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Hans Memling: Bildnis eines Mannes (um 1475/80); Venedig, Galleria dell’Accademia |
Im Jahr 1465 ließ
sich Hans Memling (um 1435–1494) in Brügge nieder und begann dort, wie andere
zugewanderte Maler, allen voran Jan van Eyck und Petrus Christus, eine
erfolgreiche Laufbahn als selbstständiger Künstler. Die Entscheidung für
Brügge, ein herausragendes internationales Handelszentrum, war sicherlich
beeinflusst durch die Aussicht auf vielfältige Aufträge seitens der
zahlreichen ausländischen Kaufleute, die in der Stadt ansässig waren oder sich
vorübergehend dort aufhielten.
Unter den von Memling
für ausländische Kunden geschaffenen Werken erfreuten sich Porträts der größten
Beliebtheit, und zwar insbesondere bei den Italienern. Kleinformatig, tragbar
und persönlich, besaß ein Bildnis doppelte Attraktivität: Es hielt nicht nur
die äußere Erscheinung seines Besitzers fest, sondern diente auch als
Erinnerung an dessen Aufenthalt in Brügge. Einige der Auftraggeber Memlings
entschieden sich dafür, ihre Bildnisse in halbfigurige Andachtstriptychen oder
-diptychen einfügen zu lassen. Die Mehrheit seines Klientels bevorzugte jedoch
die einfachere – und preisgünstigere – Alternative des autonomen Porträts. Mehr als ein Drittel vom Memlings erhaltenem
Œuvre
besteht aus Bildnissen – wir kennen 36, die Porträtfiguren auf Altarbildern
nicht mitgerechnet. Da alle Bildnisköpfe in Dreiviertelansicht wiedergegeben
werden, nimmt das Gesicht in der kleinen Bildfläche breiten Raum ein. Memling verleiht seinen Porträtfiguren eine erstaunliche Plastizität, sodass sie auch mit dem florentinischen Büstenporträt in Marmor verglichen wurden.
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Hans Memling: Bildnis eines betenden jungen Mannes (um 1485); Madrid,
Museo Thysssen-Bornemisza (für die Großansicht einfach anklicken) |
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Mino da Fiesole: Porträtbüste des Piero de’ Medici (um 1453); Florenz, Bargello
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Memlings wichtigster
Beitrag zur Porträtmalerei bestand – neben seiner erstaunlichen Fähigkeit, das
Äußere festzuhalten und Ähnlichkeit zu erzielen – im Einsatz des Landschaftshintergrunds.
Er tut sich manchmal jenseits eines Fensters auf, wie etwa im Porträt aus der Sammlung
Thyssen-Bornemisza; häufiger jedoch erstreckt er sich hinter dem Porträtierten,
und zwar entweder vor offenem Himmel oder durch den Bogen einer Loggia. Die
Hände ruhen meist auf einer Brüstung oder auf dem Rand eines Bilderrahmens, die
Schultern sind oft an den Seiten beschnitten, was den Eindruck des „Heranzoomens“
mittels eines Kameraobjektivs vermittelt, „so als ob der Portraitierte in einem
vom Bilderrahmen selbst gebildeten Fenster erscheinen würde“ (Nuttall 2005, S.
75). Nahsicht auf Büste und Angesicht der Person und Fernsicht auf die Landschaft werden von Memling perfekt kombiniert. „Bildausschnitt, landschaftliche Erweiterung und skulpturaler Realismus sind die drei Komponenten von Memlings originellem Schaffen in einem Genre, das sich nach ihm zu einer der wichtigsten Kunstformen der abendländischen Malerei entwickeln sollte“ (De Vos 1994, S. 366).
