Sonntag, 29. September 2019

Die schreckliche Last, auserwählt zu sein – Donatellos Campanile-Propheten in Florenz

Donatello: Zuccone; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Im Jahr 1415 begann die Florentiner Dombaubehörde (Opera del Duomo) eine Reihe von Statuen für den Glockenturm der Kathedrale in Auftrag zu geben. Der Glockenturm (1334 begonnen, 1359 vollendet) besitzt sechzehn Nischen; acht Nischen an der West- und an der Südseite waren bereits Mitte des 14. Jahrhunderts mit den Figuren von alttestamentlichen Königen und Propheten sowie zwei Sibyllen besetzt worden. Etwa 70 Jahre später wollte man das Figurenprogramm des Turmes vollenden: Die noch fehlenden acht Statuen sollten angefertigt und in den Nischen der Ost- und Nordseite aufgestellt werden. Fünf dieser Statuen können mit Sicherheit dem italienischen Bildhauer Donatello (1386–1466) zugewiesen werden. Die drei übrigen Figuren stammen von Bildhauern, die wie Donatello im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts für die Opera del Duomo  arbeiteten.
Der Glockenturm (Campanile) des Florentiner Doms
Die Entstehung dieser acht Statuen ist ungewöhnlich gut dokumentiert, da sich eine nahezu vollständige Reihe von Auftragsbeschlüssen und Zahlungseinträgen in den Rechnungsbüchern der Opera del Duomo erhalten hat; diese nennen nicht nur die Namen der damals beschäftigten Meister, sondern auch die Aufträge und Entlohnungen für ihre Arbeiten. 1415 erhielt Donatello den Auftrag für die ersten zwei Statuen, die an der Ostseite des Campanile standen: ein bartloser und ein bärtiger Prophet. Letzterer wird wegen des nachdenklich in die Hand gestützten Kopfes in der Forschung auch als Pensieroso bezeichnet. Eine der beiden Figuren wurde im Dezember 1418 fertiggestellt, die andere im Juli 1420.
Im März 1421 erhielt Donatello mit seinem damaligen Werkstattgenossen Giovanni di Bartolo den Auftrag für die Statue einer „figure prophere cum uno puero nudo ad pedes“, die einwandfrei mit der Abraham-Isaak-Gruppe an der Ostseite des Turms zu identifizieren ist. Schon im November desselben Jahres war der Abraham vollendet. Zusammen mit einer vierten Figur wurden die drei genannten Skulpturen 1422 am Campanile aufgestellt, und zwar an der Ostseite, denn sie war von den noch frei gebliebenen Seiten des Turms (Osten und Norden) die wichtigste, weil besser sichtbare.
Donatellos Propheten rufen das Voilk zur Umkehr und verkünden Gottes Strafgericht
Es waren jetzt noch die vier Nischen an der Nordseite des Campanile frei. In den Jahren zwischen 1423 und 1435 schuf Donatello zwei weitere Statuen: Die erste war seit 1423 in Arbeit, doch sie wurde erst im März 1426 endgültig abgerechnet und 1431 (oder 1435) zusammen mit zwei anderen Figuren am Campanile aufgestellt. Ab 1427 arbeitete Donatello gemeinsam mit dem Bildhauer Michelozzo dann an der letzten Figur für den Campanile, deren Vollendung sich über etliche Jahre bis 1435 hinzog. 1464 fasste die Opera del Duomo den Beschluss, die Statuen der Nordseite gegen diejenigen an der Westseite aus dem 14. Jahrhundert auszutauschen, um jenen einen angemesseneren und besser sichtbaren Platz an der Piazza San Giovanni zu geben. Seit 1936 wurden sämtliche Figuren aus den Nischen genommen und im Museo dell’Opera del Duomo aufgestellt. Sie sind inzwischen durch Kopien oder Abgüsse in den Nischen des Turmes ersetzt worden.
Donatello: bartloser Prophet; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Der bartlose Prophet von der Ostseite gilt als die noch am meisten der Gotik verhaftete Figur Donatellos für den Campanile. Ein S-Schwung durchläuft den Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Das rechte Bein ist so zurückgesetzt, dass nur ein Teil des mit einer Sandale bekleideten Vorderfußes auf dem Boden steht, während das linke Standbein unter dem überhängenden Gewand verborgen bleibt. Der Prophet hält mit beiden Händen ein schräg vor seinem Körper ausgerolltes Schriftband und weist mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf dessen (nicht vorhandene) Inschrift. Die von Adern durchzogenen Hände erscheinen im Vergleich zu der eher schmalen Gestalt des Mannes zu groß. Der rechte Arm ist angewinkelt, um das Schriftband an den Körper zu drücken; die Schulter wird dadurch nach oben gezogen, während der linke Arm nach unten greift, um das untere Ende des Schriftbandes zu fassen. Bekleidet ist der Prophet mit einem langärmeligen Untergewand ohne Kragen, das bis auf den Boden reicht und über den vorderen Sockelrand fällt. Ein über diesem Gewand getragener, ebenfalls kragenloser Mantel wird durch eine Schnur vor der Brust zusammengehalten.
