Veit Stoß: Holzkruzifix (um 1516/20); Nürnberg, St. Lorenz (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der polnische Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533)
war über Jahrhunderte wegen seiner Kruzifixe berühmt. Zu nennen ist hier
zunächst das monumentale steinerne Kruzifix in der Krakauer Marienkirche, ein
Auftrag des königlichen polnischen Münzmeisters Heinrich Slacker (um 1491
entstanden). Die Gestalt Christi ist 2,53 m groß, das Kreuz selbst fast 4 m
hoch. Alle übrigen Kruzifixe von Veit Stoß bestehen aus Holz und sind knapp
überlebensgroß (durchweg 2 m). Außer dem Slackerschen Kruzifix aus Stein finden
sich in Nürnberg, wo der Künstler ab 1496 bis zu seinem Tod lebte und
arbeitete, drei sehr gut erhaltene Holzbildwerke von ihm:
1. das Kruzifix im Germanischen Nationalmuseum
aus dem Heiliggeist-Spital; 2. das Kruzifix auf dem Hochaltar der gotischen
Kirche St. Lorenz; 3. das sogenannte Wickelsche Kruzifix in der
mittelalterlichen Kirche St. Sebald. Außerdem gibt es von Veit Stoß noch ein
ähnlich großes Kruzifix in der Florentiner Kirche Ognissanti. Als Beispiel für
die hohe Kunstfertigkeit des Nürnberger Meisters will ich hier das Kruzifix aus
St. Lorenz vorstellen.
Veit Stoß: Slackersches Steinkruzifix (um 1491); Krakau, Marienkirche (für die Großansicht einfach anklicken) |
Veit Stoß hat den mit weit ausgestreckten Armen
am Kreuz hängenden Christus als schlanke, jugendliche Gestalt dargestellt. Der
Kopf des Gemarterten ist herabgesunken, mit dem Haupt auch die rechte Schulter.
Das in der Mitte gescheitelte Haar liegt in Wellen auf dem Schädel und im
Nacken. Links fällt es, aus mehreren spiralförmig gedrehten Locken zu einer großen
Strähne zusammengefasst, bis über die Achselhöhle auf die Brust hinab. Die Dornenkrone
ist weitgehend verloren; zu sehen sind aber noch zwei Stacheln, die sich in
drastischem Realismus durch die rechte Augenbraue bohren. Der Mund steht leicht
offen, Zunge und obere Zahnreihe sind deutlich zu erkennen, Tränensäcke und
Wangenknochen, Falten an Stirn und Hals klar herausgearbeitet. Die Nase tritt
scharf hervor, die Augen sind bis auf eine kleinen Spalt geschlossen, die
Brauen im Schmerz zusammengezogen – Christus ist tot.
Corpus und Lendentuch sind aus demselben Holzblock gearbeitet |
Jesu Körper ist gerade vor dem Kreuzholz
ausgespannt; die Beine sind stark gestreckt, die Knie durchgedrückt, die Füße
übereinander genagelt. Die relativ dünnen, aber muskulösen Arme sind leicht
erhoben und ausgebreitet, Ober- und Unterarme deutlich voneinander abgesetzt. Der
Brustkorb wölbt sich nach vorne, das Rückgrat wiederum ist durchgebogen. „Der
in seiner Mitte gleichsam eingeschnürte Leib scheint sich mit großer innerer
Spannung zwischen den Nägeln zu straffen und ist doch von einer leichten
S-förmigen Krümmung durchzogen“ (Schneider 1983, S. 188). Leib und Kopf
einschließlich des gesamten Lendentuches sind aus einem Stück Holz geschnitzt;
angesetzt wurden nur die Arme. (Das Kreuz selbst stammt aus moderner Zeit.) Das
heftig bewegte Lendentuch bricht die geschlossene Form des Körpers seitlich und
nach vorne auf. Es sitzt ungewöhnlich tief und lässt Hüftknochen sowie einen
Teil der Leistenlinien frei. Der Stoff ist vor der rechten Hüfte in einem
dicken Strang zusammengedreht, „um sich dann in einer Drehung von äußerster
Präzision und Schönheit der Linienführung vor dem Leib aufzufalten, bis er sich
schließlich auf dem Oberschenkel wieder mit dem Bein verbindet“ (Kahsnitz 1995/1996,
S. 166).
Matthias Grünewald: Christus am Kreuz (Zeichnung, um 1520), Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken) |
Abgesehen von den Nägelmalen und der Seitenwunde,
zeigt Veit Stoß den Gekreuzigten ohne Folterspuren und Verwundungen. Während
Matthias Grünewald den Sohn Gottes in seinen Kreuzigungsbildern nach Jesaja
53,2 extensiv als „Mann der Schmerzen“ darstellt, bestimmen Hoheit, Ruhe und
Würde die Gesamterscheinung des Passionschristus aus St. Lorenz. Die bis zum
Äußersten gestreckten Arme und Beine dürften mit der mittelalterlichen Passionsliteratur
in Verbindung zu bringen sein: Thomas von Kempen (1380–1471) spricht davon,
Jesu Körper sei nach den Seiten und nach unten zu so über das Kreuz gespannt
worden wie ein Fell über die Trommel („quasi pellis in modem extensa tympani“).
Wachgerufen wird auch das Bild der fest gestrafften Harfensaite, das auf
Augustinus zurückgeht und von mittelalterlichen Autoren aufgegriffen wurde. So
wie einst David mit seinem Harfenspiel König Saul besänftigt habe, so sei der
Leib Christi gespannt wie eine Harfensaite und lasse sein schweres Lied
ertönen, auf dass Gottvater besänftigt werde. „Es waren Bilder des seit
Jahrhunderten tradierten Allgemeinguts mittelalterlicher Frömmigkeit. Die
spätmittelalterlichen Erbauungsbücher schmückten sie weiter aus, die Prediger,
die ihren Stoff aus solchen Bücher schöpften, verbreiteten sie bei den
Gläubigen. Der Aufspürung einer konkreten literarischen, von dem Bildschnitzer
Veit Stoß benutzten Quelle bedarf es bei der allgemeinen Verbreitung solcher Texte
und Vorstellungen nicht“ (Kahsnitz 1995/1996, S. 157).
Niclaus Gerhaert: Steinkruzifix (1467); Baden-Baden, Schlosskirche (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Kruzifix in St. Lorenz wird heute allgemein
ins zweite Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts datiert. Als Vorbild für den von Veit
Stoß entwickelten Kruzifixtypus mit auseinandergedehnten Armen und gestreckten
Beinen gilt der steinerne Gekreuzigte von Niclaus Gerhaert (1420–1473) für den
Alten Friedhof in Baden-Baden (entstanden 1467, heute in der Schlosskirche
aufgestellt).
Literaturhinweise
Eser, Thomas: Veit Stoß. Ein polnischer Schwabe wird Nürnberger. In: Brigitte Korn u.a. (Hrsg.), Von Nah und Fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 85-90;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179;
Schneider, Ulrich: Kruzifix auf dem Hochaltar,
1516-1520. In: Rainer Kahsnitz (Hrsg.), Veit Stoß in Nürnberg. Werke des
Meisters und seiner Schule in Nürnberg und Umgebung. Deutscher Kunstverlag,
München 1983, S. 186-194.Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179;
(zuletzt bearbeitet am 10. Oktober 2021)
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