Dienstag, 17. September 2019

Wilhelm Lehmbrucks „gigantische Gliederpuppe“ – die „Kniende“ von 1911

Wilhelm Lehmbruck: Kniende (1911, Steinguss); Duisburg, Lehmbruck Museum
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Die Große Stehende war Wilhelm Lehmbrucks erste überlebensgroße weibliche Rundplastik überhaupt; er hatte sie in Paris geschaffen und 1910 dort auf dem Herbstsalon mit großem Erfolg unter dem Titel „Femme“ präsentiert. 1911, ein Jahr später also, konnten die Besucher des Pariser Herbstsalons dann Lehmbrucks Kniende in Augenschein nehmen (vermutlich als Gipsguss), seine zweite überlebensgroße weibliche Aktskulptur. Im April 1910 war der deutsche Bildhauer mit seiner Frau Anita und ihrem im März 1909 geborenen ersten Sohn von Berlin in die Kulturmetropole Paris umgezogen – dort hatte sich die künstlerische Avantgarde Europas versammelt. Lehmbrucks Kniende markiert – im Vergleich zu seiner Großen Stehenden aus dem Vorjahr – einen Stilwandel, mit dem eine neue Phase seines Werks einsetzte. Denn anstelle sinnlicher Fülle und Rundheit nach dem Vorbild Aristide Maillols, statt antikisch-harmonischer Ausgewogenheit der Maße, wie sie die Große Stehende auszeichnet, zeigt diese Skulptur grazile, überlängte Formen und „unklassische Proportionen“.
Wilhelm Lehmbruck: Große Stehende (1910); Duisburg,
Lehmbruck Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Lehmbrucks Figur einer sehr schlanken jungen Frau kniet auf einer unregelmäßig geformten länglichen Plinthe. Das linke Bein ist aufgestellt, der Fuß dicht neben dem auf dem Boden liegenden Knie des rechten Beins platziert. Der Unterschenkel des knienden Beins streckt sich weit nach hinten, wo der Spann des Fußes abermals den Boden berührt. Die Beine sind von einer Draperie umhüllt, dessen gefältelter Stoff auf dem hochgestellten Oberschenkel aufliegt und sich um das spitz nach vorn weisende Knie spannt. Das Tuch fällt zu beiden Seiten des linken Beins herab und schlingt sich um den senkrecht aufragenden rechten Oberschenkel. Unten staucht es sich und bedeckt einen Teil des am Boden gelagerten Unterschenkels.
Die Kniende sucht keinen Kontakt mit uns, sie lauscht nach innen
Der Oberkörper der Frau ist aufgerichtet. Ihren linken, leicht gebeugten Arm hat sie locker auf dem vorgestreckten Schenkel abgelegt. Die Hand des frei hängenden, angewinkelten rechten Armes ist vor der rechten Brust einwärts gekehrt und leicht geöffnet. Auf dem Oberkörper sitzt ein langer Hals mit schmalem Kopf, der sich nach links vorn neigt. Die Augen sind niedergeschlagen, ihr Blick nicht auszumachen. Die angedeuteten gewellten Haare liegen eng am Kopf an, im Nacken bilden sie einen flachen Knoten. Die schmalen Gliedmaßen und der Rumpf sind deutlich gelängt, ebenso hat Lehmbruck die Hände und Finger, Füße und Zehen sowie den Hals proportional übersteigert. Obwohl die Plastik im unteren Bereich nach vorn und hinten weit in den Raum vorstößt, werden Vorder- und Rückenansicht von einer in den gelängten Körperformen bereits angelegten Vertikalität bestimmt. Haltung und Bewegungsrichtung der Knienden sind nicht klar festgelegt – ist sie im Begriff niederzuknien oder aufzustehen?
1912 war Lehmbrucks Skulptur auch auf der Kölner Sonderbund-Ausstellung zu sehen (wo sie dann erstmals als Kniende betitelt wurde), und zwar als Steinguss. „Dies ist insofern entscheidend, als die Übertragung der Figur in Kunststein zugleich ihre Fertigstellung markiert. Jetzt war die Kniende nicht nur formal determinert, sondern auch transportabel und wetterfest im Hinblick auf zukünftige Austellungsbeteiligungen oder einen eventuellen Verkauf“ (Bornscheuer/Stecker 2011, S. 24). Ein solcher Steinguss der Knienden war dann auch Teil der als Armory Show bekannt gewordenen International Art Exhibition in New York im Jahr 1913, zu der Lehmbruck als einziger deutscher Bildhauer eingeladen worden war – seine in Paris gehegten Hoffnungen auf den internationalen Durchbruch hatten sich damit erfüllt. Im Juni 1914 erhielt Lehmbruck schließlich seine erste Einzelausstellung in Paris. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs siedelte der Bildhauer aber mit seiner Familie wieder nach Berlin um, 1917 schließlich nach Zürich. Bis zu seinem Freitod am 25. März 1919 war die Steinguss-Version der Knienden immer wieder auf wichtigen Ausstellungen in Deutschland und in der Schweiz zu sehen.
