Rembrandt van Rijn: Die Heilige Familie mit dem Vorhang (1646); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Szenerie wird von einem gemalten goldenen Rahmen
eingefasst, der nach oben hin abgerundet ist. An der linken Seite hat Rembrandt ihn mit
einem Pilaster versehen, an der unteren Leiste mit reichen Verzierungen. Davor
befindet sich eine ebenfalls gemalte Eisenstange mit einem roten Vorhang. Der
ist zurückgezogen und verdeckt einen Teil der rechten Bildhälfte.
Der Raum, die Tracht der Personen, die
Ausstattung – alles gehört in Rembrandts Zeit und Lebensraum, nichts deutet
zwingend auf jene Familie im Palästina der Zeitenwende, von der im Neuen
Testament die Rede ist. Für Rembrandt und seine Zeitgenossen ist die Geschichte
von der Geburt Christi nicht Vergangenheit, sondern ein höchst aktuelles
Geschehen.
Dass gemalte Vorhänge zur Zeit Rembrandts nicht ungewöhnlich waren, zeigt zum Beispiel Jan Vermeers Bild Das brieflesende Mädchen aus der Dresdener Gemäldegalerie (um 1659) |
Warum fügt Rembrandt nun aber dieser Szene einen
gemalten Vorhang hinzu, der ein Drittel des Bildes verdeckt? In früheren
Jahrhunderten wurden tatsächlich Stoffvorhänge benutzt – zum einen, um Gemälde
vor Staub und Licht zu schützen, zum anderen, um die Bilder durch ein
zeitweises Verhüllen interessanter, kostbarer, geheimnisvoller werden zu
lassen. Solche echten Vorhänge sind wohl noch bis weit ins 18. Jahrhundert
hinein in Gebrauch gewesen. Gemalt machen Vorhang, Stange und Rahmen das Bild
zunächst einmal zum optischen Kunststück. Sie bilden ein Trompe-l’œil, mit
dem der Besitzer eines solchen Gemäldes seine Besucher zu verblüffen vermag.
Oder andersherum: Rembrandt setzt den Augentrug ein, um sein verblüffendes malerisches
Können vorzuführen, als Wiederholung jener antiken Künstleranekdote, die
Plinius d.Ä. erzählt: Der Maler Parrhasius hatte einen so realistischen Vorhang
vor ein Bild gemalt, dass sein Kollege Zeuxis verlangte, man möge diesen
endlich beiseite ziehen, um das Bild sehen zu können (Naturalis historiae, Buch 35,65). Gemälde mit gemalten Vorhängen im Bild gab es schon früher, zum
Beispiel Raffaels Sixtinische Madonna
von 1512/13 – aber Rembrandts Heilige
Familie aus Kassel ist das erste mit einem gemalten Vorhang vor einem Bild.
Raffaels Sixtinische Madonna mit gemaltem Vorhang im Bild (1512/13), Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister |
Rembrandt hat die Heilige Familie mehrfach dargestellt. Auf dem großformatigen Bild in der Eremitage in St.
Petersburg (1645) sitzt Maria beim Feuer, ein großes Buch auf dem Schoß, in dem
sie eben noch gelesen hat, und hebt die Decke über der Wiege an, um ihr
schlafendes Kind zu betrachten. Josef bleibt, verschattet, im Hintergrund und
bearbeitet mit der Axt ein Holzstück.
Rembrandt van Rijn: Die Heilige Familie mit den Engeln (1645), St. Petersburg, Eremitage (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Kasseler Gemälde wirkt wie eine ein
Jahr später entstandene Variante dieses Bildes, denn wir sehen dieselben
Figurentypen als Maria und Josef sowie eine große Ähnlichkeit in der
Beleuchtung der Szene. Auch das hochformatige Bild der Eremitage ist durch die
häusliche Atmosphäre bestimmt – doch die Engel links oben verdeutlichen unmissverständlich,
dass wir es mit einer alles anderen als alltäglichen Szene zu tun haben. Mit
den Engeln bricht ein himmlisches Licht in den Raum, das uns die heilsgeschichtliche
Bedeutung des Geschehens erkennen lässt. Josef schnitzt mit seiner Axt ein Joch
– Symbol für die Rolle Jesu als Erlöser. Es verweist auf die Weissagung des Propheten
Jesaja aus dem Alten Testament, der Heiland werde das auf Israel lastende Joch
zerbrechen (Jesaja 9,1-6).
Aber auch das gelüftete Tuch hat – wie der gemalte, beiseite geschobene Vorhang auf dem Kasseler
Gemälde – symbolische Bedeutung: Es verweist auf das Motiv des „Vetus Testamentum velatum“, eine Metapher, die auf den Apostel Paulus zurückgeht. Im
2. Korintherbrief spricht er davon, das Alte Testament sei wie durch eine Decke
verhüllt – verstehen könne es nur, wer in Jesus den dort verheißenen Messias
erkennt (2. Korinther 3,14-16). Maria hat soeben noch in den prophetischen
Büchern des Alten Testaments gelesen; sich von ihrem Buch abwendend und die
Decke anhebend, erblickt sie in ihrem Sohn den Erlöser.
Gary Schwartz ist allerdings anderer
Ansicht: Maria habe zuvor genügend Hinweise auf die Göttlichkeit ihres Sohnes
erhalten – die Ankündigung der Geburt durch den Engel, die Anbetung der Hirten
und Weisen, die Begegnung mit Simeon und Hanna im Tempel. Für ihn ist das Buch,
in dem Maria eben noch gelesen hat, eine Anspielung auf die berühmten
Eingangsworte des Johannesevangeliums: „Am Anfang war das Wort, und das Wort
war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Schwartz 2006 S. 319).
Literaturhinweise
Gemäldegalerie
Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont
Verlag, Köln 2006, S. 332;
Giltaij, Jeroen: Rembrandt Rembrandt. Ausstellungskatalog Städelsches Kunstinstitut,
Frankfurt am Main 2003. Edition Minerva, Wolfratshausen 2003, S. 146-149;
Kemp, Wolfgang: Die Heilige Familie oder die Kunst, einen Vorhang zu lüften. Fischer
Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1986;
Schwartz, Gary: Das Rembrandt-Buch. Leben und Werk eines Genies. Verlag C.H. Beck, München
2006, S. 315-319;
Tümpel, Christian: Rembrandt – Mythos und Methode. Verlag Langewiesche, Königstein i.T.
1986, S. 244-246.
(zuletzt bearbeitet am 6. April 2020)
(zuletzt bearbeitet am 6. April 2020)
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