Caravaggio: Gefangennahme Christi (1602); Dublin, National Gallery of Ireland (für die Großansicht einfach anklicken) |
Caravaggio: Die Dornenkrönung Christi (1602/03); Wien, Kunsthistorisches Museum |
Caravaggio: Christus an der Geißelsäule (um 1606); Rouen, Musée des Beaux-Arts et de la Céramique |
Caravaggio: Der ungläubige Thomas (1603); Potsdam, Bildergalerie im Park Sanssouci: Hier posieren dieselben Männer als Hauptfiguren wie in der Gefangennahme Christi |
In seinem Gemälde Gefangennahme Christi
(1602) ist der schmerzliche Moment des nächtlichen Verrats durch Judas in die linke
Bildhälfte verlegt. „Daraus ergibt sich eine Dynamik, die von den rechts heranströmenden Soldaten unterstrichen wird“ (Gianfreda 2005, S. 32). Die Bilderzählung wird auf diese Weise der gewohnten abendländischen Leserichtung von Gemälden, nämlich von links nach rechts, spiegelbildlich entgegengesetzt. Mit lebensgroßen, nah gesehenen Halbfiguren schildert der
Maler gleichzeitig den Kuss, die Ergreifung Christi und die Flucht der Jünger. „Es wird gestoßen und gezerrt, gehalten und geflohen, was sich als permanentes Drängen nach links aus dem Bild hinaus vollzieht. Nur Christus steht unbeweglich da“ (Müller 2022, S. 68). Grelle Lichtreflexe auf den Rüstungen der Soldaten blenden uns, und doch herrscht tiefe Dunkelheit auf Caravaggios Bild.
Die Köpfe von sieben Personen befinden sich annähernd auf einer horizontalen Linie, sechs von ihnen sind im Profil dargestellt; nur Jesu Antlitz wird durch den Kuss zur Seite gedrängt und erscheint für den Betrachter en face. Auf engstem Raum ereignet sich das Geschehen, und es bereitet einige Mühe zu entdecken, welcher Körper welche Handlung ausführt. „Vor allem die Hände der Figuren führen ein Eigenleben und steigern den chaotischen Eindruck“ (Müller 2022, S. 57). Der Bildhintergrund ist nahezu völlig schwarz; wer aber direkt vor dem Bild steht, erkennt allerdings noch Zweige und Blätter eines Olivenbaums.
Caravaggio
hat Elemente aus verschiedenen Evangelien in sein Bild einfließen lassen.
So berichtet einzig der Evangelist Johannes von der Laterne und
den Fackeln (Johannes 18,3), während die fliehende Figur links im Bild nur von
Markus erwähnt wird (Markus 14,51-52). Die Komposition selbst ist einem
Holzschnitt von Albrecht Dürer aus dessen Kleiner
Passion (1509) nachempfunden, vor allem der Soldat in zeitgenössischem
Harnisch, der Christus an der Kehle packt. Lorenzo Pericolo verweist noch auf eine weitere mögliche Quelle: Lucas van Leydens Radierung Der Narr und das Mädchen (um 1520): „When inverted, the profile of the foolish lover, the position of his arm over the woman’s breast, and the motif of his rapacious cluth at her shoulder, evoke Caravaggio’s kissing scene. More relevant, the tilt of the lady’s head in rebuking the old man, her averted eyes covered by heavy eyelids, and the sigh escaping from her parted lips undoubtedly compare with Christ’s
expression in the Dublin painting“ (Pericolo 2011, S. 319).
Albrecht Dürer: Gefangennahme Christi (um 1509); Holzschnitt |
Lucas van Leyden: Der Narr und das Mädchen (um 1520); Radierung |
Jürgen Müller spricht von einer „Gebärde existentieller Erstarrung“ (Müller 2022, S. 66), die gleichzeitig anzeige, dass Christus hier im Garten Gethsemane nur einen Augenblick zuvor gebetet habe und die Finger deshalb noch verschränkt sind. Judas hat die Schultern Jesu umfasst und nah zu sich herangezogen. Dem zudringlichen Kuss kann dieser nicht entkommen – seine Hände jedoch „veranschaulichen seinen absoluten Widerwillen“ (Müller 2022, S. 63).
