Dienstag, 8. Oktober 2019

Aus eins mach drei – Rogier van der Weydens Kreuzigungstriptychon in Wien

Rogier van der Weyden: Kreuzigungstriptychon (um 1443/45); Wien, Kunsthistorisches Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Triptychen – aus drei einzeln gerahmten Tafeln zusammengesetzte Gemälde – sind im Werk Rogier van der Weydens neben den Porträts die wichtigste Bildgattung. Neun eigenhändige Triptychen haben sich erhalten; bei den meisten handelt es sich um private Andachtstriptychen mit beweglichen Flügeln, die von reichen Bürgern, Adeligen und Herrschern in ganz Europa in Auftrag gegeben wurden. Bereits vorgestellt habe ich Rogiers Johannesaltar in Berlin (siehe meinen Post „,Siehe, ich will meinen Boten senden‘“) und den Münchner Bladelin-Altar (siehe meinen Post „Alle Welt huldigt dem Kind“). Dem soll sich diesmal das Kreuzigungstriptychon im Wiener Kunsthistorischen Museum anschließen, das um 1443/45 entstanden sein dürfte.
Vor einer weit offenen Landschaft, die Mitteltafel und Flügel des Gemäldes zu einem einheitlichen Schauplatz zusammenfasst, sind sechs Personen um das hoch in den blauen Himmel ragende Kreuz mit dem toten Christus versammelt. Die Gottesmutter umfängt in ihrem Schmerz den Kreuzesstamm; Johannes, der heraneilt, um Maria zu stützen, blickt zu der überlängten Gestalt des Gekreuzigten empor, dessen feingliedrige Arme wie Sehnen über das Kreuz gespannt sind. Auf der anderen Seite hat sich das unbekannte Stifterpaar am Kreuzesstamm zum Gebet niedergekniet. Hinter ihnen blickt Veronika wehmütig auf das Schweißtuch mit dem lebendigen Christusporträt, das zum Vergleich mit dem fahlen Antlitz des Toten am Kreuz auffordert. Leise und in sich gekehrt trauert Maria Magdalena auf dem linken Flügel.
Jeder trauert auf ganz eigene Weise
Jede der Figuren ist auf ihre Weise in Gedanken und Gefühlen durch Körpersprache, Gewandführung und -farbe mit dem Toten verbunden. So weisen die diagonalen Arme des Johannes zu Maria hinab, während sich sein Haupt schräg nach oben auf Christus richtet. Andererseits sind Maria und Christus direkt durch den Kreuzesstamm vereint, den die Mutter Jesu „in einer pathetischen Ersatzhandlung“ (Pächt 1994, S. 40) umschlingt. Das im Wind flatternde Lendentuch Christi beschreibt „eine Art Mäanderbewegung im Wechsel von konvexen und konkaven, vorderen und rückwärtigen Gewandbahnen“ (Belting/Kruse 1994, S. 180). Engel umfliegen das Kreuz mit ausladenden Klagegesten. Die weitläufige Hügellandschaft mit dem pastellfarbenen Städtchen am Horizont, über dem sich der klare Himmel wölbt, spiegelt die stille Stimmung des Gemäldes.
Ganz nah dabei: das Stifterpaar
Rogiers Wiener Triptychon ist vielleicht das erste Gemälde in der Kunstgeschichte, in dem die Auftraggeber der religiösen Szene aus der Nähe und in einer realen Umgebung beiwohnen, ohne dass sie in Maßstab, in Lebensraum oder in Köperlichkeit von den Figuren der Kreuzigungsdarstellung unterschieden werden. Es ist auch das erste Werk, in dem stehende Heilige zu derselben Realität gehören wie das zentrale Drama. Erreicht wird dies durch die durchgängige, sich über alle drei Tafelteile erstreckende Landschaft. Die Mitteltafel könnte man als Kombination zweier älterer Kreuzigungen Rogiers betrachten: Das zuvor noch nie dargestellte Motiv der Planctus Mariae, der wehklagend das Kreuz umarmenden Mutter Jesu, findet sich bereits auf seiner Berliner Kreuzigung. Auch dort umkreisen trauernde Engel das Kreuz, doch in der Wiener Version wirken sie skulpturaler und sind monochrom dunkelblau gemalt. Auf der Mitteltafel des Abegg-Triptychons erhielt das hochwehende Lendentuch vermutlich seine erste Form.
Parallel zu Johannes und Maria knien am rechten Rand ein Mann und eine Frau in bürgerlicher Kleidung; der Mann schaut zum Kreuz auf, die Frau ist etwas abgewandt in einer betend-meditativen Haltung dargestellt. Zwar können sich Betrachter und Auftraggeber dem Geschehen am Kreuz visuell nähern, doch Rogier hat gewissermaßen eine Schwelle eingebaut, und zwar in Form von Rissen in dem felsigen Gelände, die vorn die gesamte Szene auffallend umsäumen und auch den Auftraggeber vom Kreuz trennen. Mit der im Hintergrund der Landschaft liegenden Stadt und ihren an Moscheen erinnernden Bauten ist Jerusalem gemeint.
Maria Magdalena mit dem Salbgefäß ...
... und Veronika mit dem Schweißtuch
Rogiers Komposition besticht durch eine ausgefeilte Symmetrie von Körperhaltungen, Aktionen und Farben. Die drei Figuren links des Kreuzes drücken emotionale Betroffenheit und Schmerz aus, während ihre Pendants rechts Meditation und Anbetung verkörpern. Die vier biblischen Figuren sind alternierend in Blau und Rot gewandet, während die Gestalten der Magdalena und Veronika äußerst links und rechts quasi umgekehrte Ebenbilder sind: Bei der einen kommt das Rot ihres Kleides unter dem Blaugrau ihres Mantels hervor, und bei der anderen bedeckt das Rot des Mantels das Blau ihres Kleides. Johannes und Maria verhalten sich in Position und Blickrichtung ebenso zueinander wie die knienden Stifter.
Die Flügel sind mit einem originalen, illusionistisch gemalten Rahmen in Gold versehen, wobei schwarze Konturen und Schraffuren Tiefe und Schatten suggerieren. Auch die Mitteltafel weist links und rechts noch einen schmalen Streifen einer solchen Rahmenimitation auf. Dirk De Vos ist der Ansicht, dass das Werk ursprünglich kein feststehendes Triptychon, sondern ein Gemälde aus einem Stück gewesen sei und die aufgemalten Rahmen lediglich ein Triyptychon vortäuschen sollten. „Die gesamte Tafel (die heutigen drei Teile zusammen) muß also ursprünglich ringsum von einem einfachen geraden Rahmen eingefaßt gewesen sein, der auf dem Gemälde optisch in ein gemaltes Innenprofil mit zwei gemalten Vertikalleisten überging“ (De Vos 1999, S. 237). Dies verändere, so De Vos, die Wahrnehmung des Gesamtwerks beträchtlich: Der gemalte Rahmen isoliert die Seitenfiguren, was deren symbolische Natur unterstreicht, obwohl sie im selben Raum angesiedelt sind.

Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 179-180;
De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München1999, S. 234-237;
Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 40-41;
Thürlemann, Felix: Rogier van der Weyden. Leben und Werk. Verlag C.H. Beck, München 2006. 
 
(zuletzt bearbeitet am 6. August 2023)

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