Praxiteles: Aphrodite von Knidos (Vorbild um 350 v.Chr.), römische Marmorkopie nach spätklssischem Original; Rom, Varikanische Museen |
Die antike Liebesgöttin, mit 205 cm überlebensgroß, steht im
klassischen Kontrapost vor uns. Kontrapost bedeutet nicht nur, dass sich Stand- und Spielbein unterscheiden lassen, vielmehr sind alle Elemente und Kräfte des Körpers kontrapostisch aufeinander bezogen und zugleich voneinander abhängig: „Kein Motiv exponiert sich, ohne in der anderen Richtung zurückgenommen zu werden, kein Nachgeben auf der einen Seite ohne ein Zulegen auf der anderen“ (Hinz 1998, S. 29). Die Knidische Venus ist unstrittig die erste Statue einer Frau, die alle kontrapostischen Kriterien erfüllt.
Der Künstler hat der Figur einen sanften S-Schwung verliehen, der den Körper vom ganz leicht gesenkten Haupt bis zu den Zehen des mit der Ferse nur wenig gehobenen und zurückgesetzten Fußes langgestreckt durchläuft. Das Becken senkt sich durch den Kontrapost auf der Seite der angehobenen Schulter und wird durch das Standbein nach oben gedrückt, wo sich auf der rechten Seite die Schulter leicht senkt. „Tragen und Lasten, Hebung und Senkung, Anspannung und Entspannung sind sichtbar unterschieden (...) und halten sich vollkommen die Waage. So wird der Körper in seiner Gänze zum Hort des Gleichgewichtes der Gegensätze“ (Hinz 1998, S. 29).
Aphrodite hat mit dem linken Arm ihr Gewand zum Baden
abgelegt, und zwar auf ein als Stütze für die Marmorplastik eingefügtes dreihenkliges
Wassergefäß, eine Hydria. Aber vielleicht hat Aphrodite das Bad auch schon
beendet und nimmt das Gewand gedankenverloren wieder auf, um sich anzukleiden.
Aphrodites rechter, herabhängender Arm schwingt sacht vor dem Körper und verdeckt
völlig unwillkürlich die Scham. Die Göttin fixiert mit ihrem geradeaus gerichteten
Blick nichts und niemand Bestimmtes. Vor allem scheint sie den, der vor ihr
steht, also den Betrachter, in keiner Weise zu beachten – er spielt für die
Komposition keine Rolle, die Göttin hält sich für unbeobachtet bzw. verhält sich wie unbeobachtet.
Noch ein Detail sei vermerkt: Die männlichen Genitalien und ihre Behaarung werden bei den Skulpturen der griechischen Klassik sehr naturgetreu wiedergegeben. Im Gegensatz dazu fehlen der Knidischen Venus die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane völlig. Prüderie kann der Grund dafür nicht gewesen sein, denn die war der griechischen Lebensart fremd. Berthold Hinz sieht darin vor allem eine „ästhetische Entscheidung“ (Hinz 1998, S. 39) – dem mag ich so nicht folgen. Tiefenpsychologisch gesehen, erscheint mir das männliche Genital als Machtinsignie, die der Frau eben nicht zugestanden wird. Jedenfalls blieb die weibliche Skulptur der Griechen nach dem Vorbild der Knidia fortan ohne Vulva – und ebenso erging es im Abendland in den folgenden Jahrhunderten insgesamt dem weiblichen Akt, „unabhängig von seiner Nationalität und seiner Stillage“ (Hinz 1998, S. 39). Auf dem Feld des Skulptur wurde erst Auguste Rodin in dieser Hinsicht wieder eindeutig, etwa mit seiner Iris (um 1890/91); in der Malerei war es Gustave Courbet mit seinem Bild Der Ursprung der Welt von 1866 (Musée d’Orsay, Paris).
Der Künstler hat der Figur einen sanften S-Schwung verliehen, der den Körper vom ganz leicht gesenkten Haupt bis zu den Zehen des mit der Ferse nur wenig gehobenen und zurückgesetzten Fußes langgestreckt durchläuft. Das Becken senkt sich durch den Kontrapost auf der Seite der angehobenen Schulter und wird durch das Standbein nach oben gedrückt, wo sich auf der rechten Seite die Schulter leicht senkt. „Tragen und Lasten, Hebung und Senkung, Anspannung und Entspannung sind sichtbar unterschieden (...) und halten sich vollkommen die Waage. So wird der Körper in seiner Gänze zum Hort des Gleichgewichtes der Gegensätze“ (Hinz 1998, S. 29).
Der Aphrodite-Rundtempel auf der Insel Knidos, 1967-69 entdeckt und freigelegt |
Noch ein Detail sei vermerkt: Die männlichen Genitalien und ihre Behaarung werden bei den Skulpturen der griechischen Klassik sehr naturgetreu wiedergegeben. Im Gegensatz dazu fehlen der Knidischen Venus die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane völlig. Prüderie kann der Grund dafür nicht gewesen sein, denn die war der griechischen Lebensart fremd. Berthold Hinz sieht darin vor allem eine „ästhetische Entscheidung“ (Hinz 1998, S. 39) – dem mag ich so nicht folgen. Tiefenpsychologisch gesehen, erscheint mir das männliche Genital als Machtinsignie, die der Frau eben nicht zugestanden wird. Jedenfalls blieb die weibliche Skulptur der Griechen nach dem Vorbild der Knidia fortan ohne Vulva – und ebenso erging es im Abendland in den folgenden Jahrhunderten insgesamt dem weiblichen Akt, „unabhängig von seiner Nationalität und seiner Stillage“ (Hinz 1998, S. 39). Auf dem Feld des Skulptur wurde erst Auguste Rodin in dieser Hinsicht wieder eindeutig, etwa mit seiner Iris (um 1890/91); in der Malerei war es Gustave Courbet mit seinem Bild Der Ursprung der Welt von 1866 (Musée d’Orsay, Paris).