Standbild des Demosthenes (um 280 v.Chr.); Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek |
Hans Schäufelein: Pyramus und Thisbe (um 1510); Holzschnitt |
Albrecht: Dürer: Gefangennahme Christi (1508); Kupferstich |
Albrecht Dürer: Gefangennahme Christi (1510); Holzschnitt |
Janusartig ist das Haupt Christi mit dem des entsetzten Jüngers verbunden, den viele Forscher mit Johannes identifizieren, dem Lieblingsjünger Jesu. Die beiden Männer scheinen wie aus einem Körper geschaffen (man beachte, wie das Haar des einen in das des anderen übergeht, ebenso die farbgleichen roten Umhänge). Pericolo sieht in dieser regelrechten Verschmelzung die Zerrissenheit Christi verbildlicht: „As an alter ego of the Savior, John visually suggests that a part of Christ would long to bolt and escape the loathsome embrace of Death, whereas another part of him thinks better of it, surrendering to Judas’ kiss and God’s will“ (Pericolo 2011, S. 326). Das erinnert zugleich an die vorangegangene Szene im Garten Gethsemane, wo Christus den himmlischen Vater anfleht, „diesen Kelch“ (den Kelch der Passion; Matthäus 26,39) an ihm vorbeigehen zu lassen.
Die bildparallele Reihung der Figuren in der Gefangennahme Christi erinnert an ein Fresko von Caravaggios Landsmann Giotto (1266–1337) aus der Arena-Kapelle in Padua, das die gleiche Szene zeigt (siehe meinen Post „Ohnmächtig überlegen“). Vor allem der flüchtende Jünger am linken Bildrand, den ein Scherge am Mantel fasst, könnte von dort übernommen sein.
Giotto: Gefangennahme Christi (um 1305); Padua, Arena-Kapelle |
Müller sieht dagegen in Caravaggios Kryptoporträt weit eher ein Eingeständnis schuldhafter Verstrickung, denn die Figur mit ihrem hochgereckten Kopf und dem offenen Mund hebe die Laterne, um den Schergen zu leuchten und vom Geschehen selbst nichts zu verpassen. Außerdem sei sie eindeutig auf der Bildhälfte der Häscher platziert. Damit präsentiere sich Caravaggio als Mittäter; die Inszenierung des Künstlers in der Gefangennahme Christi müsse als „Selbstanklage“ (Müller 2022, S. 70) verstanden werden.
Posthumes Porträt Caravaggios von Ottavio Leoni (um 1614); Florenz, Biblioteca Marucelliana |
Literaturhinweise
Apesos, Anthony: The Painter as Evangelist in Caravaggio’s Taking of Christ. In: Aurora 11 (2010), S. 21-56;
Apesos, Anthony: The Painter as Evangelist in Caravaggio’s Taking of Christ. In: Aurora 11 (2010), S. 21-56;
Benedetti, Sergio: Caravaggio’s
‘Taking of Christ’, a masterpiece rediscovered. In: The Burlington Magazine 135
(1993), S. 731-741;
Brabant, Dominik: Widerstreit der Bilder. Beobachtungen zu Caravaggio und dem Barock. In: Dominik Brabant/Marita Liebermann (Hrsg), Barock. Epoche – ästhetisches Konzept – Denkform. Königshausen & Neumann, Würzburg 2017, S. 209-244;
Brabant, Dominik: Widerstreit der Bilder. Beobachtungen zu Caravaggio und dem Barock. In: Dominik Brabant/Marita Liebermann (Hrsg), Barock. Epoche – ästhetisches Konzept – Denkform. Königshausen & Neumann, Würzburg 2017, S. 209-244;
Cottrell, Philip: ‘The kid stays in the picture’: John, Judas and the Malchus episode in Caravaggio’s Taking of Christ. In: Carla Briggs u.a. (Hrsg.), Art History after Françoise Henry. 50 Years at UCD – 1965-2015. Gandon Editions, Dublin/Cork 2016, S. 58-71;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen –
Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Fiore, Kristina Herrmann: Caravaggio’s ‘Taking of Christ’ and Dürer’s Woodcut of 1509. In: The Burlington Magazine 135 (1995), S. 24-27;
Fried, Michael: The Moment of Caravagio. Princeton University Press, Princeton and Oxford 2010, S. 209-217;
Gianfreda, Sandra: Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2005, S. 17-37;
Koos, Marianne: Haut als mediale Metapher in der Malerei von Caravaggio. In: Daniela Bohde/Mechthild Fend (Hrsg.), Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2007, S. 65-85;
Müller, Jürgen: Der Judaskuss der Malerei: Caravaggios Dubliner Gefangennahme Christi in neuer Deutung. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 85 (2022), S. 57-81;
Fiore, Kristina Herrmann: Caravaggio’s ‘Taking of Christ’ and Dürer’s Woodcut of 1509. In: The Burlington Magazine 135 (1995), S. 24-27;
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Pericolo, Lorenzo: Zuccari’s Lantern: The Blind Spot of
Painting in Caravaggio’s The Taking of
Christ. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral
Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers,
Turnhout 2011, S. 311-341;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.
(zuletzt bearbeitet am 17. Oktober 2024)
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.
(zuletzt bearbeitet am 17. Oktober 2024)
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