribute ist ein solcher Kelch, in dem sich eine Schlange windet, da Johannes der Legenda aurea nach aus einem Giftbecher trank, ohne Schaden zu nehmen. Da bei Rogier jedoch die Giftschlange fehlt, geht Dirk de Vos davon aus, dass hier der Messkelch gemeint ist. „Der Text, den Christus spricht, gestattet die Annahme, daß er hier das Brot repräsentiert und der Kelch des Johannes den Wein.“ (De Vos 1999, S. 268). Rogier verschmilzt auf der Mitteltafel also eine Deesis mit dem Eucharistie-Gedanken.

Maria Magdalena, rechter Seitenflügel

Auf dem rechten Flügel ist die weinende Maria Magdalena mit einem Salbgefäß dargestellt. Während über den Köpfen aller anderen Figuren und in der Höhe ihrer Münder geschwungene Sprechtexte schweben, ist der Bibelvers über Magdalena als gerade Zeile wiedergegeben, weil er von ihr handelt und sie ihn nicht selbst ausspricht: „Da nahm Maria [Magdalena] ein Pfund Salböl von unverfälschter, kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu“ (Johannes 12,3; LUT). Auf ihrer orientalisch gemeinten runden Kopfbedeckung stehen weiß auf Weiß gestickte hebräische Lettern, die noch nicht überzeugend entziffert werden konnten. Auch ihre Funktion innerhalb des Triptychons ist nicht ganz eindeutig: Möglicherweise vertritt sie als bekehrte Sünderin die Menschheit, die nach den Worten Johannes des Täufers durch Christus von ihren Sünden befreit wird. Vielleicht ist sie als Büßerin aber auch das weibliche Gegenstück zum Bußheiligen Johannes der Täufer. Ihre Tränen in Verbindung mit dem Salbgefäß verweisen darauf, dass sie Christus die Füße salbte, nachdem sie diese mit ihren Füßen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet hatte (Johannes 12,1-3). Gerühmt wird an der Figur immer wieder, mit welcher Meisterschaft Rogier die Textur ihres langen Haars wiedergibt und den linken Brokatärmel mit farblicher Leuchtkraft versieht.

Die Rückseiten der beiden Seitenflügel

Das geschlossene Triptychon zeigt als Memento mori links einen Schädel auf einem von der Zeit zerfressenen Ziegelstein, rechts ist ein verwittertes Steinkreuz abgebildet. In der rechten und linken oberen Ecke befinden sich jeweils ein Wappen, mit deren Hilfe es gelang, das Stifterpaar zu identifizieren. Es handelt sich um Jean Braque aus Tournai und seine Ehefrau Katharina von Brabant, die 1450 geheiratet hatten. Jean Braque starb am 25. Juni 1452; wahrscheinlich ist, dass seine Frau das Triptychon als eine Art Epitaph oder Gedenkbild in Auftrag gegeben hat. Denn es gibt einige Hinweise auf die Person ihres Mannes und seinen Tod: Dass die beiden Johannes dargestellt sind, hängt sicherlich mit seinem Vornamen zusammen. Außerdem liegt der Schädel unter seinem Wappen und ruht auf einem Ziegel, was als Verbildlichung seines Familiennamens verstanden werden kann (Braque, brique). Rechts neben dem Steinkreuz steht ein Text aus dem apokryphen Buch Jesus Sirach (41,1), der auf den bitteren Geschmack des Todes anspielt, wenn dieser einen glücklichen Mann trifft. In der Weltkugel Christi spiegelt sich sehr deutlich ein Zimmerfenster – für De Vos ein Hinweis darauf, dass das Triptychon wahrscheinlich in einem häuslichen Kontext aufgestellt war.

Piero della Francesca: Battista Sforza und Federigo da Monefeltro (um 1472/73); Florenz, Uffizien

Die durchgehende, sich über alle drei Tafeln erstreckende und naturalistisch wirkende Landschaftsdarstellung im Hintergrund war zur damaligen Zeit für ein religiöses Thema einzigartig. In der italienischen Malerei kam sie erst um 1465/70 auf und entstand zweifellos unter flämischen Einfluss. Als berühmtes Beispiel sei Piero della Francescas Doppel-Profilbildnis des Federigo da Montefeltro und seiner Ehefrau Battista Sforza angeführt. Bei Rogier hat der Ausblick in eine weite, lichtüberflutete Landschaft aber religiös-symbolische Bedeutung: Sie meint die ganze Welt, über die Christus herrscht und in die er mit seiner Menschwerdung hinabgestiegen ist. Darauf bezieht sich der Spruch des Evangelisten Johannes neben Christus: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Johannes 1,14; LUT). „Mahnte die düstere Außenseite an den unausweichlichen Tod, eröffnete die weite, strahlende Innenseite mit den heiligen Gestalten dem gläubigen Betrachter die Hoffnung auf Erlösung“ (Kemperdick 1999, S. 77). Der Todesgedanke wird von dem lebendigen Christus im Bildzentrum verdrängt.

Rogier van der Weyden: Weltgericht (um 1443-1453;
Ausschnitt aus der Mitteltafel); Beaune, Hotel-Dieu

Künstlerisch steht das symmetrisch angelegte Braque-Triptychon dem Weltgerichtsaltar in Beaune sehr nahe (siehe meinen Post „Die zur Linken, die zur Rechten“). Der Kopf Mariens und insbesondere derjenige Christi sind den entsprechenden Häuptern auf dem Weltgericht so ähnlich, dass sie nach derselben Vorlage angefertigt sein müssen.

 

Literaturhinweise

Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 187-188;

De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München 1999, S. 268-273;

Kemperdick, Stephan: Rogier van der Weyden 1399/1400–1464. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1999, S. 71-77;

Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 50-52;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.