Seit 1925 gibt es die Kniende auch in Bronze
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Die erste Bronzeplastik der Knienden ist erst 1925 von Anita Lehmbruck in Auftrag gegeben worden, also sechs Jahre nach dem Freitod ihres Mannes. Sie wurde 1925 im Kontext einer Lehmbruck-Ausstellung für das Städtische Museum in Duisburg angekauft. Zwei Jahre nachdem die Kniende im Duisburger Tonhallengarten aufgestellt wurde, berichteten Duisburger Zeitungen von Ausschreitungen gegen die Skulptur, bei denen sie auch beschädigt wurde; in der Presse war sie zuvor als „Neandertalerin“ von einer „krankhaften Unförmigkeit“ und „Beleidigung für den Geschmack der Männer“ beziehungsweise „Beleidigung der Frauen“ verunglimpft worden (Ende 2015, S. 127). Im Verlauf der nationalsozialistischen Aktion „Entartete Kunst“ wurde die Kniende aus den öffentlichen Sammlungen in Mannheim, Dresden und München entfernt; im Juli 1937 kam der Münchner Steinguss in die gleichnamige Ausstellung und nahm dort einen zentralen Platz ein: Sie wurde auf dem Katalogtitel abgebildet.
Bereits nach ihrer Entstehung war die Kniende von den Zeitgenossen kontrovers aufgenommen und immer wieder scharf angegriffen worden. Für den Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe glich sie einer „gigantischen Gliederpuppe“ (Bornscheuer/Stecker 2011, S. 30), sie wurde als missgestaltet und abstoßend bezeichnet und mit einer „betenden Heuschrecke“ (Ende 2015, S. 127) verglichen. Im Unterschied zur Großen Stehenden, die als Inbegriff idealer Schönheit und Weiblichkeit Lob erhielt, galt die Kniende als unnatürlich und deformiert, wurden ihre Gliedmaßen als verzerrt, giraffenartig gelängt und die ganze Plastik häufig als schlichtweg hässlich und unverständlich aufgefasst.
Mit 1,78 cm (Gips- und Steinguss-Ausführung) bzw. 1,76 cm (Bronze) entspricht die Höhe der Knienden der durchschnittlichen menschlichen Körpergröße. Sowohl die frontale Ausrichtung ihres Oberkörpers als auch die abgeflachte Stirnseite der Plinthe verweisen darauf, dass als zentraler Betrachterstandpunkt der Standort vor der Knienden gedacht ist. Dort nämlich begegnen wir der Knienden nahezu auf „Augenhöhe“ – wobei ein Augenkontakt nicht stattfindet, denn die Figur hat den Blick gesenkt. Anders als der Betrachter ist die Figur aber nicht aufgerichtet, sondern kniet nieder, was suggeriert, dass ihre tatsächlichen Maße das menschliche Maß übersteigen. Der Dichter Theodor Däubler hatte deswegen 1916 formuliert: „Wenn dieses Weib aufstünde, die Kniende, sie wäre ein groteskes Gespenst“ (Bornscheuer/Stecker 2011, S. 38).
Anita Lehmbruck stand ihrem Mann sowohl für die Große Stehende wie auch für die Kniende Modell. Ihre Züge sind dabei stets mehr oder weniger deutlich erkennbar, doch geht es nicht um Porträtähnlichkeit. „Individuelle Merkmale und modische Elemente, etwa bei der Frisur, werden zugunsten der Darstellung eines idealen beziehungsweise stilisierten Frauentyps zurückgenommen“ (Ende 2015, S. 131). Alleiniges Thema ist die isolierte weibliche Aktfigur ohne eindeutige historische oder narrative Attribute und Verweise, was durch die Titelgebung unterstrichen wird.
Donatello: Verkündigung (1433/35); Florenz, Santa Croce