Kephisodotos und Timarchos: Kapitolinische Venus (Vorbild um 300 v.Chr.); römische Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals; Rom, Musei Capitolini |
Die nach der Knidischen Venus
bedeutendste Statue der nackten Aphrodite stammt von den beiden Söhnen des
Praxiteles namens Kephisodotos und Timarchos. Sie wird nach der besten
erhaltenen Replik in den Kapitolinischen Museen in Rom Kapitolinische Venus
genannt. „Man darf sie als eine bewußte Auseinandersetzung mit dem Werk des
Vaters begreifen, denn ihre weiblichen Formen sind denen der praxitelischen
Göttin ähnlich“ (Andreae 2001, S. 72). Doch handelt es sich bei der Knidia um
eine spätklassische Skulptur, so ist die Kapitolinische Venus bereits eine
hellenistische Figur.
Aphrodite fühlt sich bei ihrem Bad
überrascht, jedoch nicht von ihrem wirklichen Betrachter, den sie so wenig
wahrnimmt wie die Knidische Venus. Sie wendet den Kopf vielmehr nach rechts, wo
der Voyeur zu vermuten ist. Ihre Schenkel pressen sich zusammen,
mit der linken Hand bedeckt sie die Scham und hebt den rechten Arm vor die Brüste. „Es geht wie
ein Frösteln durch ihren ganzen Körper, der eher gespannt als in schönem
Linienfluß gelockert erscheint wie bei der Knidierin“ (Andreae 2001, S. 72).
So eine Rückseite ist mitten aus dem Leben gegriffen |
Ihr Körper ist auch antomisch genauer
wiedergegeben als der der früheren Figur: Die Fettpölsterchen am Leib (zum Beispiel
am Ansatz der vollen Arme), der unter einer feinen Falte dreieckig eingesetzte
und als runde Vertiefung wiedergegebene Nabel, die Grübchen in den Handrücken, besonders
aber der durchgestaltete Rücken mit den knappen Glutäen und den eingezogenen Trochantergruben
zeugen von der Naturbeobachtung der Künstler. Während sich die Haare der Knidia dicht, mit melonenartigen Rillen um den Kopf legen, werden sie bei der Kapitolinischen Venus zu Schleifen auf dem Kopf aufgetürmt oder fallen in losen Strähnen auf den Rücken. „Sie sind ein Element, das nicht mit, sondern gegen den Körper komponiert und dem eine eigene Stofflichkeit zuerkannt wird“ (Andreae 1998, S. 48). Vor allem aber unterscheiden sich Knidische und Kapitolinische Venus darin, dass in der Darstellung jetzt der Augenblick eine Rolle spielt. „Man kann sich nicht vorstellen, daß
diese sich beobachtet fühlende Frau länger in der gleichen Haltung verharrt,
während die klassische Göttin einfach innehält“ (Andreae 2001, S. 72),
unbewusst lässig, in sich selbst versunken, von allem unberührt.
Die Knidische Venus blieb über viele Jahrhunderte eine der Leitfiguren bei der Darstellung des weiblichen Aktes – zu ihren Bewunderern gehörte Auguste Renoir, der die antike Skulptur mit seinen malerischen Mitteln als Baigneuse au griffon sozusagen in Fleisch und Blut verwandelte.
Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Phillip von Zabern, Mainz 1998, S. 47-50;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001;
Bayerische Staatsgemäldesammlungen (Hrsg.): Venus. Bilder einer Göttin. Ausstellungskatalog München 2001;
Hinz, Berthold: Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion. Carl Hanser Verlag, München 1998;
Die Knidische Venus blieb über viele Jahrhunderte eine der Leitfiguren bei der Darstellung des weiblichen Aktes – zu ihren Bewunderern gehörte Auguste Renoir, der die antike Skulptur mit seinen malerischen Mitteln als Baigneuse au griffon sozusagen in Fleisch und Blut verwandelte.
Auguste Renoir: Baigneuse au griffon (1870); Sao Paulo, Museu de Arte (für die Großansicht einfach anklicken) |
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Phillip von Zabern, Mainz 1998, S. 47-50;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001;
Bayerische Staatsgemäldesammlungen (Hrsg.): Venus. Bilder einer Göttin. Ausstellungskatalog München 2001;
Hinz, Berthold: Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion. Carl Hanser Verlag, München 1998;
Liess, Reinhard: Schönheit, Leiden und Vergänglichkeit. Betrachungen antiker Bildwerke. Die Knidische und Die Kapitolinische Venus. In: Reinhard Liess, Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso. Band III. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2021, S. 1147-1153;
Zanker, Paul: Eine Kunst für die Sinne. Zur Bilderwelt des Dionysos und der Aphrodite. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998.
(zuletzt bearbeitet am 12. Januar 2022)
Zanker, Paul: Eine Kunst für die Sinne. Zur Bilderwelt des Dionysos und der Aphrodite. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998.
(zuletzt bearbeitet am 12. Januar 2022)
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