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Hans Memling: Bildnis eines Mannes (um 1470/75); New York, The Frick Collection
(für die Großansicht einfach anklicken) |
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Rogier van der Weyden: Braque-Triptychon, rechter Flügel mit Maria Magdalena (um 1452/53); Paris, Louvre
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Die Inspiration für Memlings Porträts mit Landschaftsausblick dürfte in der religiösen Malerei zu suchen sein: Als Vorbild könnte Rogier van der Weydens Braque-Triptychon (um 1452/53) mit seinen Halbfiguren vor einer offenen Landschaft gedient haben (siehe meinen Post „Garanten der Erlösung“). Sehr wahrscheinlich ist, dass Memling in Brügge mit van der Weyden zusammengearbeitet hat. Dessen weibliche Porträts dürften auch die Prototypen gewesen sein für Memlings weibliche Bildnisse in Brügge oder Paris. Die Inschriften in Trompe-l’œil-Manier auf einigen erhaltenen Rahmen sind wiederum von Jan van Eyck (um 1390–1441) angeregt, so etwa die metallisch und aufgelegt wirkenden Buchstaben und Ziffern auf dem Bildnis einer jungen Frau in Brügge.
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Rogier van der Weyden: Porträt einer Dame (um 1460), Washington, National Gallery of Art
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Hans Memling: Bildnis einer alten Frau (1470/72); Paris, Louvre
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Hans Memling: Bildnis einer jungen Frau (1480); Brügge, Musea Brugge
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Jan van Eyck: Margareta van Eyck (1433); Brügge, Groeningemuseum
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Im späten 15.
Jahrhundert müssen Memlings Zeitgenossen den kombinierten visuellen Effekt von
gefälligen Landschaftsdetails und verblüffend präzise wiedergegebener Haut,
Haar und Kleidung in dessen Bildnissen als Inbegriff von Perfektion empfunden
haben.
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Piero della Francesca: Federigo da Montefeltro und seine Frau Battista Sforza (1472/73); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
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In Italien pflegten
die Porträtmaler immer noch die strenge Profilansicht, die nördlich der Alpen
längst überholt war. Im Norden hatten die Künstler seit etwa 1430 die
Dreiviertelansicht entwickelt. Sie nahmen die Hände des Dargestellten mit ins
Bild auf und führten neue Elemente wie etwa Brüstungen ein, mit deren Hilfe
sich die Illusion schaffen ließ, die Figur befände sich in der Verlängerung des
Raumes, in dem sich auch der Betrachter befindet. Den Realismus der Maler
jenseits der Alpen bewunderten die italienischen Kunstkenner schon seit Mitte
des 15. Jahrhunderts, doch erst in den 1470er Jahren, als niederländische
Vorlagen immer größere Verbreitung fanden, begann die Dreiviertelansicht das
herkömmliche Profilbildnis in Italien zu verdrängen.
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Sandro Botticelli: Bildnis eines jungen Mannes mit einer Medaille des Cosimo
de’ Medici (1474); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken) |
Dieser Prozess fand
verblüffend schnell statt. Einige Künstler, allen voran Antonello da Messina und
die Venezianer, bevorzugten den tief dunklen Hintergrund aus den Porträts Jan
van Eycks und anderer früherer Maler. Doch weit häufiger wurde auf Hans Memling
zurückgegriffen. Eines seiner bevorzugten Gestaltungsmittel – die Platzierung
des Porträtierten in einem Innenraum mit Fenster, hinter dem sich eine
Landschaft öffnet – scheint in Florenz besonders beliebt gewesen zu sein, wo die
Künstler zahlreiche Versionen dieses „inneren Außenraums“ (Nuttall 2005, S. 80)
in ihre Bildnisse integrierten. Es war aber der Memling eigene Porträttypus
mit reinem Landschaftshintergrund, der den größten Anklang fand. Tatsächlich
gibt es im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Italien kaum einen Porträtmaler,
der diesem Vorbild nicht gefolgt wäre – so z. B. Sandro Botticelli in seinem Bildnis eines jungen Mannes mit einer
Medaille des Cosimo de’ Medici. (siehe meinen Post „Das italienische Porträt der Frührenaissance“). Außer allgemeinen Anklängen an Memling – wie
dem Kopf mit dem gelockten Haar vor dem Hintergrund des Himmels und der lichten
Landschaft in der Ferne – weist Botticellis Bildnis, in dem der Porträtierte
eine Porträtmedaille präsentiert, eine verblüffende Parallele zu Memlings Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser
Neros auf.