Greift der schanke, jugendliche Körper in seiner graziösen Haltung mit dem Verdecken von Brust und Scham die Gestik des seit der Antike tradierten Venustypus auf (siehe meinen Post „Aphrodite – knidisch und kapitolinisch“), so erinnert die frontale Ausrichtung der Skulptur an religiöse Statuen des Mittelalters. Lehmbruck hatte 1905 auf seiner Italienreise in Florenz Donatellos Relief der Verkündigung (Santa Croce) kennengelernt. Besonders das Motiv des knienden Engels, des vorstoßenden Knies, das Motiv der Verkündigungshand, die Flachheit der Komposition dürften dem Bildhauer wichtige Anregungen vermittelt haben. Aber erinnert der Ausdruck der Knienden eher an einen „Engel der Verkündigung“ oder vielmehr – wenn überhaupt – an eine „Maria“, die die Botschaft annimmt, demütig in sich gekehrt? Dietrich Schubert attestiert Lehmbruck, er verbinde „beide christlichen Urgestalten in der Synthese einer modernen Figur“ (Schubert 1990, S. 161).
Michelangelo: Der Morgen aus dem Grabmal Lorenzo de Medicis (1533); Florenz, San Lorenzo
Hans von Marées: Lob der Bescheidenheit (1884), München, Neue Pinakothek
Als Inspirationsquelle für die Armhaltung der Knienden ließe sich auch an Michelangelos Allegorie des Morgens vom Grabmal Lorenzo de’ Medicis in Florenz denken – Michelangelos Skulpturen galten um die Jahrhundertwende als künstlerisches Vorbild schlechthin. Als Vergleichsbeispiel hat die Forschung außerdem auf das Gemälde Lob der Bescheidenheit von Hans von Marées hingewiesen (1885 entstanden): Die Titelfigur ist eine leicht aus dem Zentrum des Bildes verschobene junge Frau in Profilansicht, die sich in einer anmutigen, Lehmbrucks Kniender nahezu entsprechenden Haltung ihren Kindern zuwendet und gar nicht bemerkt, dass sie in einer Art neuem Paris-Urteil von einem hinter ihr stehenden Jüngling bekrönt wird. Fragt man weiter nach zeitgenössischen Impulsen für die Kniende, dann muss man sicherlich auch auf den österreichischen Maler Egon Schiele (1890–1918) verweisen. Auch seine zerbrechlich wirkenden Figuren, vor allem die Akte, sind schlank und überlängt.
Alexander Archipenko: Kniende (1910); Privatbesitz
Verwundete Niobide; Rom, Museo Nazionale Romano
Die Suche nach Anregungen und Vorbildern lässt die KunsthistorikerInnen aber nicht ruhen: Teresa Ende sieht in Lehmbrucks introvertierter, zurückhaltender Kniender einen Gegenentwurf zu einer gleichfalls knienden Figur von Alexander Archipenko (1887–1964), einer kokettierend nach außen gewandten, sinnlich-belebten Statuette von 1910. Lehmbruck hat Archipenko als „guten Freund“ bezeichnet (Bornscheuer/Stecker 2011, S. 20), dessen Atelier nur zwei Querstraßen von dem des Deutschen entfernt lag. Ursel Berger betont ebenfalls die Nähe zu Archipenko und stellt die Kniende außerdem neben die antike Statue einer verwundeten Niobide (röm. Kopie nach griech. Original aus dem 5. Jh.): Das vorragende Bein, dessen Unterschenkel ebenfalls vom Stoff verhüllt wird, das senkrecht kniende andere Bein, dessen Unterschenkel das Tuch ebenso streift, und der aufgerichtete Rumpf werden von Lehmbrucks Skulptur ganz ähnlich wiederholt. Dennoch ist an Schuberts Urteil nicht zu rütteln: „Lehmbrucks ›Kniende‹ bleibt ein revolutionäres Werk, und als solches ist es nicht ableitbar“ (Schubert 1990, S. 163).

Literaturhinweise
Berger, Ursel: Lehmbrucks Stehende weibliche Figur und verwandte Frauendarstellungen seiner Pariser Werkphase. In: In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 49-69;
Bornscheuer, Marion/Stecker, Raimund (Hrsg.): 100 Jahre Kniende. Lehmbruck in Paris 1911. DuMont Buchverlag, Köln 2011;
Ende, Teresa: Wilhelm Lehmbruck – Geschlechterkonstruktionen in der Plastik. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2015, S. 213-257;
Schmidt, Sabine Maria: Kniefall der Moderne. Rezeption und Zerstörung der »Großen Knienden« von Wilhelm Lehmbruck. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im »Dritten Reich«. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 227-244;

Schubert, Dietrich: Anmerkungen zur Kunst Wilhelm Lehmbrucks. In: Pantheon 39 (1981), S. 55-69;
Schubert, Dietrich: Die Kunst Wilhelm Lehmbrucks. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 19902, S. 155-166.

 

(zuletzt bearbeitet am 25. Oktober 2021) 

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