Der Kopf dieser Figur, der auf einem sehnigen Hals sitzt, ist der eines reifen, aber durch Sorge gealterten Mannes. Das Gesicht ist hager, über den eingefallenen Wangen stehen die Knochen hervor, die über der Stirn gelichteten Haare sind in Büscheln nach vorne gekämmt. Falten durchziehen die Stirn und haben sich an der Nasenwurzel zwischen den gerunzelten Augenbrauen eingegraben. Am deutlichsten prägen das Antlitz die zwei tiefen, scharf gezeichneten Nasolabialfalten, die von der Nase zu den Mundwinken herablaufen; zusammen mit den schmalen, aufeinander gepressten Lippen und dem aufgeworfenen Kinn tragen sie zu dem verhärmten, ja verbitterten Ausdruck des Gesichts bei. „Der Eindruck der Verbitterung wird ein wenig gemildert durch den seitlich nach unten gerichteten, unter halb geschlossenen Lidern hervorgehenden Blick des Mannes: dieser Blick scheint Versöhnlichkeit oder Sanftmut anzudeuten“ (Lorenz 2002, S. 44).
Enttäuschung, Sorge, Verbitterung und Resignation spiegeln sich in diesem Gesicht – als ob dieser Mann schon oft vergeblich gepredigt und gewarnt hätte, ohne dass auf ihn gehört wurde. Deshalb schweigt er nun, deutet aber mit dem Finger auf das Wort Gottes auf dem Schriftband als höchste Autorität. Doch die Geste wirkt kraftlos und  beiläufig, die Arme hängen locker, fast schlaff herab, so als ob der Prophet auch Gottes eigenem Wort keine Wirkung mehr auf die Menschen zutraue.
Donatello: Pensieroso; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Der Pensieroso hat den Kopf nach vorne geneigt und nachdenklich in die rechte Hand gestützt, wobei der ausgestreckte Zeigefinger auf der Wange liegt. Der Ellbogen stützt sich auf den quer vor den Körper gelegten linken Arm, genauer gesagt auf die linke Hand, die mit kräftigem Griff das achtlos zusammengerollte Schriftband umgreift. Das linke Bein ist so weit an den vorderen Rand der Basis herangerückt, dass der nackte, kräftige Fuß über den Rand hinausragt, wogegen der Oberkörper sich nach hinten in die Nische zurückzieht. Das Gewand aus dickem Stoff (ein Unterkleid mit langen Ärmeln und ein Mantel) bildet weite und schwere Falten und lässt einen kräftigen, massigen Körperbau erkennen. Der mächtige Kopf „deutet auf Gelassenheit, Kraft und Ruhe hin“ (Lorenz 2002, S. 45); das Antlitz wird bestimmt von der hohen, breiten Stirn, den kräftig gewölbten Augenbrauen und einem langen Bart, der auf die Brust herabfällt.
Der Prophet scheint eben noch in der Schriftrolle gelesen zu haben. Nun denkt er über das Gelesene nach – dabei wird das Pergament unter dem festen Griff seiner kräftigen  Hand zerdrückt. In dieser zur Faust geballten Hand liegt nun doch eine innere Erregung, die der sonst gelassenen Haltung des Mannes widerspricht: Vielleicht ist es Grimm und aufsteigender Zorn, denn sein ernster und sorgenvoll nachdenklicher Blick richtet sich auf die Menschen auf dem Platz unter seinen Füßen.
Donatello: Abraham und Isaak; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Die Abraham-Isaak-Gruppe unterscheidet sich von den übrigen Campanile-Figuren grundsätzlich dadurch, dass hier eine dramatische Handlung gezeigt wird. Abraham hat den vor ihm knienden, gefesselten Sohn an den Haaren gepackt und presst ihn gegen sein rechtes Bein, das er auf den zum Opferfeuer vorbereiteten Scheiterhaufen gestellt hat. In der Rechten hält er das Messer, mit dem er den Sohn töten will, doch der Griff um das Heft hat sich bereits gelockert, und das Messer gleitet schadlos am Nacken Isaaks herab: Soeben hat Abraham die Stimme des Engels vernommen, der ihn im letzten Moment daran hindert, dem Sohn die Kehle durchzuschneiden. Abraham hat in einer schraubenförmigen Bewegung des Körpers den Kopf jäh über die linke Schulter nach oben gewandt, wo der (unsichtbar bleibende) Himmelsbote zu hören ist. Es ist die gleiche dramatische Moment, der auch in den Wettbewerbsreliefs für die Florentiner Baptisteriumstür von 1401 (siehe meinen Post „Brunelleschi vs. Ghiberti“) vergegenwärtigt wird.
