Freitag, 16. Februar 2024

Malerei mit dem Scheinwerfer – Caravaggios „Gefangennahme Christi“

Caravaggio: Gefangennahme Christi (1602); Dublin, National Gallery of Ireland
(für die Großansicht einfach anklicken)
Caravaggio (1571–1610), wie sich der lombardische Maurersohn Michelangelo Merisi nach dem Herkunftsort seiner Familie nannte, gilt als einer der Gründerväter der Barockmalerei. Seine wichtigste Erfindung, die ihn zu einem der einflussreichsten Künstler der europäischen Kunstgeschichte machte, ist die Helldunkel-Dramaturgie: Schräg und streuungsfrei einfallendes Licht betont vor allem die Körperlichkeit seiner Figuren – Muskeln, Haut, Falten, Blut – und belässt große Partien des Bildes im Schatten. Aus dem Dunkel tauchen Gesichter und Gesten der oft dichtgedrängten Gestalten wie Sandbänke auf – man spricht auch vom „Schlag- bzw. Scheinwerferlicht“ Caravaggios.
Caravaggio: Die Dornenkrönung Christi (1602/03); Wien, Kunsthistorisches Museum
Caravaggio: Christus an der Geißelsäule (um 1606); Rouen, Musée des Beaux-Arts et de la Céramique
Caravaggio: Der ungläubige Thomas (1603); Potsdam, Bildergalerie im Park Sanssouci: Hier posieren dieselben Männer als Hauptfiguren wie in der Gefangennahme Christi
In seinem Gemälde Gefangennahme Christi (1602) ist der schmerzliche Moment des nächtlichen Verrats durch Judas in die linke Bildhälfte verlegt. „Daraus ergibt sich eine Dynamik, die von den rechts heranströmenden Soldaten unterstrichen wird“ (Gianfreda 2005, S. 32). Die Bilderzählung wird auf diese Weise der gewohnten abendländischen Leserichtung von Gemälden, nämlich von links nach rechts, spiegelbildlich entgegengesetzt. Mit lebensgroßen, nah gesehenen Halbfiguren schildert der Maler gleichzeitig den Kuss, die Ergreifung Christi und die Flucht der Jünger. „Es wird gestoßen und gezerrt, gehalten und geflohen, was sich als permanentes Drängen nach links aus dem Bild hinaus vollzieht. Nur Christus steht unbeweglich da“ (Müller 2022, S. 68). Grelle Lichtreflexe auf den Rüstungen der Soldaten blenden uns, und doch herrscht tiefe Dunkelheit auf Caravaggios Bild.
Die Köpfe von sieben Personen befinden sich annähernd auf einer horizontalen Linie, sechs von ihnen sind im Profil dargestellt; nur Jesu Antlitz wird durch den Kuss zur Seite gedrängt und erscheint für den Betrachter en face. Auf engstem Raum ereignet sich das Geschehen, und es bereitet einige Mühe zu entdecken, welcher Körper welche Handlung ausführt. „Vor allem die Hände der Figuren führen ein Eigenleben und steigern den chaotischen Eindruck(Müller 2022, S. 57). Der Bildhintergrund ist nahezu völlig schwarz; wer aber direkt vor dem Bild steht, erkennt allerdings noch Zweige und Blätter eines Olivenbaums. 
Caravaggio hat Elemente aus verschiedenen Evangelien in sein Bild einfließen lassen. So berichtet einzig der Evangelist Johannes von der Laterne und den Fackeln (Johannes 18,3), während die fliehende Figur links im Bild nur von Markus erwähnt wird (Markus 14,51-52). Die Komposition selbst ist einem Holzschnitt von Albrecht Dürer aus dessen Kleiner Passion (1509) nachempfunden, vor allem der Soldat in zeitgenössischem Harnisch, der Christus an der Kehle packt. Lorenzo Pericolo verweist noch auf eine weitere mögliche Quelle: Lucas van Leydens Radierung Der Narr und das Mädchen (um 1520): „When inverted, the profile of the foolish lover, the position of his arm over the womans breast, and the motif of his rapacious cluth at her shoulder, evoke Caravaggios kissing scene. More relevant, the tilt of the ladys head in rebuking the old man, her averted eyes covered by heavy eyelids, and the sigh escaping from her parted lips undoubtedly compare with Christ’s expression in the Dublin painting“ (Pericolo 2011, S. 319).
Albrecht Dürer: Gefangennahme Christi (um 1509); Holzschnitt
Lucas van Leyden: Der Narr und das Mädchen (um 1520); Radierung
Von den Gesichtern der beiden gepanzerten Soldaten sehen wir so gut wie nichts – sie werden von ihren Helmen verdeckt; ein dritter lässt sich, kaum sichtbar, rechts oben im Hintergrund ausmachen. Christus ist in der Pose einer antiken Demosthenes-Statue dargestellt; Caravaggio dreht jedoch deren Handhaltung zu einer Geste, die von Kunsthistorikern meist als Ergebenheit in den Willen Gottes interpretiert wird. Im Gewühl der Gebärden – von der ausgestreckten Hand des flüchtenden Jüngers über den festen Griff des Judas bis hin zur Hand mit der Laterne – sind die verschränkten Finger Christi in dem Bereich unterhalb des Soldatenarms am markantesten und sorgfältigsten beleuchtet. Pericolo allerdings erkennt in der Geste Jesu eher tiefe Trauer und Verzweiflung, „for it traditionally expresses desperation before an irreparable event(Pericolo 2011, S. 322). Als Beleg führt er den Holzschnitt Pyramus und Thisbe des Dürer-Mitarbeiters Hans Schäufelein an (um 1510): „By entangling her hands, Thisbe communicates her despair before Pyramus dead body“ (Pericolo 2011, S. 323). Die verschränkten Hände verweisen zugleich, so Pericolo, voraus auf den Seelenschmerz von Maria und Johannes bei der Kreuzigung, der Kreuzabnahme, der Beweinung und der Grablegung Christi. Wie man die Gestik Jesu nun auch deuten möchte – seine Mimik jedenfalls lässt keinen Zweifel daran, dass er um sein zukünftiges Schicksal weiß. 
Jürgen Müller spricht von einer Gebärde existentieller Erstarrung“ (Müller 2022, S. 66), die gleichzeitig anzeige, dass Christus hier im Garten Gethsemane nur einen Augenblick zuvor gebetet habe und die Finger deshalb noch verschränkt sind. Judas hat die Schultern Jesu umfasst und nah zu sich herangezogen. Dem zudringlichen Kuss kann dieser nicht entkommen – seine Hände jedoch veranschaulichen seinen absoluten Widerwillen“ (Müller 2022, S. 63).
Standbild des Demosthenes (um 280 v.Chr.); Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek
Hans Schäufelein: Pyramus und Thisbe (um 1510); Holzschnitt
Der Umhang des panisch davonstürzenden Jüngers – der schon von einem Soldaten gepackt wird – bauscht sich hinter ihm in einem Bogen, der die Köpfe von Christus und Judas umschließt und hervorhebt. „Dabei hallt das rote Tuch gleich einer Ausweitung des Schreis des Fliehenden durch das Bild, es kommentiert – wie sonst die Rötung der Haut – die innere, psychische Regung auf das folgenreiche Geschehen, verkörpert das durch Angst und Schrecken zum Wallen gebrachte Blut, das nicht nur Christi Lippen, sondern auch das entblößte Ohr des Fliehenden dunkelrot färbt“ (Koos 2007, S. 78). Auch die hoch erhobene, geöffnete rechte Hand wiederholt und verstärkt die Form seines schreienden Mundes.
Albrecht: Dürer: Gefangennahme Christi (1508); Kupferstich
Albrecht Dürer: Gefangennahme Christi (1510); Holzschnitt
Bereits Albrecht Dürer zeigt die Episode aus dem Markus-Evangelium in miniaturisierter Form sowohl im Hintergrund seines Kupferstichs der Gefangennahme Christi als auch im Holzschnitt aus der Großen Passion von 1510. In beiden Arbeiten erkennt man, wie ein Scherge den Jüngling verfolgt und ihm das Gewand entrissen hat. Dürer betont vor allem das Motiv des aufgeblähten Mantels, das Caravaggio übernimmt.