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Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser Neros (1473/74); Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten (für die Großansicht einfach anklicken)
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Zu Memlings treuesten
Anhängern zählte Pietro Perugino (um 1450–1523). Das Porträt
des florentinischen Kaufmanns Francesco delle Opere von 1494 belegt eindrucksvoll, wie
weitreichend der italienische Künstler Memlings Bildideen verarbeitet hat.
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Pietro Perugino: Bildnis des Francesco delle Opere (1494); Florenz, Uffizien |
Vermutlich ermutigt
durch seinen Meister Perugino, widmete sich auch Raffael eingehend dem Studium Memlings.
Seine Virtuosität in der Nachahmung von dessen Stil, der um 1500 in Italien immer
noch das Maß aller Dinge bildete, „stellt unzweifelhaft das Ergebnis einer
unmittelbaren Beschäftigung mit Memlings Werk dar“ (Nuttall 2005, S. 86). Als
Beispiel sei hier die Dame mit dem
Einhorn aus der Galleria Borghese genannt.
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Raffael: Dame mit dem Einhorn (um 1506); Rom, Galleria Borghese
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Zum Schluss soll noch
ein Memling-Porträts etwas genauer in den Blick genommen werden, und zwar
das Bildnis eines Mannes mit Brief. Vor einer weiten Hügellandschaft, die
links durch einen Weg erschlossen wird, während rechts ein See und in der Ferne
ein Schloss zu sehen sind, zeigt der Künstler das Brustbild eines schwarz
gewandeten Mannes mit ebenfalls schwarzer Kappe. Statt der traditionellen
Dreiviertelansicht wählt Memling für das Antlitz des Unbekannten die stärker
frontal orientierte Siebenachtelansicht. Zusammen mit dem Antwerpener Bildnis eines Mannes mit einer Münze Kaiser
Neros ist diese Tafel das einzige erhaltene Porträt Memlings, auf dem der
Blick des Dargestellten unmittelbar aus dem Bild gerichtet wird. Beide Tafeln
gelten deswegen als autonome Bildnisse. Sie verbindet auch die ähnliche, kalligraphische Wolkenbildung. |
Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit Brief (um 1475); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)
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Das Porträt aus Florenz ist allerdings durch
einen schmalen Brüstungsstreifen vom Betrachter geschieden, der vermutlich
ursprünglich direkt in den – verlorenen – Originalrahmen überging. Die linke
Hand des Mannes ruht auf diesem Brüstungsstreifen, Daumen und Zeigefinger
halten ein gefaltetes Schriftstück, vermutlich einen Brief. Das Porträt ist
wahrscheinlich um 1475 nach Italien gelangt – deswegen ist es überaus plausibel,
dass Memling das Bildnis im Auftrag eines in Brügge residierenden
Geschäftsmanns aus Italien geschaffen hat.
Literaturhinweis
De Vos, Dirk: Memling als Porträtmaler. In: Dirk De Vos, Hans Memling. Das Gesamtwerk. Belser Verlag, Stuttgart/Zürich 1994 S. 365-370;
Nuttall, Paula:
Memling und das europäische Portrait der Renaissance. In: Till Holger-Borchert
(Hrsg.), Hans Memling. Portraits. Belser Verlag, Stuttgart 2005, S. 68-91;
Richter, Kerstin: Unverwechselbar. Zur Porträt-Tradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden. In: Messling,
Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.),
Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 35-43.
(zuletzt bearbeitet am 2. August 2024)
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