Der lange, auf die Brust fallende Bart und die wirren Haarbüschel signalisieren die wilde Entschlossenheit des Patriarchen zur furchtbaren Tat. In seinem Blick liegt denn auch nicht etwa schon Erleichterung, sondern eher Erstaunen (oder gar Erschrecken), so unerwartet von dem grausamen Befehl Gottes entbunden zu sein. Als Einziger unter Donatellos Campanile-Propheten sucht Abraham nicht den Blickkontakt mit dem Betrachter, sondern ist auf die himmlische Erscheinunf des Engels ausgerichtet. Isaak hat von all dem augenscheinlich nichts bemerkt, er kniet noch immer duldsam und in sein Schicksal ergeben unter dem festen Griff seines Vaters und erwartet schutzlos nackt seine Hinrichtung. Sein Kopf ist zur Seite nach unten geneigt, sodass der Hals sich offen dem Opfermesser darbietet.
Der erste Eindruck, den der sogenannte Zuccone hinterlässt, wird durch das mächtige, Toga-ähnliche Gewand bestimmt, das den Körper in einem einzigen langen Schwung umgibt „und damit der Figur eine außerordentliche vertikale Kraft verleiht“ (Lorenz 2002, S. 47): Von der linken Schulter ausgehend, fällt es in breiter werdenden Bahnen vor dem Körper herab, um über dem rechten Bein in einzelnen Schüsselfalten umzubrechen. Darunter trägt der Prophet ein ärmelloses Kleid in der Art einer Tunika, das in der Mitte gegürtet einen Überwurf bildet. Ein weiter Ausschnitt des Halses und die Schulter bleiben nackt. Unter dem mächtigen Gewand verbirgt sich ein zwar muskulöser, aber hagerer, asketisch wirkender Körper.
Das rechte Bein (Standbein) steht fest am vorderen Plinthenrand, während das linke so weit nach hinten und zur Seite zurückgesetzt ist, dass es unter dem Obergewand verborgen bleibt. „So gewinnt man den Eindruck, der Prophet sei soeben aus der Tiefe der Nische an den vorderen Rand getreten, um wie auf einer Rednertribüne seine Predigt zu beginnen“ (Lorenz 2002, S. 47). Die Arme hängen leicht angewinkelt seitlich am Körper herab; die rechte Hand steckt in der Schlaufe eines Gürtels, wobei der Daumen flach auf dem Ende eines zusammengerollten Schriftbandes aufliegt. Der linke Arm, die ungefähr die Haltung des rechten wiederholt, greift mit zwei Fingern in den Stoff des Gewandes.
Der Kopf des Propheten ist von länglich-abgerundeter, kürbisähnlicher Form – daher der seit dem 16. Jahrhundert überlieferte Spitzname „Zuccone“ (großer Kürbis). Durch die eingefallenen Wangen unter hervortretenden Knochen erinnert er in seiner erschreckenden Magerkeit geradezu an einen Totenschädel. Der Eindruck von Kahlköpfigkeit täuscht, denn die Haare und der Bart liegen, nur durch feine Einkerbungen mit dem Meißel in der Oberfläche kenntlich gemacht, eng an der Kopfhaut an und sind im Gegensatz zu Donatellos übrigen Campanile-Figuren nicht als auf dem Schädel aufliegende Haarmasse gestaltet. Alle weiteren Details des Gesichts wirken „übertrieben groß, unproportioniert und hässlich: die stieren Augen liegen tief in ihren Höhlen unter stark hervortretenden Wülsten und erscheinen durch die Tränensäcke darunter übermüdet und erschöpft“ (Lorenz 2002, S. 48). Im Gegensatz dazu signalisiert die spitz hochgezogene linke Augenbraue höchste Wachsamkeit und Skepsis. Die lange Nase mit den weiten Nasenlöchern hängt wie ein übergroßer Tropfen zwischen den nahe beieinander liegenden Augen. Der breite Mund mit wulstigen Lippen ist im Sprechen geöffnet. Der bohrende Blick des Propheten ist fest auf den Platz unter ihm gerichtet, doch hat man den Eindruck, dass er gleichsam durch die zu ihm aufschauenden Betrachter hindurchblickt; ergriffen vom Geist Gottes und überwältigt von schreckenden Visionen und Vorahnungen verkündet er Gottes drohende Strafen über sein ungehorsames Volk.