Janusartig ist das Haupt Christi mit dem des entsetzten Jüngers verbunden, den viele Forscher mit Johannes identifizieren, dem Lieblingsjünger Jesu. Die beiden Männer scheinen wie aus einem Körper geschaffen (man beachte, wie das Haar des einen in das des anderen übergeht, ebenso die farbgleichen roten Umhänge). Pericolo sieht in dieser regelrechten Verschmelzung die Zerrissenheit Christi verbildlicht: „As an alter ego of the Savior, John visually suggests that a part of Christ would long to bolt and escape the loathsome embrace of Death, whereas another part of him thinks better of it, surrendering to Judas kiss and Gods will“ (Pericolo 2011, S. 326). Das erinnert zugleich an die vorangegangene Szene im Garten Gethsemane, wo Christus den himmlischen Vater anfleht, diesen Kelch (den Kelch der Passion; Matthäus 26,39) an ihm vorbeigehen zu lassen.
Die bildparallele Reihung der Figuren in der Gefangennahme Christi erinnert an ein Fresko von Caravaggios Landsmann Giotto (1266–1337) aus der Arena-Kapelle in Padua, das die gleiche Szene zeigt (siehe meinen PostOhnmächtig überlegen“). Vor allem der flüchtende Jünger am linken Bildrand, den ein Scherge am Mantel fasst, könnte von dort übernommen sein. 
Giotto: Gefangennahme Christi (um 1305); Padua, Arena-Kapelle
„Will der Betrachter das Geschehen richtig erfassen, muß er die Rolle des Mannes mit der Laterne hinten rechts einnehmen, der nicht flieht, sondern Zeuge bleibt und buchstäblich Licht in das Dunkel bringt: Es ist Caravaggio selbst“ (Ebert-Schifferer 2010, S. 147/148). Tatsächlich entspricht der Kopf des „Beleuchters“ dem, was wir über die äußere Erscheinung des Malers wissen. In dem Mann mit der erhobenen Laterne hat man darüber hinaus eine Anspielung auf den antiken Philosophen Diogenes gesehen: Der Überlieferung nach ging der Grieche am hellen Tag mit einer brennenden Laterne auf dem Athener Marktplatz umher und leuchtete den Menschen ins Gesicht. Auf die Frage, was er da treibe, antwortete er: „Ich suche einen Menschen.“ Caravaggio betont mit diesem Zitat nicht nur die Besonderheit Jesu, er weist damit auch voraus auf den Prozess vor Pilatus und dessen berühmten Ausspruch: „Seht, welch ein Mensch!“ (Johannes 19,5). Nicht zuletzt erinnert die erhobene Laterne, so Pericolo, an Caravaggios Werkstattpraxis: „the pose of live models in front of the painter illuminated by light coming usually from above (Pericolo 2011, S. 336).
Müller sieht dagegen in Caravaggios Kryptoporträt weit eher ein Eingeständnis schuldhafter Verstrickung, denn die Figur mit ihrem hochgereckten Kopf und dem offenen Mund hebe die Laterne, um den Schergen zu leuchten und vom Geschehen selbst nichts zu verpassen. Außerdem sei sie eindeutig auf der Bildhälfte der Häscher platziert. Damit präsentiere sich Caravaggio als Mittäter; die Inszenierung des Künstlers in der Gefangennahme Christi müsse als Selbstanklage“ (Müller 2022, S. 70) verstanden werden.
Posthumes Porträt Caravaggios von Ottavio Leoni (um 1614);
Florenz, Biblioteca Marucelliana

