Samstag, 12. Januar 2013

Ein Schauspiel für die ganze Welt – „Die Anbetung der Hirten“ von Hugo van der Goes

Hugo van der Goes: Anbetung der Hirten (um 1480); Berlin, Gemäldegalerie
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Kehren wir noch einmal zu den Vorhängen zurück, genauer: zu Hugo van der Goes’ Anbetung der Hirten aus der Berliner Gemäldegalerie mit seinem ungewöhnlich in die Breite gezogenen Format (245 x 97 cm). Der Bildraum ist hier im wörtlichen Sinn eine Bühne, denn vor dem Stall in Bethlehem werden gemalte halbdurchsichtige Vorhänge aufgezogen, als beginne in diesem Moment ein Theaterstück. Vor der Bühne stehen zwei lebensgroß wirkende Personen, die an der Aufführung nicht teilnehmen, sondern wie Ansager auftreten. Der Stall wirkt wie eine
 Kulisse und nicht wie ein realer Ort; er ist „wie eine enge Bühne aufgebaut, auf der sich das Wunder der Weihnacht jetzt, da wir vor dieser Bühne stehen, noch einmal ereignet“ (Belting 1994, S. 117). Das Bild besitzt die Realität eines Schauspiels, in dem aber keine Schauspieler auftreten, sondern die echten Personen der Weihnachtsgeschichte. Das Gemälde von van der Goes zeigt jedoch keine zeitgenössische Bühne und auch keine zeitgenössische Aufführung, sondern wählt die Bühne als Metapher.
Die beiden älteren Männer vor der Bühne ziehen für uns die an einer Stange befestigten Vorhänge auf. Im mittelalterlichen geistlichen Mysterienspiel traten die Propheten, die im Alten Testament das Kommen des Messias geweissagt hatten, sozusagen vor der Bühne als Ansager und Kommentatoren auf, und in unserem Gemälde erfüllen sie eine ähnliche Bühnenrolle. Sie spielen im eigentlichen Stück nicht mit, sondern sprechen mit ihrer Gestik und Mimik zu uns, als wollten sie uns erklären, was im Spiel hinter ihnen zu sehen sein wird. Durch ihre Haltung und die Richtung ihres Blicks gehören sie zur Welt des Betrachters. Die linke Schulter des linken Propheten und die rechte Hand des rechten ragen regelrecht aus dem Bild heraus. Verwechseln lassen sich das Proszenium mit den beiden bärtigen Gestalten und der Bühnenraum nicht, „denn sie haben ganz verschiedenes Bodenniveau, und auch der Figurenmaßstab verändert sich sprunghaft. Nichts macht die verschiedene Distanz der zwei Räume sinnfälliger als der Umstand, daß dieselbe Bildhöhe in dem einen Raum nur für Halbfiguren, im anderen aber für ganze, wenn auch kniende Platz hat“ (Pächt 1994, S. 146).
Der Prophet zur Rechten trägt einen Mantel mit Motiven aus Goldbrokat, der mit Pelz gefüttert und durch einen blauen, mit Goldfäden verzierten Gürtel geschlossen ist. Das rote Tuch, das über seinen Schultern liegt, bildet dazu einen starken Farbkontrast. Der Prophet zur Linken ist in einen kirschroten Samtmantel gehüllt. Goldene Mantelknöpfe glitzern im Licht. Er trägt eine orangefarbene Kopfbedeckung, deren langes, über die Schultern drapiertes Ende ebenso wie der zusammengebundene Gürtel die Wendung seines Körpers betonen. Die eindrückliche Stofflichkeit dieser Gewänder hat die gleiche Funktion wie Vorhang und Stange: Sie sollen den Eindruck vermitteln, als gehörten sie zur Welt des Betrachters.
Nicht nur durch den Vorhang, sondern auch durch die „Inszenierung“ wird der Bühnencharakter des Gemäldes betont. Die beiden Propheten stehen vor der Bühne; die Hirten auf dem Feld empfangen die Botschaft der Engel hinter der Bühne, wohin sich ein Fenster öffnet. Sie umkreisen dann, wie man sich vorstellen muss, den Stall von hinten und betreten auf der anderen Seite im Laufschritt den Schauplatz („Und sie kamen eilend“; Lukas 2,16; LUT). Während der eine in gespannter Erwartung gerade eintrifft, kniet der andere bereits vor dem Kind nieder, ohne den Hirtenstab, der in einer kleinen Schaufel endet, aus der Hand zu lassen.
„Und sie kamen eilend ...“  (Lukas 2,16)
Die Bewegung der Hirten führt zu einer „Verzeitlichung der Bilderzählung“, wie es Hans Belting nennt. Damit nicht genug, denn es sind mehrere Zeitebenen, die in der Anbetung der Hirten zusammenfließen: Die Propheten vor dem Bild haben in einer früheren Zeit gelebt, aber sie wenden sich an uns als Zuschauer, die wir in einer späteren Zeit leben. Für uns ziehen sie den Vorhang auf, der einer anderen Zeit angehört, der Zeit des Schauspiels. „Das Stück selbst ist weder Erinnerung noch Gegenwart, sondern gehört der Spielzeit zu, die allein in der Gegenwart des Betrachters liegt“ (Belting 1994, S. 122). Hugo van der Goes’ Gemälde wagt nicht weniger, so Hans Belting, als „den Wettbewerb mit einem geistlichen Drama“.
Maria und Joseph haben sich beiderseits der Krippe niedergelassen, umgeben von flügelschlagenden Engeln, die sich ebenso neugierig wie andächtig zwischen dem heiligen Paar und den Stalltieren drängeln. Die Krippe ist nicht die geometrische Mitte des Bildes, vielmehr markiert Maria dessen Symmetrieachse; sie bildet den ruhenden Pol, zeigt sich unbeeindruckt von dem Bewegungsimpuls, den die beiden Hirten der Komposition vermitteln. Die Krippe ist ganz vorne aufgestelllt, das Jesuskind darin sucht den Augenkontakt mit dem Betrachter. „Unmißverständlich macht uns der Maler klar, daß hier alles für uns gespielt wird und auf unseren Blick eingerichtet ist. Wir sehen etwas, was uns gezeigt wird, damit wir es sehen“ (Belting 1994, S. 120).
Farblich dominieren die Gewänder von Maria und Joseph: Marias Mantel und Kleid haben das gleiche Blau, Joseph trägt ein terrakottafarbenes Gewand und einen roten Mantel sowie ein etwas dunkler kirschfarbenes Tuch über der rechten Schulter. Alle Engel sind in einfache Gewänder gehüllt. Das Jesuskind ist mager und wird gleichmäßig beleuchtet. In seiner rechten Hand hält es ein Pflänzchen, wie es auch vorne links aus den Ritzen einer kleinen Mauer wächst. Es handelt sich um ein Heilkraut, den Schwarzen Nachtschatten, das auf die Erlösung in Christus hinweisen soll, denn dessen Menschwerdung war schon von Augustinus als „Medizin“ bezeichnet worden. „So ist das Kind, das eine irdische Arznei in seinem Händchen hält, selbst eine überirdische Arznei“ (Belting 1994, S. 121).
Vor der Krippe wiederum liegt ein Ährenbündel – es verweist auf das Brot, das aus dem Weizen gebacken wird: Zum einen wird sich Jesus später selbst als „das Brot des Lebens“ bezeichnen (Johannes 6,35; LUT); zum anderen ist das Brot gemeint, das sich in der Eucharistiefeier in den Leib Christi verwandelt. „Hugos grain may also be intended to invoke the association between the Eucharist and the meaning of the word Bethlehem, ‘House of Bread’“ (Lane 1975, S. 479/480).
Der Vorhang wird gelüftet – und nun seht!
Und auch der Vorhang hat eine theologische Bedeutung (siehe meinen Post „Vorhang auf!“). Er bezieht sich auf das Motiv des „Vetus Testamentum velatum, Novum Testamentum revelatum“, eine Metapher, die auf den Apostel Paulus zurückgeht. Im 2. Korintherbrief spricht er davon, das Alte Testament sei wie durch eine Decke verhüllt – verstehen könne es nur, wer in Jesus den dort verheißenen Messias erkennt (Kapitel 3,14-16). Jetzt ziehen die beiden Propheten, die Jesu Geburt vorhergesagt haben, den Vorhang beiseite und öffnen die Bühne für ein welthistorisches Ereignis: „Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel“ (2. Korinther 3,18; LUT). Barbara G. Lane deutet die beiden Vorhänge nochmals anders: Die Krippe in van der GoesAnbetung der Hirten sei gleichzeitig auch als Altar gemeint; sein Gemälde werde nur dann verständlich, wenn der eucharistische Hintergrund der Geburt Jesu bedacht wird. In the Berlin Nativity, Hugo’s Christchild lies on a manger that signifies the altar, and the Infant thereby becomes a visual explanation of the consecrated Host. The parted curtains reveal the Child just as altar curtains disclosed the tranformed Host to the congregation(Lane 1975, S. 486).


Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 119-122;
Franke, Susanne: Raum und Realismus. Hugo van der Goes Bildproduktion als Erkenntnisprozess. Peter Lang, Frankfurt am Main 2012, S. 230-249;
Lane, Barbara G.: “Ecce Panis Angelorum”: The Manger as Altar in Hugo’s Berlin Nativity. In: The Art Bulletin 57 (1975), S. 476-486; 
Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 196-199;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953), S. 342;
Ridderbos, Bernhard: Die »Geburt Christi« des Hugo van der Goes. Form, Inhalt, Funktion. In: Jahrbuch der Berliner Museen 32 (1990), S. 137-152;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 9. Februar 2023)

1 Kommentar:

  1. Lieber Norbert Schnabel, ich freue mich immer über ihre Beiträge und stöbere öfters in ihren früheren Artikeln.
    Das rührende Detail des Nachtschattens im Händchen der Christuskindes, das Belting als Erlösungsmotiv deutet, hat mich immer sehr bewegt, weil es ein so sprechendes Motiv bezüglich der biografischen Leidensgeschichte des Malers selbst ist. Ich bin vor einiger Zeit von Zürich nach Berlin gereist, um das Bild im Original zu sehen und siehe da: In der neu restaurierte Fassung fehlt das Blümlein in der Hand des Kindes.... Die weitreichende Lesart dieses ikonografischen Details ist damit dem inspirierten Denken Beltings zuzuschreiben, als der Absicht des Malers. Ich bin der Sache nicht nachgegangen, aber wie es scheint, gehörte das Detail nicht zur ursprünglichen Konzeption des Bildes, was ich selbst bedauere...

    Ich stelle die Komposition für meine Zuhörer gerne in den Kontext des 'tableau vivant', das Vorziehen der Vorhänge würde der AGttung entsprechen. Welcher grundlegende Zweck mit diesem besonderen Medium, das zwischen Malerei und Theater steht- verknüpft war und weshalb sich van der Goes im Medium der Malerei darauf bezieht ist eine offene Frage, auf die jemand vielleicht die zündende Idee beiträgt.... vielleicht auf ihrem Blog:-) Danke und ganz herzliche Grüsse, J.Bromundt

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