Donatello: Geremia; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Der Geremia ist ebenfalls nur mit einem Toga-ähnlichen Mantel bekleidet, so um den Körper geschlungen, dass die rechte Hälfte des Oberkörpers (Brust und Arm) unbedeckt bleibt. Auf dem rechten Bein stehend, ist das linke, auf der Fußspitze ruhende Bein so angewinkelt, dass sich das Knie durch das Gewand abzeichnet. Der rechte Arm liegt leicht angewinkelt flach am Körper, die Hand ruht ähnlich wie beim Zuccone mit gespreizten Fingern flach auf dem Gewand. Der linke Arm ist vor dem Körper angewinkelt, die Hand hält zwischen Daumen und Zeigefinger das obere Ende einer zur Hälfte entrollten Schriftrolle. Ähnlich wie der Pensieroso scheint der Geremia gerade in der Schrift gelesen zu haben und blickt nun auf.
Das Gewand reicht, von der linken Schulter ausgehend, in weitem Wurf zur unteren rechten Körperhälfte herab. Auf der linken Körperhälfte dominieren senkrecht fallende oder diagonal laufende, gerade Faltenbahnen, während sich auf der rechten Seite das Gewand regelrecht hügelig auftürmt.
Auf dem starken, durch angespnnte Sehne betonten Hals sitzt ein schwerer, ein wenig nach link gewandter Kopf von breiter, fast kantiger Form; er zeigt das Gesicht eines reifen Mannes, das nur von wenigen Falten um die Augenwinkel gezeichnet ist. Das dichte, in kurzen Strähnen frisierte Haar liegt wie eine Kappe auf dem Schädel, während der kurze Bart (ähnlich wie beim Zuccone) nur durch feine Einritzungen in die Oberfläche gestaltet worden ist, sodass er sich schon auf geringe Entfernung nicht mehr erkennen lässt. Der Mund ist geschlossen, aber die Unterlippe unter der schmalen Oberlippe nach vorne geschoben, wodurch sich in den Mundwinkeln tiefe Grübchen bilden. „Dieses Vorstülpen zeigt trotziges Schweigen, auch Widerwillen und Zorn an“ (Lorenz 2002, S. 49). Der Blick unter den grunzelten Augenbrauen ist streng und fest.
Donatello ist es gelungen, jedem der Propheten eine ganz eigene, unverwechselbare Persönlichkeit zu verleihen, einen nur ihm gehörigen Charakter, und auch seine augenblickliche Stimmung zu vermitteln. Da aber eindeutige ikonografische Attribute fehlen, ist die genaue Identifizierung der einzelnen Gestalten – abgesehen von der Abraham-Isaak-Gruppe – heute nahezu unmöglich. Wir sehen Figuren vor uns, die einen prophetischen Auftrag erhalten haben – aber für diese Männer bedeutet ihr Auserwähltsein als Werkzeug und Botschafter Gottes nicht Auszeichnung und Ehre, sondern übergroße Last, die sie aus der Gemeinschaft ihres Volkes entfernt.
Römische Porträtbüste; New York, Metropolitan Museum
Römische Togastatue des Kaisers Titus; Rom, Musei Vaticani
Der Kopf des bartlosen Propheten ist am deutlichsten antiken Vorbildern verpflichtet, nämlich den patriarchalischen Porträtbüsten oder auch Rednerfiguren der römisch-republikanischen Zeit. Anleihen bei der Antike macht Donatello auch bei den Gewändern des bärtigen Propheten, beim Zuccone und beim Geremia. Dennoch sind seine Campanile-Figuren nicht „antik“ oder „antikisch“ zu nennen, denn trotz der übernommenen Anregungen haben sie in ihrer Gesamterscheinung nichts mit der feierlich-strengen Würde antiker Togastatuen gemein.

Literaturhinweise
Herzner, Volker: Donatello und die »rinascita del arti«. In: Donatello-Studien. F. Bruckmann A.-G., München 1989, S. 28-41;
Lorenz, Gernot: Donatellos Prophetenstatuen am Campanile des Florentiner Doms. Studien zur Ikonographie und Bedeutung der Propheten in Florenz VDG, Weimar 2002;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 1: Donatello und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1990, S. 92-95;
Rose, Patricia: Bears, Baldness, and the Double Spirit: The Identity of Donatellos Zuccone. In: The Art Bulletin 63 (1981), S. 31-41;

Wirtz, Rolf C.: Donatello 1398 – 1466. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998, S. 20-24.

 

(zuletzt bearbeitet am 26. Mai 2022) 

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