Literaturhinweise
Apesos, Anthony: The Painter as Evangelist in Caravaggios Taking of Christ. In: Aurora 11 (2010), S. 21-56;
Benedetti, Sergio: Caravaggio’s ‘Taking of Christ’, a masterpiece rediscovered. In: The Burlington Magazine 135 (1993), S. 731-741;  
Brabant, Dominik: Widerstreit der Bilder. Beobachtungen zu Caravaggio und dem Barock. In: Dominik Brabant/Marita Liebermann (Hrsg), Barock. Epoche – ästhetisches Konzept – Denkform. Königshausen & Neumann, Würzburg 2017, S. 209-244;
Cottrell, Philip: The kid stays in the picture: John, Judas and the Malchus episode in Caravaggios Taking of Christ. In: Carla Briggs u.a. (Hrsg.), Art History after Françoise Henry. 50 Years at UCD – 1965-2015. Gandon Editions, Dublin/Cork 2016, S. 58-71;
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Fiore, Kristina Herrmann: Caravaggio’s Taking of Christ’ and Dürer’s Woodcut of 1509. In: The Burlington Magazine 135 (1995), S. 24-27;
Fried, Michael: The Moment of Caravagio. Princeton University Press, Princeton and Oxford 2010, S. 209-217;
Gianfreda, Sandra: Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento. Edition Imorde, Emsdetten/Berlin 2005, S. 17-37;
Koos, Marianne: Haut als mediale Metapher in der Malerei von Caravaggio. In: Daniela Bohde/Mechthild Fend (Hrsg.), Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2007, S. 65-85;
Müller, Jürgen: Der Judaskuss der Malerei: Caravaggios Dubliner Gefangennahme Christi in neuer Deutung. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 85 (2022), S. 57-81; 
Pericolo, Lorenzo: Zuccari’s Lantern: The Blind Spot of Painting in Caravaggio’s The Taking of Christ. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 311-341;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011.

(zuletzt bearbeitet am 17. Oktober 2024)

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