Freitag, 13. November 2015

Auf die Trommel gespannt – Veit Stoß und sein Kruzifix aus St. Lorenz (Nürnberg)


Veit Stoß: Holzkruzifix (um 1516/20); Nürnberg, St. Lorenz
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Der polnische Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) war über Jahrhunderte wegen seiner Kruzifixe berühmt. Zu nennen ist hier zunächst das monumentale steinerne Kruzifix in der Krakauer Marienkirche, ein Auftrag des königlichen polnischen Münzmeisters Heinrich Slacker (um 1491 entstanden). Die Gestalt Christi ist 2,53 m groß, das Kreuz selbst fast 4 m hoch. Alle übrigen Kruzifixe von Veit Stoß bestehen aus Holz und sind knapp überlebensgroß (durchweg 2 m). Außer dem Slackerschen Kruzifix aus Stein finden sich in Nürnberg, wo der Künstler ab 1496 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete, drei sehr gut erhaltene Holzbildwerke von ihm:
1. das Kruzifix im Germanischen Nationalmuseum aus dem Heiliggeist-Spital; 2. das Kruzifix auf dem Hochaltar der gotischen Kirche St. Lorenz; 3. das sogenannte Wickelsche Kruzifix in der mittelalterlichen Kirche St. Sebald. Außerdem gibt es von Veit Stoß noch ein ähnlich großes Kruzifix in der Florentiner Kirche Ognissanti. Als Beispiel für die hohe Kunstfertigkeit des Nürnberger Meisters will ich hier das Kruzifix aus St. Lorenz vorstellen.
Veit Stoß: Slackersches Steinkruzifix (um 1491); Krakau, Marienkirche
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Veit Stoß hat den mit weit ausgestreckten Armen am Kreuz hängenden Christus als schlanke, jugendliche Gestalt dargestellt. Der Kopf des Gemarterten ist herabgesunken, mit dem Haupt auch die rechte Schulter. Das in der Mitte gescheitelte Haar liegt in Wellen auf dem Schädel und im Nacken. Links fällt es, aus mehreren spiralförmig gedrehten Locken zu einer großen Strähne zusammengefasst, bis über die Achselhöhle auf die Brust hinab. Die Dornenkrone ist weitgehend verloren; zu sehen sind aber noch zwei Stacheln, die sich in drastischem Realismus durch die rechte Augenbraue bohren. Der Mund steht leicht offen, Zunge und obere Zahnreihe sind deutlich zu erkennen, Tränensäcke und Wangenknochen, Falten an Stirn und Hals klar herausgearbeitet. Die Nase tritt scharf hervor, die Augen sind bis auf eine kleinen Spalt geschlossen, die Brauen im Schmerz zusammengezogen – Christus ist tot.
Corpus und Lendentuch sind aus demselben Holzblock gearbeitet
Jesu Körper ist gerade vor dem Kreuzholz ausgespannt; die Beine sind stark gestreckt, die Knie durchgedrückt, die Füße übereinander genagelt. Die relativ dünnen, aber muskulösen Arme sind leicht erhoben und ausgebreitet, Ober- und Unterarme deutlich voneinander abgesetzt. Der Brustkorb wölbt sich nach vorne, das Rückgrat wiederum ist durchgebogen. „Der in seiner Mitte gleichsam eingeschnürte Leib scheint sich mit großer innerer Spannung zwischen den Nägeln zu straffen und ist doch von einer leichten S-förmigen Krümmung durchzogen“ (Schneider 1983, S. 188). Leib und Kopf einschließlich des gesamten Lendentuches sind aus einem Stück Holz geschnitzt; angesetzt wurden nur die Arme. (Das Kreuz selbst stammt aus moderner Zeit.) Das heftig bewegte Lendentuch bricht die geschlossene Form des Körpers seitlich und nach vorne auf. Es sitzt ungewöhnlich tief und lässt Hüftknochen sowie einen Teil der Leistenlinien frei. Der Stoff ist vor der rechten Hüfte in einem dicken Strang zusammengedreht, „um sich dann in einer Drehung von äußerster Präzision und Schönheit der Linienführung vor dem Leib aufzufalten, bis er sich schließlich auf dem Oberschenkel wieder mit dem Bein verbindet“ (Kahsnitz 1995/1996, S. 166).
Matthias Grünewald: Christus am Kreuz (Zeichnung, um 1520),
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Abgesehen von den Nägelmalen und der Seitenwunde, zeigt Veit Stoß den Gekreuzigten ohne Folterspuren und Verwundungen. Während Matthias Grünewald den Sohn Gottes in seinen Kreuzigungsbildern nach Jesaja 53,2 extensiv als „Mann der Schmerzen“ darstellt, bestimmen Hoheit, Ruhe und Würde die Gesamterscheinung des Passionschristus aus St. Lorenz. Die bis zum Äußersten gestreckten Arme und Beine dürften mit der mittelalterlichen Passionsliteratur in Verbindung zu bringen sein: Thomas von Kempen (1380–1471) spricht davon, Jesu Körper sei nach den Seiten und nach unten zu so über das Kreuz gespannt worden wie ein Fell über die Trommel („quasi pellis in modem extensa tympani“). Wachgerufen wird auch das Bild der fest gestrafften Harfensaite, das auf Augustinus zurückgeht und von mittelalterlichen Autoren aufgegriffen wurde. So wie einst David mit seinem Harfenspiel König Saul besänftigt habe, so sei der Leib Christi gespannt wie eine Harfensaite und lasse sein schweres Lied ertönen, auf dass Gottvater besänftigt werde. „Es waren Bilder des seit Jahrhunderten tradierten Allgemeinguts mittelalterlicher Frömmigkeit. Die spätmittelalterlichen Erbauungsbücher schmückten sie weiter aus, die Prediger, die ihren Stoff aus solchen Bücher schöpften, verbreiteten sie bei den Gläubigen. Der Aufspürung einer konkreten literarischen, von dem Bildschnitzer Veit Stoß benutzten Quelle bedarf es bei der allgemeinen Verbreitung solcher Texte und Vorstellungen nicht“ (Kahsnitz 1995/1996, S. 157).
Niclaus Gerhaert: Steinkruzifix (1467); Baden-Baden, Schlosskirche
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Das Kruzifix in St. Lorenz wird heute allgemein ins zweite Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts datiert. Als Vorbild für den von Veit Stoß entwickelten Kruzifixtypus mit auseinandergedehnten Armen und gestreckten Beinen gilt der steinerne Gekreuzigte von Niclaus Gerhaert (1420–1473) für den Alten Friedhof in Baden-Baden (entstanden 1467, heute in der Schlosskirche aufgestellt).

Literaturhinweise
Eser, Thomas: Veit Stoß. Ein polnischer Schwabe wird Nürnberger. In: Brigitte Korn u.a. (Hrsg.), Von Nah und Fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 85-90;
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-179;
Schneider, Ulrich: Kruzifix auf dem Hochaltar, 1516-1520. In: Rainer Kahsnitz (Hrsg.), Veit Stoß in Nürnberg. Werke des Meisters und seiner Schule in Nürnberg und Umgebung. Deutscher Kunstverlag, München 1983, S. 186-194.

(zuletzt bearbeitet am 10. Oktober 2021) 

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